Der Alltag der meisten Menschen ist ein stilles Heldentum in Raten.
Anna Magnani
Unter Alltagspsychologie – auch naive Psychologie oder Laienpsychologie – versteht man in Abgrenzung zur Psychologie als exakter Wissenschaft die Gesamtheit von Begriffen der Umgangssprache, allgemein verbreiteten Vorstellungen und gewöhnlichen Erklärungsweisen, die traditionell und gewohnheitsmäßig verwendet werden, um Handeln, Verhalten und sonstige Reaktionen von sich und anderen im Zusammenhang mit inneren Vorgängen geistiger und emotionaler Art sprachlich darzustellen, in der eigenen Vorstellung nachzuvollziehen sowie zu erklären oder vorherzusagen.
Jeder Mensch sammelt im Laufe seines Lebens Erfahrungen mit sich selbst sowie mit Menschen seiner Umwelt und erwirbt dabei ein umfangreiches, mit der Zeit subjektiv gut bestätigtes Allgemeinwissen über die Psychologie des Menschen. Nicht selten konkurrieren aber solche persönlichen Überzeugungen mit fachwissenschaftlichen Erkenntnissen, was sich an manchen Lebensweisheiten zeigt, die dabei nicht unbedingt nur der Lebenserfahrung entspringen, sondern manchmal auch in Ängsten, Wünschen Vorurteilen und Vorbildern begründet sind. Die Schwächen des Laienurteils offenbaren sich an vielen Erkennnissen des gesunden Menschenverstandes (common sense), die in wissenschaftlichen psychologischen Studien grundlegend widerlegt wurden, etwa dass Aggressionen ausgelebt werden müssen, wenn man sie beherrschen möchte (siehe dazu die Katharsishypothese).
Die Beschäftigung mit alltagspsychologischen Vorstellungen ist auch für die wissenschaftliche Psychologie sinnvoll und notwendig, weil die Berücksichtigung der handlungsbestimmenden Alltagspsychologie zu einer besseren Vorhersage individuellen Verhaltens führt und die Auseinandersetzung mit Alltagstheorien zur Korrektur oder Modifizierung wissenschaftlicher Theorien führen kann.
Die Alltagspsychologie hat sich in unserem Kulturraum nach sprachhistorischen Beobachtungen vor etwa dreitausend Jahren allmählich herauszubilden begonnen. In der Alltagspsychologie wird davon ausgegangen, dass alle Menschen und teilweise auch Tiere über ein „Inneres“ mit ziemlich gleichartigen, wenn nicht identischen „inneren Vorgängen“ oder „Regungen“ verfügen, was in der Umgangssprache als „Innenleben“ oder auch „Seelenleben“ bezeichnet wird. Dazu gehören zahlreiche lebenspraktisce Vorstellungen und Überzeugungen, welche inneren Vorgänge beim Agieren und Reagieren von Menschen eine Rolle spielen. Dabei werden ihre Voraussetzungen in ihrer unterschiedlichen und teilweise gegensätzlichen Art wenig reflektiert, so dass sie oft Anlass von Miss- und Unverständnis sind.
Typische Merkmale alltagspsychologischen Denkens sind unter anderem die unzureichende Prüfung von Vermutungen, d.h., wenn man im Alltag eine Erklärung z.B. für ein psychologisches Phänomen liefert, dann überprüft man diese Erklärung, die im wissenschaftlich Sinn als Hypothese bezeichnet werden kann, nicht systematisch. Manchmal stützt man sich auf bisherige subjektive Erfahrungen oder man beruft sich auf Autoritäten. Wenn im Alltag noch versucht wird, eine psychologische Vermutung zu überprüfen, wird in der Regeln nur nach bestätigender Evidenz gesucht und nicht nach gegenteiligen Beweisen. Diese Tendenz, eine soziale und psychologische Wirklichkeit aufgrund einer bloßen Vermutung zu erzeugen, findet sich in der wissenschaftlichen Psychologie als Pygmalion- oder Rosenthal-Effekt wieder.
Laien vs PsychologInnen
Im Zusammenhang mit psychologischen Themen merken Laien oft an, dass ihnen viele Erkenntnisse eigentlich trivial vorkommen und ihre Einschätzung für ebenso verlässlich wie die Befunde professioneller Psychologen halten. Zwar ist manchmal eine gewisse Trivialität psychologischen Wissen feststellbar und auch mit naiver Psychologie können durchaus gute Prognosen im Alltag erzielt werden, allerdings ist die Effektivität im Vergleich zur wissenschaftlichen Psychologie relativ begrenzt. Die Leistungen zwischen Psychologen und Laien nähern sich am meisten in Bezug auf intuitive Erkenntniss der Alltagspsychologie an, sobald es jedoch um Erkenntnisse geht, die zum Alltagswissen kontraintuitiv sind oder Prognosen anhand einer Vielzahl von plausiblen und begründeten Alternativen getroffen werden müssen, dann sind PsychologInnen den Laien deutlich überlegen. Monigl & Neuf (2014) haben das in einer empirischen Studie nachgewiesen, und bieten dafür zwei Erklärungen an: PsychologInnen erwerben während ihres Studiums offenbar die Fertigkeit, aus einer Vielzahl von Informationen die wesentlichen und zusammengehörenden zu erkennen, d. h., ihr Wissen ist stabiler und differenzierter, und sind auch über die Voraussetzungen von besonderen Verhaltensreaktionen besser informiert als Laien. Möglicherweise ist der Vorteil der Psychologen auch mit ihrem expliziten Wissen begründbar, denn während Laien wegen der Informationsmenge beim Umgang mit Konditionalaussagen eher verunsichert oder überfordert sind, können Psychologen aus einer größeren Informationsmenge noch immer effektiv ihre Schlüsse ziehen.
Siehe dazu auch die grundlegenden Fehler, die Hobbypsychologen und Hobbypsychologinnen oft unterlaufen: Hobbypsychologie.
Je weniger man von etwas weiß, desto überzeugter ist man
Forschungen über die Psychologie des Extremismus zeigen, dass extreme Haltungen oft solche Menschen entwickeln, die glauben, dass sie komplexe Themen besser verstehen, als sie es tatsächlich tun. Untersuchungen zur gesellschaftlicher Relevanz von genetisch modifizierter Nahrung zeigen, dass über neunzig Prozent der Studienteilnehmer angeben, dass sie zumindest leichte Aversion gegen diese hegen, doch je stärker diese Aversion ist, umso mehr Wissen über das Thema schreiben sie sich selber zu und umso weniger Wissen haben sie tatsächlich. Fast identische Ergebnisse fand man in Bezug auf die Gentherapie, denn auch hier ist das Verhältnis zwischen Aversion, vermeintlichem und tatsächlichem Wissen ähnlich.
Literatur
Fernbach, P. M., Light, N., Scott, S. E., Inbar, Y. & Rozin, P. (2019). Extreme opponents of genetically modified foods know the least but think they know the most. Nature Human Behaviour, doi:10.1038/s41562-018-0520-3.
Monigl, E. & Neuf, H. (2014). Von der scheinbaren Trivialität psychologischen Wissens. Journal für Psychologie des Alltagshandelns, 6, No. 2.
Schönpflug, Wolfgang (2000). Geschichte und Systematik der Psychologie. Ein Lehrbuch für das Grundstudium. Weinheim: Beltz.
http://de.wikipedia.org/wiki/Alltagspsychologie (10-11-21)