Für selbstverletzendes Verhalten (SVV) werden auch Begriffe wie Autoaggression, Automutilation, Parasuizid, Selbstbestrafung oder Selbstverletzung verwendet, allerdings stehen diese oft schon interpretierend für unterschiedliche Aspekte der Thematik. Eine mögliche knappe Definition beinhaltet die gezielte und bewusste Verletzung oder Beschädigung des eignen Körpers, ohne sich aber töten zu wollen, wobei dieses Verhalten sozial nicht akzeptiert ist und zum Abbau psychischer Spannungen durchgeführt wird. Dabei werden Verletzungen durch Piercings, Tätowierungen und Ähnliches nicht dazugezählt, da diese in der Regel kulturell akzeptiert sind und das Schmücken des Körpers im Vordergrund steht. Auch risikoreiches Verhalten wie Drogenkonsum oder das Ausüben von riskanten Sportarten zählen laut vorgenannter Definition nicht zum selbstverletzenden Verhalten (vgl. Warschburger & Kröller, 2008, S. 210). Manche Selbstschädigungen des eigenen Körpers sind in verschiedenen Kulturen auch als Ausdruck der Trauer, als Mutprobe, im Rahmen von Initiationsriten, als Ausdruck von Ekstase bei religiösen Zeremonien, als Selbstopfer oder als Selbstweihe zu finden und dürfen daher wohl nicht pauschal pathologisiert werden.
Selbstverletzendes Verhalten gehört seit dem DSM-III (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders), aktuell auch im DSM-5 (American Psychiatric Association 2015) zum Kriterium 5 der Borderline-Persönlichkeitsstörung: Wiederholte suizidale Handlungen, Selbstmordandeutungen oder -drohungen oder Selbstverletzungsverhalten. Dabei scheint allerdings die Zusammenführung von suizidalen Handlungen und Selbstverletzungsverhalten in einem Kriterium eher irreführend, da beides voneinander unterschieden werden muss. Selbstverletzendes Verhalten lässt sich nämlich definieren als eine wiederholt selbst zugefügte, direkte körperliche Verletzung, die eben nicht gezielt lebensbedrohlich ist. Es handelt sich dabei um eine spezifische Form von selbstschädigendem Verhalten, die sichaber grundsätzlich von Suizidversuchen unterscheidet. Selbstverletzendes Verhalten findet sich übrigens bei mehr als drei Viertel aller Menschen mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung.
Es gibt dabei Selbstverletzungen an nahezu allen erdenklichen Stellen des Kopfes, des Körpers und der Gliedmaßen. Neben den eigenen Händen, Fäusten, Fingernägeln und Zähnen können dafür im Prinzip alle verfügbaren Gegenstände als Instrumente zur Selbstverletzung eingesetzt werden. Besonders verbreitet sind Verletzungen der Haut, vor allem an den Gliedmaßen. Die Verletzungen können zum Beispiel durch Schnitte mit Messern, Rasierklingen, Glasscherben., durch Beißen, durch Kratzen mit den Fingernägeln, durch Nadelstiche, durch Verbrennungen mit Zigaretten oder durch Verbrühungen mit heißer Flüssigkeit herbeigeführt werden. Genitale Selbstverletzungen bei Frauen bestehen meist im Einführen von gefährlichen Objekten (Rasierklingen, Scheren) in die Vagina, bei Männern handelt es sich häufig um Verstümmelungen des Penis oder der Hoden und um Selbstkastration (Petermann & Nitkowski 2015, S. 23ff).
Selbstverletzung ist ein stilles Leiden, das Betroffenen, Angehörigen und professionellen Helfern gleichermaßen zunächst rätselhaft erscheint. Vor allem Frauen richten bestehende Aggressionen in zerstörerischer Weise gegen sich selbst. Um sich zu spüren und seelischen Schmerz vergessen zu können, fügen sie sich Wunden mit Messern, Scheren, Rasierklingen oder brennenden Zigaretten zu.
Unter selbstverletzendem Verhalten versteht man das absichtliche Zufügen von äußerlichen Wunden, also Ritzen oder Schnitte mit dem Messer oder anderen Klingen, Verletzungen mit einem heißen Bügeleisen oder das Ausdrücken von Zigaretten auf der Haut, wobei meist Arme und Beine verletzt werden. Eine Studie der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie des Universitätsklinikums Heidelberg (Bestandteil der europaweiten Untersuchung „Saving and Empowering Young Lives in Europe – SEYLE“) ergab, dass sich rund ein Drittel aller Schülerinnen zwischen 14 und 16 Jahren schon einmal absichtlich eine Schnittverletzung zugefügt hatten, von denen 18 Prozent der Mädchen und acht Prozent der Buben dies häufiger machen.
Ursachen sind häufig depressive Entwicklungen nach Störungen in der Kindheit, etwa wenn man als Kind abgelehnt wurde, wenig Liebe erfahren hat und so kaum ein Selbstwertgefühl entwickeln konnte. Doch auch traumatische Erlebnisse wie sexueller oder emotionaler Missbrauch, die Scheidung der Eltern oder der frühe Tod eines Elternteils können eine Ursache sein. Solche Erfahrungen können dazu führen, dass man innerlich wütend ist, viel mit sich machen lässt und sich nicht durchsetzen kann, wodurch sich Spannung aufbaut, die in Form einer Selbstverletzung gelöst wird. Betroffene berichten demnach, dass sie durch das selbstverletzende Verhalten den inneren Druck abbauen können, wobei viele dabei das Gefühl haben, irgendwie neben sich zu stehen, sich und ihr Leben von außen zu beobachten, begleitet von einem Gefühl der Taubheit und Leere. Manche berichten auch, dass sie sich durch das Verletzen wieder spüren und lebendig fühlen.“
Oft gehen Borderlinestörungen in der Kindheit und Jugend mit Selbstverletzungen einher, denn hier liegt eine Störung der Gefühlsregulation vor, die sich in einer hohen Empfindlichkeit gegenüber emotionalen Reizen und sehr intensiven und langanhaltenden Gefühlen zeigt. Dann treten ausgeprägte Stimmungsschwankungen und Anspannungszustände und damit auch ein Kontrollverlust auf, die mit Selbstverletzungen und anderen selbstschädigenden Verhaltensweisen wie Essstörungen oder den verschiedenen Süchten kompensiert werden.
Da das selbstverletzende Verhalten keine Lösung ist, denn die eigentlichen Probleme verschwinden damit nicht, sollte in jedem Fall professionelle Hilfe in Kinder- und Jugendberatungsstellen, bei Kinder- und Jugendpsychotherapeuten oder spezielle Ambulanzen gesucht werden. Neben medikamentöser Behandlung gibt es auch spezielle Verhaltenstherapien, wobei man auch Ersatzverhaltensweisen lernt, die einen ähnlichen Effekt zum Spannungsabbau haben, aber deutlich weniger schädlich sind wie kaltes Duschen oder das Essen einer Chilischote.
In der genannten Studie werden vier verschiedene Präventionsmaßnahmen auf ihre Wirksamkeit hin überprüft:
- Gatekeeper: Als Gatekeeper werden Personen bezeichnet, die Schlüsselfunktionen einnehmen und im Kontakt mit vielen Mitgliedern einer Gemeinde stehen. Im Rahmen dieses Projekts handelt es sich hierbei um Lehr- und Schulpersonal (= Gatekeeper), die durch sachkundige Studienmitarbeiterinnen einem Training unterzogen werden. Ziel dieser Schulung ist die Vermittlung von Kenntnissen und Fertigkeiten, die die Gatekeeper befähigen, gefährdete Schülerinnen und Schüler zu identifizieren und an professionelle Helfer weiter zu verweisen.
- Schulung der Selbstwahrnehmung: In drei aufeinander folgenden Sitzungen werden Schülerinnen und Schüler von erfahrenen Psychologinnen oder Pädagoginnen in der Wahrnehmung der eigenen Gefühle geschult. Hierbei kommen unterschiedliche Materialen und Methoden wie eine Broschüre und Poster zum Einsatz.
- Screening: Basierend auf dem Antwortverhalten der Eingangserhebung werden Schülerinnen und Schüler, die klinisch relevante Grenzwerte überschreiten, zu einem Gespräch im Studienzentrum eingeladen. Das Gespräch wird von erfahrenem Klinikpersonal durchgeführt und dient der Abklärung der berichteten Symptome sowie einer eventuellen Einleitung von weiteren Hilfsmaßnahmen.
- Minimale Intervention: Im Anschluss an die Eingangserhebung hängt das Studienpersonal sechs Poster im Klassenraum aus, die wichtige Informationen über riskante und selbstschädigende Verhaltensweisen proklamieren. Weiterhin werden Visitenkarten mit Kontaktinformationen an alle teilnehmenden Schülerinnen und Schüler ausgeteilt.
Auch Tätowierungen zählen letztlich zum (selbst)verletzenden Verhalten, da sie ein Eindringen unter die Oberfläche der Haut notwendig machen. Früher dokumentierten Tattoos die Zugehörigkeit zu speziellen Gruppen, denn vor allem Häftlinge, Zuhälter oder Seeleute ließen sich tätowieren, während sich heute Männer und Frauen aus allen Schichten Bilder in die Haut stechen lassen. Das liegt teilweise daran, dass sich die Menschen mit Tätowierungen attraktiver fühlen, sodass ein Tattoo zumindest kurzfristig das Selbstbewusstsein mancher Menschen stärken kann. Nach Ansicht manchen Experten spielt daher auch Narzissmus eine Rolle, wobei Narzissmus in diesem Zusammenhang die übertriebene Liebe bezeichnet, die ein Mensch sich selbst entgegenbringt. Häufig lassen sich Menschen ihre Tattoos in besonderen Lebenssituationen stechen, das können sowohl positive Ereignisse aber auch Krisensituationen sein, wobei Tattoos dann oft dazu dienen, etwas vielleicht Unaussprechliches mit einem Symbol zum Ausdruck zu bringen. Vor allem wenn Veränderungen im Leben mit starken Emotionen verknüpft werden, etwa wenn ein geliebter Mensch gestorben ist, lassen sich manche Menschen ein Porträt mit dem Geburts- oder Sterbedatum tätowieren. Oft versuchen Menschen auch durch Bilder von gefährlichen Tieren einen Begleiter zu schaffen, der Eigenschaften zeigt, die man selber nicht hat. In einer Zeit, in der die eigene Inszenierung und Selbstdarstellung immer wichtiger werden, ermöglicht ein Tattoo eine schnelle Selbstdarstellung über den Körper, d. h., der Körper wird zum Darstellungsmedium. Hinzu kommt auch eine Art Initiationsritus, da man bei einer Tätowierung die Angst vor der schmerzhaften Prozedur überwunden haben muss, was bei vielen Menschen das Selbstwertgefühl festigt. Das zeigt sich auch darin, dass sich tätowierte Menschen oft für besonders stark halten. Bei manchen Menschen entsteht aus einem kleinen Tattoo im Lauf der Jahre eine Ganzkörperillustration, deren Wirkung mitunter fatal sein kann, denn selbst kleine Tattoos lassen sich nicht mehr ohne Spuren entfernen, wenn man sich eines Tages für diese schämt bzw. diese das Selbstwertgefühl eher untergraben. Im Übrigen gibt es dabei auch medizinische Risiken, denn wenn Laser auch eine Tätowierung unsichtbar machen kann, bleiben die Farbpartikel im Körper, deren toxische Anteile sich in der Leber oder den Lymphknoten ablagern können.
Nach neueren Untersuchungen können sich Menschen in virtuellen sozialen Netzwerken mit psychischen Leiden anstecken, wobei das auch für Störungen gilt, die zur Selbstverletzung oder Selbsttötung führen können. So gibt es Gruppen mit Jugendlichen, die sich selbst verletzen, wobei die Ritzer Fotos ihrer Wunden austauschen. Solche Online-Gemeinschaften bilden eine verschworene Clique, die jedem Neuankömmling das Gefühl gibt, dass er seine Lust an der Selbstverstümmelung getrost ausleben kann. Wie die Psychologen Janis Whitlock, Jane Powers und John Eckenrode (Cornell University) ermittelt haben, gab es im Jahr 1998 lediglich eine einzige Netzgemeinschaft mit 91 Mitgliedern zum Thema Selbstverstümmelung. Im Jahr 2002 waren es bereits 28, derzeit sind es um die 400. Eine solche Störung breitet sich schnell aus, wenn es den entsprechenden Resonanzboden gibt (Stangl, 2019).
Für viele Menschen ist es unverständlich, dass es andere Menschen gibt, die sich selbst Schmerzen zufügen, wobei das häufig im Jugendalter beginnt. Wenn diese in der Pubertät sich selbst verletzten, ist nicht der Schmerz das Warnsignal, sondern ihr Verhalten, denn oft ist es ein Ruf nach Aufmerksamkeit. Selbstverletzendes Verhalten ist keine Seltenheit, wobei die meisten Betroffenen weiblich und zwischen zwölf und sechzehn Jahren alt sind. Oft bleibt es bei ein einigen Schnitten und hört nach kurzer Zeit wieder auf, doch manchmal nimmt es den Charakter einer Sucht an. Sie schneiden sich mit Rasierklingen oder Messern oberflächlich in die Haut (Ritzen), andere verletzen sich mit spitzen Gegenständen wie Scheren oder Scherben und dringen sogar bis in die Muskulatur vor. Seltener sind Brandverletzungen, die durch glimmende Zigaretten herbeigeführt werden, die sie auf ihrer Haut ausdrücken. Nach Ansicht von Experten riskieren die Jugendlichen bleibende Narben, weil dadurch der körperliche Schmerz den psychischen Schmerz überlagert. Vor allem emotional instabile Persönlichkeiten neigen zu solchem Verhalten, und Ritzen manchmal zu einem Massenphänomen in Schulklassen, wobei es oft nur ein kurzes Phänomen darstellt, das durch schulinterne Faktoren ausgelöst wurde. Bei Jugendlichen, die bei Selbstverletzungen bleiben, kann das Ritzen ein Hinweis auf eine ungenügende Stressregulation sein und dann ein Symptom für Leistungsdruck, Überforderung oder extrem kontrollierendem Verhalten durch die Eltern darstellen. Viele der Betroffenen kämpfen mit einem geringen Selbstwertgefühl, aber auch massive Bindungsstörungen, familiäre Zerwürfnisse oder Missbrauch können Auslöser sein. Betroffenen schaffen es erst durch den körperlichen Schmerz ihre Emotionen zu regulieren und den inneren Druck abzubauen, wobei die Jugendlichen häufig von ihrem Körpergefühl merkwürdig abgeschaltet sind. Die Selbstverletzung wird dabei zu einem Ventil, über das die Jugendlichen wieder Zugang zu ihrem Körper bekommen, das Schneiden ist befreiend und bringt ihnen ein Gefühl der Erleichterung. Eltern sollten, wenn sie merken, dass sich ihr Kind selbst verletzt, nicht in blinden Aktionismus zu verfallen, sondern die Nerven zu behalten, denn sofort bei einem Psychiater Hilfe zu suchen, kann bei den Betroffenen Ablehnung und Abwehr hervorrufen. Auch sogen Aufforderungen wie „Lass das doch!“ oder Schuldzuweisungen wie „Warum tust du uns das an?“ eher dafür, dass sich der Jugendliche mit seinem Problem zurückzieht und einen Dialog verweigert. Dennoch sollten Eltern deutlich machen, dass sie dieses selbstverletzende Verhalten ablehnen. Wichtig ist im Gespräch zu bleiben bzw. ins Gespräch zu kommen. Wenn die Jugendlichen merken, dass sie auf sich aufmerksam machen und deutlich geworden ist, dass es ihnen schlecht geht, kann es sein, dass sich das Ritzen wieder gibt. Vorwürfe sind fehl am Platz, denn Selbstverletzung ist immer ein Hilferuf, sodass es wichtig ist, möglichst neutral darüber zu sprechen. Aussagen wie: „Ich verstehe nicht, warum du das machst. Kannst du versuchen, es mir zu erklären“, signalisieren Gesprächsbereitschaft und machen deutlich, dass es den Eltern daran gelegen ist, gemeinsam das Problem zu lösen. Wenn nötig, sollte man sich professionell Hilfe suchen, über den Hausarzt, eine Beratungsstelle oder auch die Telefonseelsorge. Vielen Betroffenen fällt es leichter, sich anonym Rat zu holen, wie über eine Online-Beratung. Wichtig: Hinter dem Ritzen stecken nur sehr selten Selbsttötungsabsichten (Walter, 2019).
Siehe dazu das Arbeitsblatt Selbstverletzendes Verhalten.
Literatur
Levenkron, Steven (2006). Der Schmerz sitzt tiefer. Selbstverletzung verstehen und überwinden. Kösel Verlag.
Plener, P. L., Brunner, R., Resch, F. , Fegert J. M. & Libal, G. (2010). Selbstverletzendes Verhalten im Jugendalter. Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, 38(2), 77-89.
Petermann, Franz & Nitkowski, Dennis (2015). Selbstverletzendes Verhalten, Erscheinungsformen, Ursachen und Interventionsmöglichkeiten. Klinische Kinderpsychologie Band 9. Göttingen: Hogrefe.
Stangl, W. (2011). Selbstverletzendes Verhalten. [werner stangl]s arbeitsblätter.
WWW: https://arbeitsblaetter.stangl-taller.at/EMOTION/Selbstverletzung.shtml (11-08-31)
Stangl, W. (2014). Selbstverletzung. [werner stangl]s arbeitsblätter.
WWW: https://arbeitsblaetter.stangl-taller.at/EMOTION/A-Selbstverletzung.shtml (2019-04-27).
Walter, Tanja (2019). Warum Jugendliche sich selbst verletzen.
WWW: https://rp-online.de/leben/gesundheit/psychologie/wenn-jugendliche-sich-ritzen_aid-38903277 (19-06-09)
Warschburger, P. & Kröller, K. (2008). Selbstverletzendes Verhalten. In H. Scheithauer, T. Hayer & K. Niebank, (Hrsg.), Problemverhalten und Gewalt im Jugendalter (S. 209-224). Stuttgart: Kohlhammer.
http://www.klinikum.uni-heidelberg.de/Seyle.114370.0.html (10-10-27)