Als Lateralisierung oder Lateralisation bezeichnet man in der Entwicklungspsychologie die Verlagerung von neuronal gestützten Funktionen auf jeweils eine bestimmte Hirnhälfte, es kommt dabei zu einer hemisphärische Aufgabenteilung von Gehirnfunktionen.
Zu Beginn der Hirnreifung stehen die beiden Hirnhälften bei bestimmten Funktionen zunächst in Konkurrenz zueinander, doch mit zunehmendem Alter kommt es zu Spezialisierungen:
- linke Hirnhälfte: serielle Verarbeitung von Informationen, Sprache;
- rechte Hirnhälfte: parallele Verarbeitung von Informationen, räumliche Leistungen.
Ein besonderer Aspekt der Lateralisierung ist die Entwicklung der Händigkeit, die etwa ab dem zweiten Lebensjahr offenkundig wird und zumeist nach dem fünften Lebensjahr stabile Präferenzen zeigt: etwa 93% rechts, 7% links.
Die Lateralisation des Gehirns wird allgemein als entscheidend für die menschliche Gehirnfunktionen und insbesondere Kognitionen angesehen, wobei die funktionale Trennung der beiden Gehirnhälften und die damit verbundene Gehirnasymmetrie beim Menschen gut dokumentiert ist. Da vergleichende Studien bei Primaten bisher selten sind, ist nicht bekannt, welche Aspekte der Lateralisierung nun typisch menschlich sind. Gehirne von Menschenaffen sind in der Regel nur selten für Studien verfügbar, doch nun hat man Methoden entwickelt, um Daten zur Gehirnasymmetrie aus fossilen Schädeln zu extrahieren, die in größerer Zahl zur Verfügung stehen. Mithilfe von Abdrücken des Gehirns auf der Innenseite des Schädelknochens haben nun Neubauer et al. (2020) Menschen, Schimpansen, Gorillas und Orang-Utans miteinander verglichen. Bisher vermutete man, dass sich viele Aspekte der Gehirnasymmetrie erst nach der Trennung der menschlichen Evolutionslinie von der Linie den Schimpansen, entwickelt haben. Es zeigte sich aber, dass nicht nur Menschen, sondern auch Schimpansen, Gorillas und Orang-Utans schon das gleiche durchschnittliche Asymmetriemuster besitzen, das zuvor als typisch menschlich beschrieben angenommen wurde: der linke Hinterhauptlappen, der rechte Vorderhauptlappen sowie der rechte Pol des Schläfenlappens und der rechte Kleinhirnlappen stärker hervor als auf der anderen Seite. Dabei war bei Menschen diese Asymmetrie am wenigsten konsistent, d. h., sie zeigen eine viel größere individuellere Variation. Offenbar gab in der Entwicklung eine zunehmend funktionelle und entwicklungsbedingte Modularisierung des menschlichen Gehirns, sodass etwa die Asymmetrie von Hinterhauptlappen und Kleinhirn beim Menschen weniger als bei Menschenaffen miteinander zusammenhängt. Das ist insofern bemerkenswert, da sich das Kleinhirn des Menschen während der Evolution dramatisch verändert hat. Offenbar zeichnet die vermeintlich typisch menschliche Asymmetrie der Schädel auch schon die gemeinsamen Vorfahren von Primaten und Menschen aus, sie ist also evolutionär viel älter als angenommen.
Bei jeder Denkaufgabe sind im Gehirn charakteristische, besonders auf die jeweilige Aufgabe spezialisierte Areale aktiv, wobei diese in vielen Fällen in einer Hemisphäre stärker aktiv sind, etwa für die Sprachverarbeitung ist dies die linke Hemisphäre. Bei älteren Menschen ist diese Lateralisation bei Gedächtnisaufgaben zumindest teilweise aufgehoben, d. h., Gedächtnisaufgaben, die bei Jüngeren nur in einer Hemisphäre Aktivität hervorrufen, lassen bei Älteren beide Seiten aktiv werden. Indem die andere Hemisphäre zusätzlich zur Leistungssteigerung herangezogen wird, wirkt das Gehirn vermutlich seiner eigenen, altersbedingten Erosion entgegen. Um diese Hypothese zu überprüfen, stellt man in einer Untersuchung (Höller-Wallscheid et al., 2017) des Arbeitsgedächtnisses, jungen wie alten Probanden Aufgaben, die für sie subjektiv gleich schwer zu lösen waren, und zwar bis an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit: Wiederholtes Einprägen einer wechselnden Buchstabenfolge, räumlichen Positionen oder komplexen Figuren. Dabei wurde mittels fMRT die Gedächtnisaktivität in beiden Hemisphären verglichen. Bei leichten Aufgaben registrierte man eine höhere Aktivität in der linken Hemisphäre, bei schwierigen Aufgaben zeigte sich in beiden Hemisphären erhöhte Aktivität, jedoch nicht nur bei älteren, sondern auch bei jüngeren Probanden, sodass die vorübergehende beidseitige Nutzung von ansonsten einseitig aktiven Gehirnarealen also doch kein im Alter entwickelter Kompensationsmechanismus ist. Die vermutete Aufhebung der Lateralisation liegt also eher daran, dass das Arbeitsgedächtnis im Alter weniger leistungsfähig wird. Vielleicht lässt das Gedächtnis im Alter aber gar nicht nach, sondern hat nur mehr und mehr Erinnerungen zu verarbeiten und wird dadurch weniger belastbar.
Siehe dazu auch Ist rechts immer rechts und links immer links?
Aufgabenteilung der Gehirnhälften
Grundsätzliches: Die beiden Hälften des menschlichen Gehirns unterscheiden sich sowohl in ihrer Anatomie als auch in ihren Aufgabenbereichen, doch bei vielen psychiatrischen Störungen scheint dieses Grundprinzip allerdings außer Kraft gesetzt oder zumindest eingeschränkt. Ob diese Veränderungen die Ursache für Erkrankungen wie Schizophrenie sind, ist unklar, denn möglicherweise beeinflussen dieselben Gene und Umweltfaktoren sowohl Hirnasymmetrien als auch psychische Krankheiten. So fand man, dass Psychosen und Epilepsie immer dann gemeinsam auftreten, wenn die Anfälle von der linken Hirnhälfte ausgehen, nicht jedoch bei einem Ursprung in der rechten Hemisphäre. Daher forscht man seit einiger Zeit daran, ob die zwei Hemisphären unterschiedliche Rollen bei der Entstehung psychiatrischer Erkrankungen spielen könnten, wobei vieles dafür spricht, denn man hat auch in Studien zur Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung bemerkt, dass Menschen mit Defekten auf der rechten Hirnseite deutlich häufiger Aufmerksamkeitsprobleme haben als jene, bei denen die linke Seite betroffen ist.
Floegel et al. (2020) haben die Aufgabenteilung der beiden Gehirnhälften beim Sprechen untersucht, wobei Probanden sprechen mussten, während ihre Hirnaktivität mittels funktioneller Magnetresonanztomographie aufgezeichnet wurde. Bekanntlich benötigen Menschen, wenn sie sprechen, beide Gehirnhälften, wobei jede einen Teil der komplexen Aufgabe übernimmt, Laute zu formen, die Stimme zu modulieren und das Gesprochene zu überprüfen. Dabei zeigte sich, dass nicht nur die rechte Gehirnhälfte analysiert, wie gesprochen wird, sondern auch die linke dazu einen Beitrag leistet.
Bisher nahm man an, dass das gesprochene Wort in der linken Gehirnhälfte entsteht und von der rechten Gehirnhälfte analysiert wird, was etwa bedeuten würde, wenn man Englisch lernt und das „th“ übt, dass die linke Gehirnhälfte das Zusammenspiel von Zunge und Zähnen motorisch steuert, während die rechte überprüft, ob der produzierte Laut auch wirklich so klingt, wie man ihn formen wollte. In dieser Studie wurde nun gezeigt, dass während die linke Hirnhälfte bei der Sprachkontrolle zeitliche Aspekte wie Übergänge zwischen Sprachlauten kontrolliert, die rechte Gehirnhälfte für das Klangspektrum zuständig ist. Wenn man zum Beispiel „mother“ sagt, kontrolliert die linke Hirnhälfte bevorzugt die dynamischen Übergänge zwischen „th“ und den Vokalen, während die rechte Hirnhälfte bevorzugt den Klang der Laute selbst überprüft.
Eine mögliche Erklärung für diese Form der Arbeitsteilung zwischen den beiden Hirnhälften wäre, dass die linke Hirnhälfte generell schnelle Abläufe, wie die Übergänge zwischen Sprachlauten, besser analysiert als die rechte. Die rechte Hirnhälfte könnte besser langsamere Abläufe kontrollieren, die zur Analyse des Klangspektrums benötigt werden. Dass dies in der Tat so ist, erschließt sich aus einer vorangegangenen Studie zur Handmotorik von Pflug et al. (2019). In dieser Untersuchung wollte man klären, warum Menschen die rechte Hand für schnelle Abläufe und die linke Hand für langsame Abläufe bevorzugen, was etwa beim Brotschneiden der Fall ist, wenn die rechte Hand mit dem Messer sägt und die linke das Brot hält. In diesem Experiment ließ man rechtshändige Probanden mit beiden Händen im Rhythmus eines Metronoms klopfen, wobei sie in einer Variante jeden Schlag klopfen, in der anderen nur jeden vierten klopfen sollten. Wie sich zeigte, war die rechte Hand bei der schnellen Schlagfolge präziser und die linke Gehirnhälfte, die die rechte Körperseite kontrolliert, zeigte eine erhöhte Aktivität. Umgekehrt stimmte das Klopfen der linken Hand besser mit dem langsamen Rhythmus überein und die rechte Gehirnhälfte zeigte eine höhere Aktivität.
Insgesamt zeigte sich, dass komplexes Verhalten wie Handmotorik und Sprechen von beiden Gehirnhälften kontrolliert wird, wobei die linke Hirnhälfte bevorzugt die schnellen kontrolliert, während die rechte parallel dazu eher die langsamen Abläufe steuert.
Literatur
Floegel, M., Fuchs, S. & Kell, C. A. (2020). Differential contributions of the two cerebral hemispheres to temporal and spectral speech feedback control. Nature Communications, doi:10.1038/s41467-020-16743-2.
Höller-Wallscheid, Melanie S., Thier, Peter, Pomper, Joern K. & Lindner, Axel (2017). Bilateral Recruitment of Prefrontal Cortex in Working Memory Is Associated with Task Demand but Not with Age. Proceedings of the National Academy of Sciences, doi: 10.1073/pnas.1601983114.
Neubauer, Simon, Gunz, Philipp, Scott, Nadia A., Hublin, Jean-Jacques & Mitteroecker, Philipp (2020). Evolution of brain lateralization: A shared hominid pattern of endocranial asymmetry is much more variable in humans than in great apes. Science Advances, 6, doi:10.1126/sciadv.aax9935
http://entwicklungsdiagnostik.de/glossar.html (12-11-21)
Pflug, A., Gompf, F., Muthuraman, M., Groppa, S. & Kell, C. A. (2019). Differential contributions of the two human cerebral hemispheres to action timing. eLife, doi:10.7554/eLife.48404.
Stangl, W. (2011, 1. Juni). Neuromythen. arbeitsblätter news.
https:// arbeitsblaetter-news.stangl-taller.at/neuromythen/
https://www.spektrum.de/magazin/die-asymmetrie-des-gehirns-ist-bei-psychischen-erkankungen-vermindert/2015671 (22-05-31)
Wenn Menschen älter werden, altert die rechte Großhirnhemisphäre etwas schneller als die linke, sodass wir etwas weniger neugierig werden und wir uns stärker darauf verlassen, eine neue Situation dadurch zu beurteilen, was wir schon einmal erlebt haben, sodass es uns so vorkommt, als wenn diese älteren Erinnerungen uns eher ins Gedächtnis kommen, unsere Erinnerung daran quasi besser wird. Der Suchfilter unseres Gehirns geht eben dahin, eine neue Situation anhand von dem zu beurteilen, was man schon erlebt hat.