Reifikation

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Reifikation bezeichnet in der Psychologie und den Sozialwissenschaften den Prozess, bei dem abstrakte Konstrukte, theoretische Annahmen oder statistische Zusammenhänge irrtümlich als reale, dinghafte Entitäten behandelt werden. Psychologische Konzepte wirken im Diskurs oft wie greifbare Eigenschaften, obwohl sie nur Beschreibungsmodelle sind. Begriffe wie Big Five, Resilienz, Empathie oder Diagnosen wie Depression und ADHS existieren nicht als feste „Dinge“, sondern ordnen Verhalten und Erleben, um es verständlich und behandelbar zu machen. Wenn man solche Kategorien verdinglicht, entsteht der Eindruck einer inneren Entität, was Probleme sogar verstärken kann. Persönlichkeit lässt sich je nach Modell unterschiedlich einteilen; entscheidend ist, dass Menschen vor allem einschätzen, wie kompetent und wie wohlwollend andere sind – zwei Grunddimensionen, die sich kulturübergreifend bewähren.

Der Begriff beschreibt demnach also eine Denkfehlerstruktur, bei der aus Beschreibungen menschlichen Verhaltens scheinbar eigenständige Objekte gemacht werden, die dann so wirken, als existierten sie unabhängig von den Beobachtenden.

Reifikation tritt besonders dort auf, wo psychologische Konzepte wie Intelligenz, Persönlichkeit oder Motivation benutzt werden, um Verhalten zu erklären, obwohl diese Begriffe selbst lediglich Modelle oder theoretische Konstrukte sind. Wenn beispielsweise gesagt wird: „Die Persönlichkeit verursacht sein Verhalten“, wird ein theoretisches Modell so behandelt, als sei es ein reales inneres Objekt mit kausaler Kraft. Ein klassisches Beispiel findet sich in der Intelligenzforschung: Intelligenz ist ein statistisches Konstrukt, das aus der Korrelation verschiedener kognitiver Leistungen abgeleitet wird. Es ist kein „Ding“ im Gehirn, das man direkt beobachten könnte. Wenn jedoch das Testergebnis als „Intelligenz an sich“ interpretiert wird, statt als Messwert einer definierten Fähigkeit, liegt Reifikation vor.

Ähnlich verhält es sich bei Diagnosen in der klinischen Psychologie. Eine Depression ist kein Objekt, das eine Person „in sich trägt“, sondern eine Klassifikation bestimmter Symptome und Verhaltensmuster. Wenn man dennoch sagt „Die Depression zwingt ihn dazu“, wird das diagnostische Etikett wie ein handelndes Wesen reifiziert. Auch in der Entwicklungspsychologie ist Reifikation problematisch: Begriffe wie „das Gedächtnis“ oder „die Aufmerksamkeit“ fassen komplexe Netzwerke von Prozessen zusammen. Werden diese Begriffe jedoch so verwendet, als seien es konkrete Speicher oder Schalter im Kopf, führt dies zu vereinfachenden und irreführenden Schlussfolgerungen.

Reifikation gilt daher als erkenntnistheoretischer Fehler, weil sie die Trennlinie zwischen Modell und Wirklichkeit verwischt und damit theoretische Diskussionen wie auch empirische Forschung verzerrt. Sie kann dazu führen, dass Konstrukte unkritisch weitergegeben werden, obwohl ihre theoretische Grundlage oder Messbarkeit fraglich ist. Wissenschaftlich reflektiertes Arbeiten erfordert daher, stets zu beachten, dass psychologische Begriffe konstruierte Werkzeuge sind, die Phänomene beschreiben, aber keine eigenständigen Entitäten darstellen.

Literatur

Berger, P. L., & Luckmann, T. (1966). The social construction of reality. Anchor Books.
Borsboom, D. (2008). Psychometric perspectives on diagnostic systems. Journal of Clinical Psychology, 64(9), 1089–1108.
Gould, S. J. (1996). The mismeasure of man. W. W. Norton.
Lilienfeld, S. O., Lynn, S. J., Namy, L. L., & Woolf, N. J. (2015). Psychology: From inquiry to understanding. Pearson.


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