Semiotik, auch Semiologie und manchmal auch als Zeichentheorie bezeichnet, ist jene Wissenschaft, die sich mit Zeichensystemen aller Art befasst, etwa Schriften, Bilderschriften, Gesten, Formeln, Sprachen, Verkehrszeichen usw. Sie findet vor allem in den verschiedenen Geistes-, Kultur-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften ihre Anwendung. Zeichen, wie Bilder, Wörter, Gesten und Gerüche vermitteln Informationen aller Art, wobei in Zeichenprozessen Zeichen konstituiert, produziert, in Umlauf gebracht und rezipiert werden. Ohne diesen Prozess der Semiose wären Kognition, Kommunikation und Kultur nicht möglich. In der abendländischen Kulturgeschichte hat die Reflexion über Zeichen und Zeichenprozesse eine lange Tradition , doch auch in anderen Kulturen wurde schon früh über die symbolische Verfasstheit von menschlicher Kultur nachgedacht. Manche sind sogar der Ansicht, dass semiotischen Fragestellungen älter als alle wissenschaftlichen Einzeldisziplinen sind, und daher geeignet wären, über Disziplingrenzen hinaus Gemeinsamkeiten zu suchen und Unterschiede vergleichend herauszuarbeiten, demnach eine Metaperspektive einnehmen kann. Als Grundlagen- und Metawissenschaft geht die Semiotik somit der Frage nach der Zeichenhaftigkeit kultureller und natürlicher Phänomene nach, und bietet dadurch unterschiedlichen Disziplinen und Praxisfeldern einen interdisziplinäres und interkultureller Ansatz an.
Die Semiotik fragt zunächst ganz allgemein danach, was alles Zeichen sein kann, sucht nach den Ordnungen und Strukturen von Zeichensystemen, den verschiedenen Funktionen und Gebrauchsweisen von Zeichen, nach ihrer Materialität, Medialität, Performativität und Ästhetik sowie nach den Beziehungen zwischen verschiedenen Zeichensystemen und Medien. Dabei beschäftigt sich die Semiotik keineswegs nur mit menschlicher Kommunikation und Kultur, sondern auch mit Wahrnehmungs-, Orientierungs- und Interaktionsverhalten bei Tieren und Pflanzen sowie mit Signalprozessen im Inneren von Organismen oder Informationsverarbeitung in Maschinen.
Als Begründer der allgemeinen Semiotik gilt Charles Sanders Peirce, der von der These ausgeht, dass alles Denken notwendigerweise in Zeichen erfolgt, wobei Zeichen aber nicht für materielle oder auch imaginäre Objekte an und für sich stehen, sondern diese entstehen erst im Zuge eines Interpretationsprozesses. Es ergibt sich daher eine triadische Relation, die Zeichen, Objekt und Interpretant umfasst. Unter Interpretant oder Bedeutung eines Zeichens wird die Wirkung des Zeichens im Bewusstsein eines Interpreten verstanden, wobei von einer höheren Ebene aus betrachtet, der Interpretant selbst wiederum als Zeichen mit einem weiteren Interpretanten steht, aus dem sich potentiell ein ad infinitum fortgesetzter, semiotischer Prozess ergibt (vergleichbar dem allgemeinen unendlichen Regress in der Wissenschaftstheorie des Induktivismus).
Das Interesse an der Semiotik als einer Wissenschaft, die vorwiegend in der Linguistik entwickelte Verfahren nach und nach auf andere Gebiete der Kultur wie Literatur, Film, Bildende Kunst, Musik, Mode oder Reklame angewendet hat, ist seit Ende der fünfziger Jahre im Umfeld des französischen Strukturalismus entstanden, um mit Hilfe einer semiotischen Analyse Alternativen zum einer auf die Sozialstruktur fixierten Sozialwissenschaft zu formulieren. Ausdrücklich forderten Wissenschaftler unterschiedlicher Disziplinen wie Claude Lévi-Strauss, Jacques Lacan, Roland Barthes, Louis Althusser und vor allem Michel Foucault die Anerkennung des Symbolischen als eigener Wirklichkeitsbereich und die sukzessive Ausdehnung strukturalistischer linguistischer Analyseverfahren auf alle möglichen Kulturphänomene, wobei es vor allem um den Bruchs mit dem damals vorherrschenden und marxistisch geprägten Ökonomismus ging, da man den industriekapitalistischen Gesellschaften mit ökonomistischen Denkmodellen offenkundig nicht beikommen konnte. Vor allem erkannte man in den industriell produzierten Zeichenwelten in den neuen Medien eine Ausübung von subtiler Macht, die nicht so sehr unterdrückte, sondern eher verlockte und sogar produktiv wirkte, indem sie die Träume und Wünsche der Menschen anstachelte, einfing und ins Verwertbare umlenkte, soziale Widersprüche nivellierte und nicht zuletzt die narzisstische Illusion einer individuellen Einzigartigkeit förderte. Diese Macht hatte sich vor allem in der populären Kultur eingerichtet, jenem Konglomerat aus Genres, Medien, Mythen und Bildern, aus Musik, Kleidung, Filmen und Ideologien, das sich den Vorstellungen der Menschen einprägte, ihre Wirklichkeitswahrnehmung bestimmte und auch dadurch sozial wirksam wurde, sodass es zur Konstruktion von Gemeinschaften, von Zugehörigkeit und Gleichheit, aber auch von Differenz und Ungleichheit beitrug. Umberto Eco hat in den letzten Jahrzehnten des vorigen Jahrtausends die Semiotik zu einer allgemeinen Kulturwissenschaft weiterentwickelt, da er von der Prämisse ausgeht, dass Kultur ehe als Kommunikation untersucht werden muss, und dass sie unter dieser Prämisse vollständig unter semiotischen Gesichtspunkten untersucht werden kann.
Für die Psychologie und Soziologie wesentlich ist dabei die Semiotik im Symbolischen Interaktionismus von George Herbert Mead, der sich sowohl am Forschungsprogramm des Behaviorismus als auch am Pragmatismus orientierte, wobei er eine verhaltenstheoretische Grundlegung der Semiotik liefert und die Bedeutung der symbolischen Interaktion für die Konstitution des Selbst und der Gesellschaft aufzeigt. Im Anschluss an die Behavioristen geht er davon aus, dass bereits Tiere gestisch interagieren, etwa durch Laute und Gebärden wie Drohhaltungen oder Unterwerfungsgesten. Gesten sind dabei jener Teil einer gesellschaftlichen Handlung, die als Stimulus für andere in die gleiche gesellschaftliche Handlung involvierte Lebewesen wirkt. Im Gegensatz zum Tier nimmt der Mensch aber als animal symbolicum eine besondere Rolle ein, denn anders als tierische Gesten haben seine Gesten eine Bedeutung bzw. Signifikanz. Im Unterschied zu nicht-signifikanten Gesten, die im Rahmen eines gesellschaftlichen Prozesses als Reize quasi automatisch Reaktionen des anderen auslösen und derart eine spontane gegenseitige Anpassung des Verhaltens organisieren, drücken signifikante Gesten eine dahinterstehende Idee aus. Ihre Signifikanz ist dabei davon abhängig, inwieweit es den Akteuren gelingt, den gesamten Handlungsverlauf sich permanent geistig zu vergegenwärtigen. Bei einer Interaktion mit nicht-signifikanten Gesten erfährt nämlich jeder Handlungspartner die Handlungen des andern getrennt von den seinen, was sich erst dann ändert, wenn es gelingt, zwei aufeinander folgende Handlungen verschiedener Menschen als Phasen derselben Handlung zu interpretieren. Wenn jemand die Handlung seines Gegenüber als Fortsetzung seiner eigenen Handlung begreift, für den wird seine eigene Handlung als vorige Phase einer Gemeinschaftshandlung erkennbar, sodass er von der späteren Phase dieser Gemeinschaftshandlung auf seine eigene frühere Phase zurückschließen und diese als Reaktion auf jene verstehen kann. Durch die Reaktion erhält also auch für ihn die eigene Geste erst einen Sinn, d. h., sie wird zur signifikanten Geste. Signifikante Gesten sind somit vom Sender selbst als solche erkannte Gesten, denn der Sender wird hier zum Rezipienten seines eigenen Zeichens. Bewusste bzw. signifikante Kommunikation beginnt, wenn der Einzelne in der Lage ist, sich die Reaktionen anderer auf sein eigenes Handeln im Ablauf der Interaktion kognitiv zu vergegenwärtigen, sie zu antizipieren, sodass er oder sie sich immer auch mit den Augen des oder der anderen sieht.
Literatur
Alkemeyer, T. (2000). Zeichen, Körper und Bewegung. Aufführungen von Gesellschaft im Sport. Habilitationsschrift. Fachbereich Erziehungswissenschaft und Psychologie der Freien Universität Berlin.
Nöth, W. (1999). Handbuch der Semiotik. Stuttgart: Metzler.
http://www.semiotik.eu/Semiotik (12-04-22)