Matreszenz

Matreszenz beschreibt die tiefgreifenden körperlichen, psychischen, sozialen und neurologischen Veränderungen, die eine Frau durchläuft, wenn sie Mutter wird. Der Begriff wurde erstmals 1973 von der medizinischen Anthropologin Dana Raphael geprägt, um den umfassenden Prozess der Identitätsbildung und Persönlichkeitsveränderung von Frauen im Übergang zur Mutterschaft zu beschreiben (Raphael, 1973). Matreszenz beginnt nicht erst mit der Geburt eines Kindes, sondern häufig bereits in der Schwangerschaft und kann sich weit über die frühe Phase der Mutterschaft hinaus erstrecken. Dabei handelt es sich nicht um einen plötzlichen Wandel, sondern um ein schrittweises Hineinwachsen in eine neue Rolle – ein dynamischer und oft ambivalenter Prozess. Die sprachliche Nähe zur Adoleszenz ist dabei nicht zufällig, sondern weist auf strukturelle Gemeinsamkeiten hin: Beide Entwicklungsphasen sind geprägt von intensiven biologischen und psychischen Reorganisationsprozessen. In der Adoleszenz wie auch in der Matreszenz kommt es zu einer tiefgreifenden Umstrukturierung neuronaler Netzwerke. Neurowissenschaftliche Studien zeigen, dass sich das Gehirn werdender Mütter messbar verändert: Synapsen werden neu verknüpft, nicht mehr gebrauchte Verbindungen reduziert – ein Vorgang, der als neuronales „Pruning“ bekannt ist (Hoekzema et al., 2017). Diese Veränderungen lassen sich als eine Art „Feintuning“ des Gehirns verstehen – ein intensives, mitunter herausforderndes Lernprogramm, vergleichbar mit einem Trainingslager, das auf die Bedürfnisse des Mutterseins vorbereitet.

Aus psychologischer Sicht stellt Matreszenz eine Übergangsphase dar, die von emotionaler Ambivalenz, Identitätswandel und sozialen Umstellungen geprägt ist. Frauen erleben in dieser Zeit oft widersprüchliche Gefühle: tiefe Liebe und Erschöpfung, Bindung und den Wunsch nach Selbstbestimmung. Diese inneren Spannungen sind normal, werden gesellschaftlich jedoch häufig tabuisiert oder pathologisiert (Sacks, 2020). Es ist daher zentral, Matreszenz nicht als Symptom oder Störung zu deuten, sondern als normalen, wenn auch krisenanfälligen Reifungsprozess. Ein wichtiger Aspekt der Matreszenz ist die psychische Integration der neuen Identität als Mutter. Frauen müssen ihr Selbstbild neu ausbalancieren – das frühere Selbst, das berufliche Selbst, das partnerschaftliche Selbst und nun das mütterliche Selbst werden neu organisiert (Nelson, 2003). Dieser Prozess kann mit Gefühlen der Verunsicherung, Überforderung oder auch Sinnhaftigkeit und Selbstwirksamkeit verbunden sein. Wird dieser Übergang nicht ausreichend gesellschaftlich begleitet oder psychologisch reflektiert, können psychische Belastungen wie postpartale Depressionen oder Angststörungen entstehen (Slade et al., 2009). Matreszenz ernst zu nehmen bedeutet daher auch, den psychischen Herausforderungen dieser Zeit mit Verständnis und adäquater Unterstützung zu begegnen.

Insgesamt betrachtet ist aber Matreszenz eine normale, aber tiefgreifende Entwicklungsphase, die körperliche, neurologische und psychologische Veränderungen vereint. Sie fordert eine neue Ausrichtung des Selbst und der sozialen Beziehungen und verdient – ähnlich wie die Adoleszenz – gesellschaftliche Anerkennung und psychologische Aufmerksamkeit.

Literatur

Hoekzema, E., Barba-Müller, E., Pozzobon, C., Picado, M., Lucco, F., García-García, D. … & Vilarroya, O. (2017). Pregnancy leads to long-lasting changes in human brain structure. Nature Neuroscience, 20, 287–296.
Nelson, A. M. (2003). Transition to motherhood. Journal of Obstetric, Gynecologic & Neonatal Nursing, 32, 465–477.
Raphael, D. (1973). The Tender Gift: Breastfeeding. New York: Schocken Books.
Sacks, A. (2020). What No One Tells You: A Guide to Your Emotions from Pregnancy to Motherhood. Simon & Schuster.
Slade, A., Grienenberger, J., Bernbach, E., Levy, D. & Locker, A. (2009). Maternal reflective functioning, attachment, and the transmission gap: A preliminary study. Attachment & Human Development, 11, 269–286.


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