Systemische Pädagogik bezeichnet einen Ansatz, der Bildungs- und Erziehungsprozesse nicht auf einzelne Personen reduziert, sondern sie als Teil komplexer sozialer Systeme versteht. Im Mittelpunkt steht die Annahme, dass menschliches Verhalten, Denken und Fühlen stets im Kontext der Beziehungen und Strukturen entsteht, in denen Menschen leben. Lernende werden daher nicht als isolierte Individuen betrachtet, sondern als aktive Bestandteile von Familien, Klassen, Peergroups, Institutionen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Pädagogisches Handeln richtet sich folglich weniger auf direkte Verhaltensänderung, sondern stärker auf die Gestaltung der Interaktionsmuster und Kommunikationsformen, die das Verhalten beeinflussen. In der Praxis bedeutet dies, dass Lehr- und Fachkräfte nach Ressourcen, Stärken und Lösungsmöglichkeiten im System suchen, statt Defizite im Individuum zu verorten. So kann beispielsweise ein Schüler, der wiederholt störend auftritt, nicht nur anhand seines eigenen Verhaltens beurteilt werden; vielmehr wird analysiert, welche Rolle die Klassendynamik, die Erwartungen der Lehrperson, familiäre Belastungen oder institutionelle Regeln spielen. Systemische Pädagogik legt Wert auf wertschätzende Kommunikation und die Anerkennung unterschiedlicher Perspektiven. Interventionen zielen darauf ab, alternative Sichtweisen zu eröffnen und Muster zu verändern, etwa durch zirkuläre Fragen, lösungsorientierte Beratung oder das Sichtbarmachen von Kommunikationsabläufen. Ein weiteres Beispiel ist die Elternarbeit: Statt Eltern als „Problemverursacher“ einzustufen, wird versucht, sie als Partner zu gewinnen, indem man ihre Sichtweise erkundet, gemeinsame Ziele herausarbeitet und kleine, realisierbare Schritte vereinbart. Auch im inklusiven Unterricht findet der systemische Ansatz Anwendung, indem multiprofessionelle Teams ihre Wahrnehmungen teilen und individuelle Förderpläne nicht eindimensional, sondern im Zusammenspiel von Schule, Familie und Umfeld entwickeln. Insgesamt versteht sich systemische Pädagogik weniger als geschlossenes Programm, sondern als reflexive Haltung: Lehrkräfte sollen ihre eigene Rolle im System kritisch betrachten, Wechselwirkungen wahrnehmen und pädagogische Prozesse flexibel, kooperativ und ressourcenorientiert gestalten.
Literatur
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