Parentifizierung

Parentifizierung beschreibt eine Art Rollenumkehr zwischen Eltern und Kind, wobei die Eltern dem Kind eine nicht kindgerechte und vor allem überfordernde „Eltern-Rolle“ zuweisen. In manchen Familien kehrt sich demnach das natürliche Rollenverhältnis um, denn statt dass Eltern ihre Kinder führen und unterstützen, übernehmen Kinder Verantwortung für das familiäre Wohl, und zwar häufig weit über das hinaus, was ihrem Alter oder ihrer Reife entspricht. Von Parentifizierung spricht man also, wenn sich familiäre Rollen verschieben und Kinder Aufgaben übernehmen, die eigentlich den Eltern obliegen. Das kann ganz praktische Bereiche betreffen – etwa das Versorgen jüngerer Geschwister, das Erledigen von Behördengängen oder das Führen des Haushalts. Häufiger aber sind es emotionale und soziale Verantwortlichkeiten, d. h., Kinder trösten Eltern, bieten Orientierung, vermitteln bei Konflikten oder werden gar zu Ratgebern bei Erziehungs-, Alltags- oder Finanzfragen. In solchen Konstellationen übernehmen sie nicht nur Verantwortung, sondern oft auch emotionale Lasten, die sie überfordern.

Die Ursachen für diese Rollenumkehr sind vielfältig und liegen selten in bewusster Vernachlässigung oder bösem Willen. Häufig entstehen solche Dynamiken aus Überforderung, Krankheit, Suchtproblematik oder psychischer Belastung eines Elternteils. Auch in komplexeren Familiensystemen – etwa bei Alleinerziehenden, Patchwork- oder Migrationsfamilien – kann es zur Parentifizierung kommen. Das Phänomen kann vorübergehend sein, etwa in Krisenzeiten, oder über Jahre bestehen und tief in das familiäre Gefüge eingebettet sein.

Kinder verlieren durch Überforderung mit den von den Eltern bewussten oder unbewussten unangemessenen Erwartungen ihre Spontanität, Lebhaftigkeit und Sorglosigkeit und entwickeln möglicherweise massive, nicht realitätsangepasste Anforderungen an sich selbst, Perfektionismus, Isolation, Einsamkeit, emotionale Belastung aufgrund von Spannung zwischen dem Gefühl der Macht und der Angst vor dem Versagen, vermindertes Selbstwertgefühl, Verhaltensauffälligkeiten, intellektuelle Beeinträchtigungen, Depressionen, somatische Beschwerden, Suizidgedanken, Essstörungen, Substanzmissbrauch und andere. Für die betroffenen Kinder bedeutet dies meist eine dauerhafte Überforderung, denn anstatt sich frei zu entwickeln, Zeit mit Freunden zu verbringen und spielerisch zu lernen, kreisen ihre Gedanken und Kräfte um die Sorgen der Familie. Sie fühlen sich oft allein gelassen, „anders“ als Gleichaltrige und müssen ohne ausreichende Anleitung lernen, Verantwortung zu tragen. Das führt häufig dazu, dass sie verlernen, auf sich selbst zu achten, d. h., die Frage nach den eigenen Wünschen oder Bedürfnissen bleibt unbeantwortet.

Die klassische Variante der Parentifizierung kann als eine Bindungsstörung desjenigen Elternteils betrachtet werden, das an das Kind unbewusst seine eigene Rolle delegiert. Dabei erwartet die elterliche Bezugsperson gewissermaßen, dass das Kind als verlässliches Bindungsobjekt zur Verfügung steht, wenn etwa jener Elternteil selbst unter Parentifizierung leidet, oder dessen Lebenssituation durch problematische Partnerschaften, Trennung und Scheidung, Selbstunsicherheit, Substanzmissbrauch, psychische Störungen oder Krankheiten erschwert ist.

Im Erwachsenenalter wirken diese Muster oft weiter, denn viele ehemalige Elternkinder neigen zu einem überhöhten Pflichtgefühl, setzen sich selbst unter Druck, leiden unter Schuldgefühlen, wenn sie sich um ihre eigenen Bedürfnisse kümmern, oder spüren eine tiefe Erschöpfung. Ihr Selbstwertgefühl ist häufig gering, soziale Beziehungen bleiben ambivalent, denn entweder übernehmen sie zu viel Verantwortung oder vermeiden sie aus Angst vor neuer Überforderung. In Freundschaften oder Partnerschaften ist es bekanntlich wichtig, Verantwortung ausgewogen zu teilen, d. h., Menschen mit einer parentifizierten Vergangenheit neigen oft dazu, sich übermäßig für andere zu engagieren. Deshalb ist es zentral, auf Balance und gegenseitige Fürsorge zu achten – und darüber offen zu sprechen. Solche Entwicklungsstörungen in der Kindheit haben also häufig massive Auswirkungen bis ins Erwachsenenalter und häufig geschieht die Weitergabe über nachfolgende Generationen. Besonders gut beobachtet hat man dies bei der Kriegs- und Nachkriegsgeneration bzw. deren Kindern und Enkelkindern, die die Traumata ihrer Eltern in ihre Persönlichkeit integrierten.

Der Weg aus diesen tief eingeprägten Mustern beginnt mit dem Erkennen und Benennen: Welche Aufgaben habe ich als Kind übernommen? Welche familiären Umstände haben mich dazu gebracht? Und wie zeigt sich das heute in meinen Beziehungen und meinem Selbstbild? Eine therapeutische Begleitung kann helfen, diese Fragen zu klären und neue Handlungsspielräume zu entwickeln – abgestimmt auf die individuellen Lebensziele und Bedürfnisse. Parentifizierung ist also kein Schicksal, das nicht veränderbar wäre, doch es braucht Bewusstsein, Unterstützung und manchmal therapeutische Hilfe, um alte Rollen hinter sich zu lassen und ein Leben zu führen, das die eigenen Bedürfnisse genauso ernst nimmt wie die der anderen.

Siehe auch Imago Therapie

Literatur

Graf, F. (2001). Parentifizierung. Die Last, als Kind die eigenen Eltern zu bemuttern. In Sabine Walper, Reinhard Pekrun (Hrsg.), Familie und Entwicklung. Aktuelle Perspektiven der Familienpsychologie. Hogrefe.


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2 Gedanken zu „Parentifizierung“

  1. Eltern dürfen von ihren Kindern keine Dankbarkeit erwarten, denn Kinder spüren diese narzisstischen Seiten ihrer Eltern, und bekommen rasch Schuldgefühle oder das Gefühl, in der Bringschuld ihrer Eltern zu stehen. Manche Frauen brauchen ihre Kinder mehr, um ihre eigenen biographischen Wunden und ungestillten Bedürfnisse zu befriedigen, als dass sie für ihre Kinder nur da sein können oder ihnen etwas geben. Sie suchen dann in ihren Kindern selbst das Mütterliche oder Väterliche. Kinder sind hochsensible Wesen, die rasch merken, was ihre Eltern von ihnen brauchen und möchten. Blicke, Gesten, kleinste Veränderungen in der Mimik, der Körperhaltung oder im Tonfall reichen aus, damit ein parentifiziertes Kind diese Bedürfnisse seiner Eltern spürt. Dabei vergisst das Kind sich selbst und lernt, dass es seine eigenen Bedürfnisse zurückstellen sollte, sodass manche Kinder ihre eigenen Gefühle, Nöte, Sehnsüchte und Bedürfnisse im Laufe der Zeit gar nicht mehr wahrnehmen. Das liegt auch daran dass sie diese Gefühle auch nicht spüren dürfen, weil die Eltern bei diesen dann Schuldgefühle auslösen könnten und sie vielleicht mit Liebesentzug strafen.

  2. Vorteile von Parentifizierung können sein:
    Kindern wird eine Verantwortung übertragen, die ihnen ein Gefühl von Kompetenz und Bedeutung vermitteln kann.
    Kinder, die in familiären Situationen parentifiziert werden, können lernen, für sich selbst und andere zu sorgen, was ihnen später im Leben helfen kann.
    Nachteile von Parentifizierung sind jedoch viel schwerwiegender:
    Kinder verlieren ihre Kindheit und ihre Möglichkeit, sich auf natürliche Weise zu entwickeln und kindliche Bedürfnisse auszuleben.
    Parentifizierte Kinder können emotionale und psychische Probleme entwickeln, wie z. B. Depressionen, Angstzustände und Selbstwertprobleme.
    Parentifizierung kann auch zu Beziehungsproblemen führen, da Kinder oft ihre Bedürfnisse und Wünsche unterdrücken, um den Erwartungen ihrer Familie gerecht zu werden.
    Parentifizierung kann also kurzfristig Vorteile haben, aber langfristig negative Auswirkungen auf die Entwicklung und das Wohl von Kindern haben. Daher ist es wichtig, Kinder in ihrer kindlichen Entwicklung zu unterstützen und ihnen eine kindgerechte Umgebung zu bieten.

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