Shifting-Baseline-Syndrom

Anzeige

Das Shifting-Baseline-Syndrom bezeichnet in der Psychologie – in enger Anlehnung an den ursprünglich aus der Umwelt- und Fischereiforschung stammenden Begriff – die kognitive Tendenz von Menschen, ihren Wahrnehmungs- und Bewertungsmaßstab für einen bestimmten Zustand kontinuierlich an veränderte Realitäten anzupassen, ohne diese Veränderungen bewusst zu registrieren. Dadurch verschieben sich Referenzpunkte (Baselines) von Generation zu Generation oder sogar innerhalb einer individuellen Lebensspanne, sodass frühere Zustände zunehmend als „nicht mehr vorstellbar“ oder „irrelevant“ erscheinen. Psychologisch lässt sich das Phänomen als eine Form der Gedächtnisverzerrung, der Adaptation und des normativen Driftens beschreiben: Menschen neigen dazu, sich an neue Umstände zu gewöhnen, die zu Beginn noch als problematisch oder außergewöhnlich wahrgenommen wurden, bis sie schließlich als normal gelten.

Typische Beispiele zeigen sich in Bereichen wie Umweltwahrnehmung, sozialer Normenwandel oder individueller Lebensgestaltung. So kann etwa der Eindruck entstehen, städtische Luftqualität oder Artenvielfalt sei „immer schon“ auf dem gegenwärtigen niedrigen Niveau gewesen, weil jüngere Menschen frühere, deutlich bessere Zustände nicht erlebt haben. Ähnlich kann im sozialen Bereich eine fortschreitende Zunahme von Stress, Arbeitsdruck oder digitaler Überwachung als alltäglich gelten, weil sich jede Generation an den jeweils geltenden Status quo anpasst. Auch im individuellen Erleben zeigt sich das Syndrom: Wer über Jahre hinweg steigenden Lärm, zunehmende Bildschirmzeit oder intensiveren Nachrichtenkonsum erlebt, bewertet die fortlaufende Verschlechterung häufig nicht mehr bewusst, sondern verschiebt die persönliche Norm schrittweise mit. Das macht das Shifting-Baseline-Syndrom zu einem relevanten Konzept, um zu verstehen, wie subjektive Normalitätsvorstellungen entstehen und warum gesellschaftliche oder ökologische Veränderungen oft erst spät als kritisch wahrgenommen werden.

Allerdings gibt es nicht nur Veränderung in die negative Richtung, sondern auch positive Beispiele. Die Qualität unserer Fließgewässer hat sich seit den 70iger Jahren stark verbessert. Kaum ein heute 20-Jähriger kann sich vorstellen, dass Voralpenflüsse zu dieser Zeit biologisch fast tot waren. Von grauen Schaumkronen bedeckt, die sich oft meterhoch aufgetürmt haben, war selbst die Donau so verschmutzt, dass man nicht darin schwimmen wollte und dies auch nicht ratsam war. Überlebende Fische aus diesen Gewässern hätte man höchstens in kleinen Mengen essen können. Ein weiteres Beispiel ist das Rauchen. das in geschlossenen Räumen noch in den 70er, 80er, 90er Jahren völlig normal war. Heute können sich das selbst Raucher nicht mehr vorstellen.

In der psychologischen Forschung wird das Phänomen mit Prozessen wie kognitiver Anpassung, habituationsbedingter Sensibilitätsveränderung und sozialer Vergleichsdynamik in Verbindung gebracht. Menschen orientieren sich stark an aktuellen Vergleichsgruppen, eigenen jüngeren Erfahrungen und dominanten kulturellen Narrativen, was historische Maßstäbe in den Hintergrund treten lässt. Dadurch kann das Syndrom politische Entscheidungsprozesse, Risikowahrnehmung und gesellschaftliche Zukunftserwartungen beeinflussen. Insbesondere in der Umweltpsychologie gilt das Shifting-Baseline-Syndrom inzwischen als Schlüsselkonzept, um die Diskrepanz zwischen objektiven Veränderungen und subjektiver Wahrnehmung zu erklären.

Literatur

Pauly, D. (1995). Anecdotes and the shifting baseline syndrome of fisheries. Trends in Ecology & Evolution, 10(10), 430.
Soga, M., & Gaston, K. J. (2018). Shifting baseline syndrome: causes, consequences, and implications. Frontiers in Ecology and the Environment, 16(4), 222–230.
Wolters, E. A., Steel, B. S., & Lach, D. (2012). Habituation and the shifting baseline syndrome in natural resource perceptions. Environmental Management, 49(5), 1095–1104.


Impressum ::: Datenschutzerklärung ::: Nachricht ::: © Werner Stangl :::

Schreibe einen Kommentar