Spiegelneuronen werden manchmal auch Simulations- oder Empathieneuronen genannt, und sind Nervenzellen, die im Gehirn während der Betrachtung eines Vorgangs die gleichen Potenziale auslösen, wie sie entstünden, wenn dieser Vorgang nicht bloß passiv beobachtet, sondern aktiv ausgeführt würde.
Spiegelneuronen bilden im Gehirn des zuschauenden oder beteiligten Menschen nicht nur Handlungen nach, sondern auch Empfindungen und Gefühle. Es sind also Gesamteindrücke, die man von anderen Menschen gewinnt, und Emotionen, Motivationen, Handlungsstrategien etc. von Menschen, mit denen man intensiv zu tun hat, hinterlassen so eine Art inneres Bild.
Nach der heute durch populärwissenschaftliche Artikel weit verbreiteten Vorstellung sind Spiegelneuronen also von der Evolution eingesetzte, vererbte Erkenntnisinstrumente, die Menschen die Gabe verleihen, den mentalen Graben zu überqueren, der einen Menschen von den anderen trennt. In einem solchen Artikel heißt es dann etwa: „Spiegelneuronen sind es auch, die dafür verantwortlich sind, dass wir öfter mal weinen müssen, wenn wir gerade einen traurigen Film anschauen. Unsere Nervenzellen reagieren in dem Moment genau so, als ob wir das, was gerade in dem Film zu sehen ist, selbst erleben würden. Auch beim Lesen eines spannenden Buches fühlst du sicherlich manchmal mit – oder? Oft ist es ja so, dass man sich einer Person im Buch besonders nahe fühlt. Mit dieser fühlst du mithilfe der Spiegelneuronen die Romanhandlung mit, als seist du selbst mit dabei. Das kann natürlich auch lustig sein, so dass du beim Lesen laut loslachen musst.“ Oder: „Etwas Ähnliches passiert im Kopf deiner Eltern, wenn sie auf einem Zettel lesen, dass in eurem Kindergarten mal wieder Fälle von Läusebefall aufgetreten sind. Sie versetzen sich in diesem Moment so sehr in die Situation hinein, dass sie sofort den Eindruck haben, die kleinen Schmarotzer würden auch auf ihrem eigenen Kopf herumkrabbeln. Dabei sind da gar keine Läuse. Der Juckreiz ist trotzdem echt.“
Eine Diskussion im Forum All Mystery zum Zusammenhang von Spiegelneuronen und Seele:
http://www.allmystery.de/themen/rs27763-1
Neuronale Koppelung bei Gesprächen
Greg Stephens et al. (2010) ließen mittels der funktionellen MRT in einer vereinfachten Gesprächssimulation – sie ließen den „Sprecher“ eine Begebenheit aus seinem Leben erzählen und zeichneten dabei seine Hirnaktivität auf und spielten anschließend diese einem „Zuhörer“ vor und maßen dessen Hirnaktivität, wobei sie nach zeitlichen und räumlichen Übereinstimmungen in den Gehirnen der beiden Probanden suchten. Tatsächlich fand sich eine umfangreiche Kopplung der beiden Gehirne, wobei nicht nur Hör- und Sprachzentrum ein voneinander abhängiges Aktivitätsmuster zeigten, sondern auch solche Areale, die für höhere kognitive Funktionen zuständig sind, wobei die meisten dieser Bereiche dabei im Verlauf der Erzählung beim Sprecher etwas früher aufleuchteten als beim Zuhörer, aber auch einige wenige Areale wurden beim Zuhörer schon zu einem Zeitpunkt aktiv, an dem sie beim Sprecher noch gar nicht arbeiteten. Vermutlich handelt es sich daher um eine Art Voraussage-System, das das Gehirn auf kommende Informationen vorbereitet. Unter den gekoppelten Arealen waren vor allem solche, die für soziale Aspekte von Kommunikation wie für die Einschätzung des emotionalen Zustandes beim Gegenüber zuständig sind, und hier wieder das schon für solche Untersuchungen anfällige Spiegelneuronensystem.
Borderline und Spiegelneuronen
Sosic-Vasic et al. (2019) haben entdeckt, dass die emotionale Überempfindlichkeit von von einer erhöhten Aktivität spezifischer Spiegelneuronen begleitet wird. Diese Nervenzellen werden bereits durch die Beobachtung von Handlungen und die Fremdwahrnehmung von Gefühlen stimuliert und sind somit entscheidend für das Lernen durch Nachahmung und das Nacherleben von Emotionen. Als eine Art Resonanzsystem im Gehirn reagieren diese besonderen Nervenzellen sehr sensibel auf die Gefühle und Stimmungen anderer, weshalb sie nicht nur für die Empathie-Fähigkeit des Menschen entscheidend sind, sondern auch eine Schlüsselrolle bei der emotionalen Ansteckung spielen. Die ForscherInnen haben gezeigt, dass Borderline-Patientinnen besonders stark auf Szenen von Verlust und Trauer reagieren. Diese Befunde könnten erklären, warum Menschen, die unter einer Borderline-Störung leiden, für negativen Gefühle äußerst empfänglich sind und so extrem darauf reagieren. Im Vergleich mit der Kontrollgruppe war zu erkennen, dass es weitere Unterschiede im präfrontalen Cortex gab, denn bei den Betroffenen wie jener Bereich weitaus weniger aktiviert, der für die kognitive Beurteilung von Gefühlszuständen Anderer entscheidend ist, also der Bereich für die Mentalisierung bzw. für die reflektierte Einstufung von Gefühlswahrnehmungen. Diese Mentalisierung ist notwendig, um die Absichten und Motivationen anderer Menschen einschätzen zu können. Darum fällt es Borderlinern so besonders schwer, sich in andere hineinzuversetzen und deren Perspektive zu übernehmen.
Spiegelneuronen bei der Kunstrezeption
Gallese & Freedberg (2007, S. 197) haben in einem Forschungsbeitrag vermutet, dass Menschen auch dann nachahmend tätig sind, wenn sie vor Kunstwerken wie auch abstrakten Bildern stehen wobei neben figurativen insbesondere formale Merkmale der Werke verantwortlich sein können: „Simulation occurs not only in response to figurative works but also in response to experience of architectural forms, such as a twisted Romanesque column. With abstract paintings such as those by Jackson Pollock, viewers often experience a sense of bodily involvement with the movements that are implied by physical traces – in brushmarks or paint drippings – of the creative actions of the producer of the work. This also applies to the cut canvaces of Lucio Fontana, where sight of the slashed painting invites a sense of empathetic movement that seems to coincide with the gesture felt to have produced the tear.“
Kritik am Konzept der Spiegelneuronen
Im Fall der Spiegelneuronen klafft ein Abgrund zwischen den öffentlichen Phantasien und dem, was wissenschaftlich, d.h. experimentell, belegbar ist, wobei vor allem die Befundbasis äußerst schmal ist. Vorbehalte gegen das Konzept der Spiegelneuronen gibt es seit der Entdeckung, wobei sich diese vor allem gegen die populärwissenschaftlichen Verallgemeinerungen und Spekulationen: Sprache, Kultur, Globalisierung – alles scheint an den Spiegelneuronen zu hängen. Was reduktionistisch einzelnen Zellen zugewiesen wurde, ist nach neuestern Forschungen aber eine Leistung des gesamten Gehirns und die Rolle der Spiegelneuronen als erklärendes Modell ist deutlich kleiner, als bisher behauptet. Vor allem ist das ohnehin sehr vage definierte Spiegelsystem sehr weiträumig im Gehirn verteilt, also etwa auch im Hippocampus. Vermutlich haben die Spiegelneuronen eher mit Imitationen zu tun und dass die bimodalen Neuronen lediglich daran beteiligt sind, auf den Anblick eines Verhaltens hin eine Reaktion aus dem eigenen Verhaltensrepertoire auszuwählen.
Auch Fremdschämen und Schadenfreude ein Resultat der Spiegelneuronen?
Unter Fremdschämen versteht man bekanntlich das Verhalten eines Menschen, der beim Anblick einer peinlichen Situation, in der eine andere Person ist, betroffen reagiert, als wäre ihr/ihm selber das Missgeschick passiert. Fremdschämen zählt zu den sozialen Emotionen, wobei es unter diesen eine Sonderstellung einnimmt, denn man kann sich nicht stellvertretend für andere eifersüchtig fühlen oder für jemand anderen schuldig fühlen. Dabei ist es bei Fremdscham unerheblich, ob der Betroffene sich absichtlich oder unabsichtlich einen Fehler leistet oder ob der Betroffene überhaupt bemerkt, dass sein Verhalten peinlich ist.
Menschen mit hohem Einfühlungsvermögen sind dabei anfälliger für Peinlichkeiten der Mitmenschen. Fremdscham tritt daher bei Frauen häufiger auf, was vermutlich an deren ausgeprägteren Fähigkeit zur Empathie liegt und daran, dass sich Frauen generell stärker mit Menschen identifizieren können. Diese Emotionen entwickelt sich bereits sehr früh im Kindesalter, wobei man dafür die Fähigkeit haben muss, sich in andere Menschen hineinversetzen zu können, was sich in der Regel zwischen dem siebten und neunten Lebensjahr entwickelt. Zusätzlich muss kognitiv ein Verständnis dafür entwickelt worden sein, welche sozialen Normen es gibt und wann diese gelten. Daher sind Empathie und Identifikation für das Fremdschämen essenziell, denn fehlen diese, entsteht das verwandte komplementäre Gefühl der Schadenfreude, bei der man man eine Normverletzung ebenfalls wahrnimmt, bei dieser aber die belohnende Komponente im Vordergrund steht. Bei der Schadenfreude geht es weniger um das Mitgefühl als darum, sich selbst über die betroffene Person zu stellen, der gerade etwas Peinliches passiert, wobei die Übergänge manchmal fließend sind, denn je nach Motivation und Stimmung kann die gleiche Situation entweder Schadenfreude oder Fremdscham auslösen oder auch von der einen in die andere soziale Emotion umkippen.
Dieses Phänomen stellvertretender Scham ist im übrigen unabhängig davon, ob die betroffene Person selbst die Situation als peinlich wahrnimmt, denn das Gefühl des Fremdschämens tritt auch auf, wenn etwa ein Mann mit offener Hose durch eine Fußgängerzone geht und dies selber gar nicht bemerkt. Nach neuesten Untersuchungen werden beim Beobachten peinlicher Situationen anderer die gleichen Hirnareale aktiviert wie beim Anblick körperlicher Schmerzen eines Mitmenschen. Vermutlich sind auch dafür Spiegelneuronen verantwortlich 😉
Anmerkung: Im Jahr 2021 wurde das Wort Cringe als Jugendwort des Jahres gewählt, ein Internetwort aus den sozialen Medien und der Meme-Kultur. Es drückt ein Gefühl des Fremdschämens aus und ist mittlerweile auch bei der deutschsprachigen Jugend angekommen. Aus dem Englischen übersetzt bedeutet „cringe“ so viel wie „zusammenzucken“ oder „erschaudern“, doch umgangssprachlich wird das Wort als Ausdruck für Fremdschämen benutzt. Ist eine Situation für den Beobachter besonders peinlich, dann kann die Gegebenheit als „cring(e)y“ bezeichnet werden. Oft wird das Wort vor allem verwendet, wenn der Mensch sich selber nicht bewusst ist, dass andere Menschen vom diesem Verhalten peinlich berührt werden. Oft handelt es sich auch nur um ein Missgeschick eines anderen. Wenn z. B. ein Erwachsener versucht „cool“ zu wirken, indem er dafür absichtlich Begriffe aus der Jugendsprache benutzt, kann das von Jugendlichen schnell als cringy empfunden werden. Häufig bezeichnen Jugendliche damit auch andere Menschen, die etwas Unangenehmes machtenoder sich seltsam verhalten. Im Internet gibt es mittlerweile sogar eine eigene Cringe-Meme-Kultur, wobei „Cringe Compilations“ oder „Try not to cringe Challenges“ kurze Videos sind, auf denen festgehaltene Momente zum Fremdschämen im Internet veröffentlicht werden, etwa wenn eine Frau im Schlafanzug in der U-Bahn sitzt oder ein älterer Mann in einer Diskothek in Jogginghose tanzt. Das Wort Cringe verfügt über mehrere Abwandlungen, also etwa „cringy“ oder „cringeworthy„.
Kurioses zu Spiegelneuronen: „Fußball-WM: Spiegelneuronen zittern mit“
Je mehr das Gesehene früheren Erfahrungen, insbesondere in Bezug auf die Beobachtung von motorischen Aktivitäten, entspreche, desto stärker feuern die Spiegelneuronen. So sei es auch möglich, dass bei einem Fußballmatch die Fans der siegreichen Elf feiern, während die anderen gleichzeitig weinen. Die Menschen beobachten jeweils „ihre“ Mannschaft und kopieren deren Emotionen.
Neuronen von Experten feuern stärker
Das Resonanzsystem der Spiegelneuronen ist auch noch für einen anderen Effekt zuständig: Fans, die selbst viel Fußball spielen oder gespielt haben, die wissen, wie das Spiel funktioniert, können ein Spiel besser ‚lesen‘. Valenti: „Studien haben gezeigt, dass diese Fußball-Experten während des Spiels die Aktionen besser vorhersagen können. Dabei feuern die Spiegelneuronen mehr als bei anderen, die weniger vom Fußball verstehen.“ Bei Kontrollgruppen, die noch nie oder selten ein Fußballmatch gesehen und selbst nicht gespielt hatten, feuerten die Spiegelneuronen nicht oder kaum. Valenti: „Spiegelneuronen befähigen uns offenbar dazu, die Absichten anderer intuitiv zu erfassen. Und umso mehr, je besser uns diese Absichten oder Handlungen aus eigener Erfahrung bekannt sind.“
Quelle: http://science.orf.at/stories/1740488/ (14-06-04)
Mehr Kurioses zu Spiegelneuronen: „Spiegelneuronen der Mitarbeiter aktivieren“
„Um die Frage zu beantworten, was gute Führungskräfte auszeichnet, untersuchten Gehirnforscher chemisch-physikalische Prozesse im Gehirn zu einem Zeitpunkt, an dem Menschen mit anderen interagieren. Erfolgreichen Führungskräften gelingt es demnach, ihre eigenen Gehirne mit denen ihrer Mitarbeiter gewissermaßen „zusammenzuschließen“ und daraus ein System zu machen. Sie können sich besonders gut in andere hineinversetzen und deren Stimmungen erkunden. Dadurch schaffen sie es, positive Gefühle und Einstellungen anderer zu verstärken. Die Folge: Die Mitarbeiter unterstützen die Ziele und Aktivitäten ihrer Vorgesetzten.
Was wie nach Manipulation und Gehirnwäsche klingt, basiert vor allem auf der Kenntnis der Rolle sogenannter Spiegelneuronen im Gehirn. Sie sind verantwortlich dafür, dass im Gehirn eines Menschen, der einen anderen bei einer Tätigkeit beobachtet, die gleichen Zellen aktiv sind, wie bei dem, der eigentlich aktiv ist. Wer Tänzer auf einer Bühne beobachtet, aktiviert dieselben Gehirnbereiche wie der Tänzer selbst.
Mitarbeiter, die ihre Vorgesetzten beobachten und deren Stimmung und Verhalten unbewusst wahrnehmen, lassen sich davon anstecken – im guten wie im schlechten Sinn. Ein Chef, der oft lacht und einen lockeren Umgangston pflegt, verbessert auch die Stimmung in seinem Team. Es wird häufiger gelacht und die Arbeit macht mehr Spaß. Die Leistung des Teams steigt.“
Quelle: http://www.business-wissen.de/artikel/mitarbeiterfuehrung-was-fuehrungskraefte-ueber-spiegelneuronen-wissen-sollten/ (15-11-23)
Entdeckung der Spiegeneuronen
Giacomo Rizzolatti von der Universität Parma und seine Kollegen wollten Anfang der 1990er Jahre an Makaken erforschen, wie Handlungen geplant und umgesetzt werden und wie sich das im Gehirn manifestiert. Griffen diese Tiere nach Erdnüssen, konnten man dabei die entsprechenden Gehirnaktivitäten registrieren. Eines Tages schlug das Messgerät auch aus, als einer der Forscher nach einer Nuss griff und nicht der Affe. Das Tier saß dabei völlig ruhig da und betrachtete die Szene lediglich, trotzdem reagierte sein Gehirn genauso, als ob es selbst zur Nuss greifen würde. Die Nervenzellen des Affen sendeten offenbar bereits Signale aus, wenn er die Bewegung nur beobachtete, d. h., sie spiegelten förmlich das Verhalten des Beobachteten. Später gelang auch der Nachweweis, dass solche Spiegelneuronen-Systeme auch im menschlichen Gehirn existieren. Indem Menschen Körperbewegungen anderer unwillkürlich spiegeln, können sie Bewegungen anderer nachvollziehen und möglicherweise auch besser nachahmen. So lösen komplexe Bewegungen wie das Tanzen bei Zuschauern ähnliche Aktivitätsmuster im Gehirn aus wie bei den ausführenden Tänzern, wobei in manchen Fällen sogar eine Art Trainingseffekt im Gehirn entsteht. Heute wird auch diskutiert, dass etwas Vergleichbares auch beim Beobachten von Emotionen passieren könnte, sodass etwa Mitgefühl und Empathie durch solche Neuronengruppen grundgelegt werden könnten.
Literatur
Freedberg, D. & Gallese, V. (2007). Motion, emotion and empathy in esthetic experience. Trends in Cognitive Sciences, 11, No. p. 197–203.
Sosic-Vasic, Zrinka., Eberhardt, Julia, Bosch, Julia E., Dommes, Lisa, Labek, Karin, Buchheim, Anna. & Viviani, Roberto (2019). Mirror neuron activations in encoding of psychic pain in borderline personality disorder. NeuroImage: Clinical, 22, doi:pii/S2213158219300877.
Stephens, Greg J., Silbert, Lauren J. & Hasson, Uri (2010). Speaker–listener neural coupling underlies successful communication.
http://www.pnas.org/content/suppl/2010/07/14/1008662107.DCSupplemental/pnas.201008662SI.pdf (10-07-09)
Stuttgarter Zeitung vom 31. Jänner 2018.
Unter Verwendung von http://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/0,1518,708639,00.html(10-07-09)
https://www.stuttgarter-nachrichten.de/inhalt.cringe-bedeutung-und-verwendung-mhsd.b8ab89a3-eba9-404a-9b66-e18ea08faa32.html (21-10-26)
Die Spiegelneuronen, auch Simulations- oder Empathieneuronen genannt, sind visuo-motorische Nervenzellen, die ein Resonanzsystem im Gehirn bilden. Forschungen gehen davon aus, dass diese ausschlaggebend für das Verständnis anderer sind, indem sie alleine durch das Beobachten fremder Handlung im eigenen Gehirn ‚feuern’ und somit dieselbe Aktivität aufzeigen, die sich zeigen würde, wenn man die Handlung selbst ausgeführt hätte. Die Spiegelneurone wurden in den 1990-er Jahren von Giacomo Rizzolatti und seinem Forscherteam zufällig entdeckt und von Verfechtern innerhalb der Hirnforschung als Quantensprung deklariert, bilden diese doch die „biologische Basis des Mitgefühls“, wie der Untertitel von Rizzolattis Buch verrät. Die Theorie der Spiegelneurone liefert einen attraktiven Vorschlag zur Erklärung dafür, warum wir mit anderen mitfühlen können und zwar tatsächlich in nahezu derselben Qualität, wie sie die ursprüngliche Empfindung aufweist. Die Nervenzellen bilden ein Resonanzsystem, das dazu in der Lage ist, beobachtete Emotionen im eigenen Gehirn zu spiegeln – also fremde Gefühle als interne Repräsentation hervorzurufen – und diese somit nachzuempfinden. Der Effekt ist jedem bekannt: Werden wir angelächelt, lächeln wir zurück. Sehen wir ein weinendes Kind, empfinden wir Mitleid. Beobachten wir, wie sich jemand verletzt, verziehen wir das Gesicht, so als hätte uns selbst der Schmerz durchzuckt. Der innovative Mehrwert der sozialen Neurowissenschaften liegt darin, eine Fokusverschiebung vom einzelnen Gehirn hin zur kognitiven sozialen Interaktion vorzunehmen: „Brains do not exist in isolation“, bringt Tania Singer den Forschungstenor auf den Punkt, „and their basis functioning reflects their participation in the social culture in which they were born.“ Die sozialen Neurowissenschaften erforschen also, inwiefern unser Bewusstsein ein soziales Organ ist und wir nicht anders können, als neuronal auf andere zu reagieren. In Partnerversuchen konnte die Neurowissenschaftlerin nachweisen, dass Schmerzregionen im Gehirn aktiviert werden, auch wenn diese nicht aktiv, sondern nur empathisch, also durch reines Mitleiden mit dem anderen stimuliert werden. Hierbei wird einem Paar jeweils abwechselnd ein erträglicher, jedoch unangenehmer Schmerz zugefügt. Ein Pfeil auf einem Bildschirm zeigt dabei jeweils in die Richtung desjenigen Partners, der den Schmerzreiz zu spüren bekommt. Gehirnmessungen zeigen, dass der leibhaftig erlebte Schmerz sowie der empathisch nachempfundene Schmerz des Partners dieselben Netzwerke im Gehirn aktivieren. Singer kann somit eine gemeinsame neuronale Aktivierung nachweisen: Der Schmerz des Anderen wird empathisch nachempfunden, im eigenen Gehirn als Repräsentation simuliert und somit tatsächlich mitgefühlt. Unser „empathisches Gehirn“ ist folglich fundamental auf Interaktion ausgerichtet und erlaubt – entgegen der Annahme eines ewiglichen Missverstehens – durchaus einen gegenseitigen empathischen Austausch höchster Qualität: Wir können annähernd das fühlen, was der andere fühlt.
Quelle: literaturkritik.de Oktober 2015