Aussagepsychologie

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Die Aussagepsychologie ist jenes Teilgebiet der forensischen Psychologie, das sich mit der Entstehung, dem Inhalt, der Qualität und der Glaubhaftigkeit menschlicher Aussagen befasst, insbesondere im Kontext rechtlicher Entscheidungsprozesse. Im Mittelpunkt steht die wissenschaftlich fundierte Untersuchung der Frage, ob eine Aussage auf tatsächlich Erlebtem beruht oder ob sie ganz oder teilweise erfunden, beeinflusst oder verfälscht ist. Die Aussagepsychologie beschäftigt sich dabei nicht mit der moralischen Bewertung einer Person, sondern mit den psychologischen Bedingungen, unter denen Aussagen zustande kommen, erinnert, sprachlich formuliert und wiedergegeben werden. Ein klassisches Beispiel der Aussagepsychologie sind Zeugenaussagen vor Gericht (s. u.), bei denen die Glaubwürdigkeit weniger durch juristische Fakten als durch subjektive Faktoren wie emotionale Authentizität oder Detailreichtum bestimmt werden, was zu Fehleinschätzungen führen kann.

Zentral ist die Erkenntnis, dass menschliche Erinnerung kein statischer Speicher ist, sondern ein konstruktiver, dynamischer Prozess, wobei Wahrnehmung, Gedächtnis, Emotion, Motivation und soziale Einflüsse zusammen wirken und prägen, wie ein Ereignis erinnert und berichtet wird. Eine Aussage kann daher subjektiv ehrlich sein und dennoch objektiv unzutreffend. Die Aussagepsychologie untersucht unter anderem Wahrnehmungsbedingungen (z. B. Stress, Dunkelheit, Alkoholeinfluss), Gedächtnisprozesse (Vergessen, Rekonstruktion, Suggestibilität), sprachliche Ausdrucksformen sowie situative Faktoren wie Befragungsstil oder Erwartungshaltungen von Vernehmenden.

Ein klassisches Anwendungsfeld ist die Beurteilung von Zeugenaussagen vor Gericht, insbesondere in Fällen mit Aussage-gegen-Aussage-Konstellationen oder bei kindlichen Zeugen. Hier wird häufig die sogenannte Aussageanalyse eingesetzt, die auf der Annahme beruht, dass erlebnisbasierte Aussagen andere qualitative Merkmale aufweisen als erfundene. Zu diesen Merkmalen zählen etwa eine lebendige, detailreiche Schilderung mit Neben- und Randdetails, eine logische, aber nicht schematische Struktur, das Einräumen von Erinnerungslücken oder Unsicherheiten sowie die Einbettung des Geschehens in einen realistischen Kontext. Eine erfundene Aussage hingegen ist oft stereotyp, stark zielgerichtet, übermäßig logisch oder emotional überzeichnet.

Beispiel: Ein Kind berichtet von einem angeblichen Vorfall und schildert dabei nicht nur das Kerngeschehen, sondern auch nebensächliche Details wie Geräusche, Gerüche oder zeitliche Unterbrechungen, korrigiert sich selbst und äußert Unsicherheit über einzelne Aspekte. Aussagepsychologisch kann dies – bei Vorliegen weiterer Kriterien – als Hinweis auf einen erlebnisbasierten Bericht gewertet werden. Umgekehrt wäre eine sehr glatte, widerspruchsfreie und ausschließlich auf den Tatvorwurf fokussierte Aussage nicht automatisch glaubhaft, sondern bedarf einer besonders kritischen Prüfung.

Wichtig ist, dass Aussagepsychologie keine mechanische „Lügendetektion“ darstellt, denn es existiert kein einzelnes Merkmal, das zweifelsfrei Wahrheit oder Unwahrheit belegt. Stattdessen erfolgt stets eine Gesamtabwägung unter Berücksichtigung der individuellen Person, der Aussageentstehung, der Befragungssituation und alternativer Erklärungen. Die moderne Aussagepsychologie betont zudem die Grenzen der Beurteilbarkeit und warnt vor Überinterpretationen, insbesondere bei suggestiven Befragungen oder wiederholten Vernehmungen.

Darüber hinaus findet Aussagepsychologie Anwendung außerhalb des Strafrechts, etwa im Asylverfahren, im familiengerichtlichen Kontext (z. B. bei Sorgerechtsfragen) oder in der historischen Forschung, wenn Zeitzeugenberichte bewertet werden. In all diesen Bereichen trägt sie dazu bei, Aussagen nicht intuitiv, sondern methodisch reflektiert und empirisch abgesichert zu beurteilen.

Literatur

Fiedler, K., & Walther, E. (2004). Psychologie der Zeugenaussage. Beltz.
Stangl, W. (2007, 14. Dezember). Was ist Glaubwürdigkeit? arbeitsblätter news.
https://arbeitsblaetter-news.stangl-taller.at/was-ist-glaubwuerdigkeit/.
Steller, M., & Köhnken, G. (1989). Criteria-based content analysis. In D. C. Raskin (Ed.), Psychological methods in criminal investigation and evidence (pp. 217–245). Springer.
Undeutsch, U. (1967). Beurteilung der Glaubhaftigkeit von Aussagen. In U. Undeutsch (Hrsg.), Handbuch der Psychologie (Bd. 11, S. 26–181). Hogrefe.
Volbert, R., & Steller, M. (2014). Aussagepsychologische Begutachtung (2. Aufl.). Hogrefe.


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