Zum Inhalt springen

Willensfreiheit

    Du kannst t h u n was du w i l l s t:
    aber du kannst, in jedem gegebenen Augenblick deines Lebens,
    nur ein Bestimmtes w o l l e n und schlechterdings nicht Anderes,
    als dieses Eine.
    Arthur Schopenhauer (Preisschrift Über Die Freiheit Des Willens)

    Kurzfassung: Auf neuronaler Ebene gibt es nach den Erkenntnissen der Gehirnforschung keine Indizien für freie Willensentscheidungen, denn vielmehr scheint das Gehirn des Menschen ein selbstorganisiertes System zu sein, das Entscheidungen nach einem vorgegebenen, wenn auch hochkomplexen Regelwerk trifft. Eine hochgradig nichtlineare Dynamik bereitet alle mentalen Prozesse vor, einschließlich jener Inhalte, die gar nicht ins Bewusstsein kommen. Man kann heute nicht davon ausgehen, dass es im Gehirn eine zentrale Instanz gibt, die die Zukunft plant oder Entscheidungen fällt, vielmehr organisieren sich diese Prozesse im Gehirn weitgehend selbst.

    Die Fähigkeit, etwas selbst verursachen zu können, gilt als wesentliches Kriterium für einen freien Willen, doch zeigte eine Vielzahl von neuropsychologischen Experimenten, dass das Gehirn seine Entscheidungen trifft, bevor das Bewusstsein überhaupt Notiz davon nimmt. Bei Wahlentscheidungen kann man mittels Gehirnbeobachtungen bis zu sieben Sekunden vor der Entscheidung vorhersagen, wie sich jemand entscheiden wird, dass also unbewusst im Gehirn die Entscheidung vorbereitet wird, bevor diese Entscheidung das Bewusstsein erreicht. Allerdings sind diese Forschungsergebnisse kein stichhaltiges Argument gegen den freien Willen, denn es man kann gegen Handlungen bewusst ein Veto einlegen, d. h., die Handlungen wieder abbrechen. Auch bei einem Veto zeigt sich im Gehirn ein frühes Bereitschaftspotential, das anzeigt, dass die Handlung im Gehirn schon vor der bewussten Entscheidung eingeleitet wurden. Dabei ist eine Gehirnregion im dorsomedialen frontalen Cortex besonders stark aktiv, wenn eine vorbereitete Handlung wieder abgebrochen wird, und zwar stärker, als wenn sie zu Ende geführt wird. Da diese Regionen nicht zu den Arealen im Gehirn gehören, in denen Willenshandlungen normalerweise eingeleitet werden, vermutet man, dass diese Region daran beteiligt ist, zu überprüfen, ob man eine Handlung wirklich ausführen will oder nicht. Menschen besitzen offenbar ein weiteres System innerhalb des Gehirns, das die Handlungen bewertet, überwacht und anpasst. Bereitschaftspotenziale sind offensichtlich unspezifisch für die Bewegungsvorbereitung. Bewusste Willensentscheidungen unterscheiden sich aber in ihren Gehirnprozessen von automatisch ablaufenden Prozessen. Siehe dazu auch Gehirnforschung & Freiheit: Die Libet-Experimente.

    Wie Entscheidungen fallen, kann möglicherweise auch von der normalen neuronalen Aktivität beeinflusst werden. Das Gehirn hat bekanntlich einen normalen Pegel an Hintergrundgeräuschen, d. h., dass ständig über das Gehirn elektrische Aktivitätsmuster hinweg fließen, wobei man nach neueren Untersuchungen vermutet, dass diese Hintergrundgeräusche des Gehirns als Zufallseffekt möglicherweise die Richtung von Entscheidungen mindestens mitbestimmen könnten. In einer Studie (Bengson et al., 2014) konnte man an Hand von solchen Aktivitätsmustern, die eine Sekunde vor einer Entscheidung auftraten, voraussagen, wie eine einfache Entscheidung ausfallen würde. Das war zu einem Zeitpunkt, zu dem die Teilnehmer an der Studie noch nicht wissen konnten, dass sie gleich eine Entscheidung treffen würden. Wie eine Entscheidung ausfällt, könnte daher mit zufälligen Schwankungen der elektrischen Hintergrundgeräusche im Gehirn zusammenhängen. In diese Richtung deuten auch Untersuchungen von Schmidt et al. (2016). Diese sehen den Anstieg des Bereitschaftspotenzials nicht als Ursache von Entscheidung und Handlung, sondern als ein Begleitphänomen, d. h., das frühe Bereitschaftspotential bis etwa 400 bis 500 Millisekunden vor Beginn einer Handlung ergibt sich vermutlich aus sehr langsamen Hintergrundschwankungen in der Gehirnaktivität, denn schwingen diese langsamen Hirnpotentiale in den negativen Bereich, wird das Gehirn offensichtlich reaktiver: Reaktionszeiten verkürzen sich, die Wahrnehmung wird sensibler. In diesen negativen Phasen entschieden sich Probanden auch im Libet-Experiment überdurchschnittlich häufig für eine Spontanbewegung. Da die Versuche im Libet-Experiment in der Regel häufig wiederholt und gemittelt werden, addieren sich diese negativen Schwankungen auf und ergeben so erst das Bereitschaftspotential. Wertet man jeden experimentellen Durchgang einzeln aus, anstatt diese zu mitteln, zeigt sich, dass das Hirnsignal in einem Drittel der Durchgänge positiv oder neutral ist statt wie erwartet negativ. Das widerspricht der Annahme, dass der Anstieg eine direkte Vorbereitung der Handlung ist. Man weiß aus den nun Experimenten auch, dass ein negatives Bereitschaftspotenzial Entscheidungen erleichtert, sie aber nicht auslöst, sondern dies ist nur einer von vielen Einflussfaktoren.

    Die neurobiologische Forschung zeigt daher eindeutig, dass man das Bereitschaftspotenzial auch messen kann, wenn es gar keine Bewegung gibt, denn man kann eine Entscheidung auch zurückziehen, nachdem man sie getroffen hat. Neue Erkenntnisse deuten darauf hin, dass das gemessene Potenzial eher etwas mit der inneren Zeitmessung zu tun hat oder von anderen Faktoren bestimmt wird. Park et al. (2020) haben Probanden an ein Elektroenzephalogramm angeschlossen, während diese auf einen Knopf drückten, wobei gleichzeitig Herzschlag und Atemrhythmus erfasst wurden. Dabei zeigte sich, das das Drücken des Knopfes mit der Atmung zusammenhing. Entschieden die Probanden selbst, wann sie den Knopf drücken wollten, geschah dies meist am Ende des Ausatmens, also kurz vor dem erneuten Einatmen. Dieser Zusammenhang verschwand, wenn der Zeitpunkt der Bewegung durch ein Signal vorgegeben wurde und nicht selbstbestimmt war. Auch das gemessene Bereitschaftspotenzial war unterschiedlich stark in Abhängigkeit von den Phasen der Atmung. Keinen Zusammenhang gab es hingegen mit dem Rhythmus des Herzschlags. Man vermutet daher, dass das Bereitschaftspotenzial eher Änderungen in einer Hintergrundaktivität der Gehirnzellen darstellt, die von anderen Körperfunktionen abhängig ist. Auch könnte es sich um eine Konkurrenz verschiedener Bewegungsprogramme handeln, denn während der Steuerung der Atemmuskulatur wird die Auslösung anderer Bewegungen verhindert. Das Bereitschaftspotenzial wäre demnach kein vom Gehirn vorgegebener Auslöser einer Handlung, sondern gleicht nur das Verhalten dem Rhythmus des Körpers an.

    *** Hier KLICKEN: Das BUCH dazu! *** Der in Diskussionen heftig bemühte absolut freie Wille ist nach Durchsicht psychologischer Forschung insofern eine Illusion, da im Alltag willentliche Entscheidungen stets von Vorlieben, Gewohnheiten, Erfahrungen, situativen Zwängen oder zwingenden Gründen imprägniert sind. Das Konstrukt „freier Wille“ dient dem Menschen praktisch nicht als Grundlage von Entscheidungen, vielmehr dienen seine Wahrnehmungen, Überzeugungen und Wünsche  dazu, das eigene Handeln zu beschreiben, zu erklären, zu rechtfertigen und zu kritisieren, vermutlich letztendlich auch dazu, Handlungen überhaupt vorauszusagen.

    Das menschliche Handeln ist ständig begleitet von Kommentaren, und zwar von eigenen und von denen Anderer. Wenn Menschen im Vorhinein mitteilen, was sie wollen und die Aussage dann durch die Ausführung bewahrheiten ist dies lediglich eine begleitende Selbstkommentierung, die dazu dient, anderen verständlich zu machen, warum man Handlungen tätigt, welche Mittel man dazu verwendet und welche Ziele man verfolgt. Ohne Selbstkommentierung dieser Art wäre kein Zusammenleben in Gesellschaft möglich und auch die Entwicklung von Kulturen wäre gefährdet gewesen.

    Eine solche erlernte Selbstkommentierung ist offensichtlich eine erfolgreiche Strategie der Evolution, die im Zusammenleben in der Gruppe viele Vorteile bringt. Menschen begannen schon sehr früh, ihr eigenes Verhalten vorbereitend, begleitend oder nachträglich zu kommentieren, zu Beginn wohl noch laut, später genügte es, dass sich die Menschen still im Inneren kommentierten und ihr Verhalten bewusst machten. Sie übernahmen selbst die Rolle der äußeren Beobachter, die Verhalten kommentierten und dadurch regulierten und bewerteten. Auch die Freiheit des Willens ist solch eine Form der Selbstkommentierung, denn wenn ein Mensch sich sagt „Wenn ich wollte, könnte ich auch anders handeln, als ich tatsächlich gehandelt habe“, dann bedeutet das nur, dass man von den Anderen nicht daran gehindert werden würde. Gleichzeitig wird dadurch genau das gezeigte Verhalten gerechtfertigt und gestärkt, das man tatsächlich ausführt, was für die Betreffenden bedeutet, dass ihr Verhalten von Handlungsvorschlägen beeinflusst wurde.

    Diese Selbstkommentare lösen aber Verhalten nicht aus, sondern sie identifizieren und beschreiben die Handlung nur als solche, wobei ein konkretes Beispiel dafür eben der freie Wille ist. Menschen haben in der Regel längst beschlossen, was sie tun werden, oder die Handlung ist sogar bereits in Gange, wenn sie sagen, dass sie das jetzt tun wollen. Das bedeutet aber nichts anderen, dass Menschen ihr Tun gleichzeitig oder nachträglich kommentieren, was einen funktionalen Sinn und Nutzen besitzt, da sie unerlässliche Informationsquellen über das kommende oder bereits begonnene Handeln liefern, ohne das Menschen ihr Verhalten nicht in den sozialen Kontext einbinden könnten.

    Nach Wolfgang Prinz (2021), früherer Direktor des Max-Planck-Instituts für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig, ist jede Äußerung von Psychologen zum Thema des freien Willen so notwendig wie der Vortrag eines Zoologen zu Einhörnern, denn aus psychologischer Perspektive ist die Freiheit des Willens zu leugnen. Das intuitive Erleben subjektiver Freiheit lässt sich allerdings aus der Rolle des mentalen Selbst heraus erklären, denn zwar hat der Mensch zwar von Natur aus keinen freien Willen, kann ihn sich aber durch Zuschreibungen zu eigen machen, was aus den damit einhergehenden positiven sozialen Implikationen wie etwa Verantwortlichkeit zu begrüßen ist.

    Willensfreiheit im traditionell definierten Sinn von „auch-anders-handeln-können“, gibt es für die Wissenschaft daher nicht. Freier Wille, als solcher, wird vorgetäuscht um eigene Handlungen zu kommentieren und zu rechtfertigen. Dies ist unerlässlich für das Zusammenleben der Menschen in einer Gesellschaft und ermöglicht erst das Entstehen einer Kultur (Tetens 2004, S 178 ff).

    Literatur

    Jesse J. Bengson, Todd A. Kelley, Xiaoke Zhang, Jane-Ling Wang, & George R. Mangun (2014). Spontaneous Neural Fluctuations Predict Decisions to Attend.  Journal of Cognitive Neuroscience. doi:10.1162/jocn_a_00650.
    Park, Hyeong-Dong, Barnoud, Coline, Trang, Henri, Kannape, Oliver A., Schaller, Karl & Blanke, Olaf (2020). Breathing is coupled with voluntary action and the cortical readiness potential. Nature Communications, 11, doi:10.1038/s41467-019-13967-9.
    Prinz, Wolfgang (2021). Bewusstsein erklären. Berlin: Suhrkamp.
    Schmidt, S., Jo, H.-G., Wittmann, M. & Hinterberger, T. (2016). ‘Catching the Waves’ − Slow Cortical Potentials as Moderator of Voluntary Action. Neuroscience & Biobehavioral Reviews, 68, 639–650.
    Tetens, Holm (2004). Willensfreiheit als erlernte Selbstkommentierung. Psychologische Rundschau, 55, 175-185.
    https://www.derstandard.de/story/2000114968495/freier-wille-unser-gehirn-bestimmt-nicht-fuer-sich-allein (20-02-29)


    Impressum ::: Datenschutzerklärung ::: Nachricht ::: © Werner Stangl :::

    2 Gedanken zu „Willensfreiheit“

    1. Immerhin halte ich den Ansatz, das Konstrukt „Willensfreiheit“ im psychologischen Sinn als erlernt bzw. als Attribuierung an ein abstraktes Selbst aufzufassen, für einen diskussionswürdigen Ansatz, wobei auch die Bindung an den sozialen Kontext – ohne den ja das Konstrukt Wille obsolet wäre – eine interessante Facette darstellt. Tetens Behauptungen sind IMHO überhaupt nicht spekulativ, sondern gut in die psychologische Theorienlandschaft eingebunden.

    2. Die vorstehenden Ausführungen treffen m.W. nicht einmal den umgangsprachlichen Sinn dessen, was mit Freiwilligkeit, Willensfreiheit oder „freier Wille“ gemeint ist; von „absoluter“ Freiheit ist da nirgendwo die Rede, schon gar nicht im juristischen Bereich oder gar in psychologischen Zusammenhängen.

      Reale Willensbildung besteht mindestens in einer Entscheidung, so dass Willensfreiheit praktisch identisch ist mit Entscheidungsfreiheit. Entscheidungen können willkürlich getroffen, aber auch mehr oder weniger aufwändig vorbereitet werden. Einzelheiten und Verfahren können hier derart zahlreich sein, dass die Willens- oder Volitionspsychologie ein eigenes Fachgebiet innerhalb der Psychologie darstellt. Von ihr scheint der Autor der obigen und auch in anderer Hinsicht teilweise hochspekultativen Behauptungen keine Kenntnis genommen zu haben.

    Schreibe einen Kommentar

    Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert