levels-of-processing-Modell

Die Kritik an den Mehrspeicherkonzeptionen des menschlichen Gedächtnisses kulminierte in dem von Craik & Lockhart (1972) propagierten levels-of-processing-Ansatz, demzufolge für die Behaltensleistung keinesfalls hypothetische Speicherstrukturen als vielmehr die Art und das Ausmaß der Elaboration des Materials ausschlaggebend sind. Die Gedächtnistheorie von Craik und Lockhart geht wie auch Andersons Modell (1988) davon aus, dass die Merkfähigkeit und -dauer von der Tiefe der Verarbeitung abhängt. So wird Information aus der Umwelt über einen zentralen Prozessor zur jeweiligen Verarbeitungstiefe weitergeleitet, wobei eher „flach“ verarbeitete Information dabei schneller vergessen werden als Information, die in „tieferen“ Levels verarbeitet wird. „Flache“ und „mittlere“ Regionen beschäftigen sich mit physikalischen oder sensorischen Charakteristika wie Linien, Winkel, Helligkeit, Abstände und Lautstärke, während in „tiefe“ Prozesslevel  Information gelangt, die mit gespeicherten Informationen aus früheren Lernerfahrungen und Bedeutungen verglichen werden kann.

In einer Untersuchung von Hyde und Jenkins (1973) ließen Probanden eine Liste von Wörtern dahingehend überprüfen (oberflächliche Verarbeitung), ob diese jeweils einen bestimmten Buchstaben enthalten oder nicht, während andere Probanden die gleichen Items in Bezug auf deren Angenehmheit zu überprüfen hatten (tiefere Verarbeitung), wobei sich eine bessere Reproduktionsleistung für das elaborierter verarbeitete Material zeigte.


Apropos KI-Karteikarten: Schnell gelernt, schnell vergessen?

Heute geht’s um eine Frage, die viele Studierende und Lernende aktuell beschäftigt:
Wenn künstliche Intelligenz für mich Karteikarten erstellt – spare ich dann Zeit oder beraube ich mich meines Lernerfolgs?
KI-Tools können heute ganze Karteikartensätze in Sekunden generieren – prägnant, übersichtlich, scheinbar perfekt. Was früher Stunden dauerte, passiert jetzt in einem Klick.
Doch genau diese Abkürzung ist das Problem.
Denn aus lernpsychologischer Sicht ist nicht das Ergebnis – also die Karteikarte selbst – der eigentliche Lernprozess. Es ist der Weg dorthin.

Beim Erstellen von Karteikarten passiert im Gehirn etwas Entscheidendes: Wir verarbeiten Informationen aktiv. Wir müssen auswählen, reduzieren, formulieren.
Diese Vorgänge nennt die Kognitionspsychologie „elaborative Verarbeitung“ und „Tiefencodierung“.
Je mehr wir beim Erstellen einer Karteikarte nachdenken, verknüpfen und strukturieren, desto tiefer verankern wir das Wissen im Langzeitgedächtnis.

Wenn jedoch eine KI diese Denkschritte übernimmt, entfällt genau dieser kognitive Aufwand.
Das Gehirn bleibt – überspitzt gesagt – im Leerlauf.
Wir konsumieren Lernmaterial statt es zu konstruieren.

Lernen ist ein aktiver Konstruktionsprozess.
Nach Theorien wie dem Konstruktivismus oder dem „Levels-of-Processing“-Ansatz von Craik und Lockhart behalten wir Informationen umso besser, je tiefer wir sie verarbeiten.
Das geschieht etwa dann, wenn wir Begriffe in eigenen Worten formulieren oder Zusammenhänge erklären.

Karteikarten, die man selbst schreibt, zwingen uns dazu:
Wir müssen überlegen, welche Formulierung prägnant ist, welche Inhalte wichtig sind, welche Beispiele uns helfen, sie zu merken.
All das aktiviert semantische Netzwerke im Gehirn – Verbindungen, die später beim Abruf helfen.

KI-generierte Karteikarten hingegen bieten fertige Formulierungen.
Sie ersparen uns die Auswahl, das Umformulieren, das innere Ringen um Verständnis.
Kurz: Sie nehmen uns jene kognitive Arbeit ab, die das Lernen eigentlich erst wirksam macht.

Ein weiterer Punkt ist die sogenannte Illusion of Competence – die Illusion des Könnens.
Wenn wir perfekt formulierte KI-Karten lesen, entsteht leicht das Gefühl: „Das klingt klar, das weiß ich doch schon!“
Doch dieses Wiedererkennen ist trügerisch.
Erst das aktive Abrufen, also das Selbst-Testen, zeigt, ob Wissen wirklich abrufbar ist.

Wenn Karteikarten maschinell erstellt und dann nur passiv gelesen werden, bleibt das Wissen oberflächlich.
Wir erkennen es wieder, aber wir können es nicht wirklich.

KI ist im Lernprozess ist aber nicht nutzlos, denn sie kann ein Assistenzsystem sein, etwa um erste Strukturen zu entwerfen, Lücken zu identifizieren oder alternative Formulierungen vorzuschlagen.
Aber der produktive Lernmoment entsteht erst, wenn wir diese Vorschläge kritisch überarbeiten, ergänzen oder in eigene Worte bringen.

Wer die KI also nicht als Ersatz, sondern als Sparringspartner nutzt, profitiert doppelt:
von der Effizienz der Maschine – und der Tiefe des eigenen Denkens.

KI-Karteikarten klingen nach smarter Abkürzung – sind aber oft eine Sackgasse des Lernens.
Denn nachhaltiger Lernerfolg entsteht nicht beim Lesen fertiger Antworten,
sondern beim Formulieren, Strukturieren und Verstehen.
Oder einfacher gesagt:
Nicht das digitale Karteikartendeck bringt dich weiter,
sondern der Moment, in dem du selbst die Frage stellst – und nach der Antwort suchst.

Literatur

Anderson, J.R. (1978). Arguments concerning representations for mental imagery. Psychological Review, 85, 249-277.
Craik, F. & Lockhart, R. (1972). Levels of processing: A framework for memory research. Journal of Verbal Learning & Verbal Behavior, 11, 671-684.
T. S. Hyde, J. J. Jenkins (1973). Recall for words as a function of semantic, graphic, and syntactic orienting tasks. Journal of Verbal Learning and Verbal Behavior, 12, 471-480.Klein, K.-M. (1995). Experimentelle Untersuchungen zu zwei Invarianzhypothesen des Kurzzeitgedächtnisses. Bonn: Pace.


Impressum ::: Datenschutzerklärung ::: Nachricht ::: © Werner Stangl :::

Schreibe einen Kommentar