Die Predictive Coding-Theorie besagt, dass bei der Wahrnehmung Signale nur dann zur Verarbeitung in höhere Hirnregionen gesendet werden, wenn Vorhersagen nicht erfüllt worden sind. Wahrnehmung ist daher ein kreativer Akt, wobei aus bruchstückhaften sensorischen Daten das Gehirn eine Wirklichkeit konstruiert, die durch Erwartungen und Vorwissen geformt wird. Menschen sind nicht besonders gut darin, viele Schritte nacheinander zu denken und zu machen, denn sie denken im Durchschnitt nur ein bis zwei Schritte voraus. Dadurch entstehen Fehler in ihrem Vorhersagemodell, die sich in einem Prozess ansammeln, d. h., das Modell wird dann immer falscher und so kann es am Ende sein, dass man bei Aufgaben, die mehrere Schritte erfordern, nicht besonders gut sind, diese vorherzusehen.
Die Idee des Predictive Coding ist dabei durchaus kein neuer Ansatz, wie die menschliche Wahrnehmung bzw. wie das Gehirn funktioniert, sondern es gab in der Psychologie schon immer die durchaus plausible Hypothese, dass die menschlichen Sinne schon auf Grund der Komplexität der Umwelt und der damit verbundenen Informationsmengen nicht rein rezipierend arbeiten können, vielmehr arbeiten diese mit Hypothesen über die nächsten erwartbaren Informationen und erfordern nur dann ein Eingreifen höherer Zentren, wenn diese Hypothesen nicht bestätigt werden. Schon Ewald Hering, Physiologe und Pionier der Wahrnehmungsforschung im ausgehenden 19. Jahrhundert, schrieb, dass das Gedächtnis die zahllosen Einzelphänomene des Bewusstseins zu einem Ganzen verbindet, und wie der Körper in unzählige Atome zerstieben müsste, wenn nicht die Anziehung der Materie ihn zusammenhielte, so zerfiele ohne die bindende Macht des Gedächtnisses das Bewusstsein in so viele Splitter, als es Augenblicke zählt. Auch William James vermutete, dass ein Teil dessen, was man von einem Objekt wahrnimmt, vom eigenen Kopf ausgeht. Bekanntlich verarbeitet das Gehirn nur einen Teil der sensorischen Daten der Außenwelt und nutzt Vorwissen sowie Erfahrungen, um aus diesen Bruchstücken abzuleiten, was man sieht. Dass die Wahrnehmung auf einer aktiven Interpretation des sensorischen Inputs basiert und von Erwartungen abhängt, verdeutlichen etwa auch optische Täuschungen.
Die Predictive-Coding-Hypothese besagt nun, dass das Gehirn laufend Vorhersagen über Ereignisse aufstellt und seine Prognosen stetig überprüft und verbessert, wobei der präfrontale Cortex hierfür eine Schlüsselrolle spielt. Gerald Edelman, Immunologe und Neurowissenschaftler, bezeichnet Bewusstsein daher als erinnerte Gegenwart. Und der Neurowissenschaftler Richard F. Thompson, dessen Spezialgebiet die Gedächtnisforschung war, schrieb ganz ähnlich: »Ohne Gedächtnis kann es keinen Geist geben.« Kurzum, diese Autoren sagen, dass alles, was man in einer bestimmten Situation sieht, denkt und fühlt, von den Erfahrungen in der Vergangenheit abhängt und man die Gegenwart durch das Brennglas des Gedächtnisses erlebt. Für die Neurowissenschaft bedeutet Predictive Coding also, dass das Gehirn auf allen Ebenen seiner kognitiven Prozesse Modelle erzeugt, die beschreiben, was gerade auf der nächstniedrigeren Ebene vor sich geht. Diese Modelle übersetzt das Gehirn dann in Vorhersagen darüber, was es in einer bestimmten Situation erleben wird. So liefert das Gehirn immer die beste Erklärung für das, was geschieht und sorgt dafür, dass die gemachte Erfahrung auch Sinn ergibt. Danach werden die Vorhersagen als Feedback in die sensorischen Areale des Gehirns heruntergereicht und dort vergleicht es seine Vorhersagen mit den tatsächlichen Sinneseindrücken. Um dann die Ursachen für Abweichungen und Vorhersagefehler zu erklären, benutzt es wiederum interne Modelle, und leitet Vorhersagefehler, die nicht erklärt werden können, an höhere Ebenen des Netzwerks weiter, und zwar als Feedforward-Signal, die dann mit besonderer Priorität behandelt werden. Dabei werden in einem Prozess die internen Modelle so angepasst, dass der Vorhersagefehler unterdrückt wird.
Predictive Coding begreift z. B. Wahrnehmung und motorische Steuerung als zwei Seiten derselben Informationsverarbeitung, denn in beiden Fällen minimiert das Gehirn Vorhersagefehler, bloß auf unterschiedliche Weise. Bei der Wahrnehmung wird das interne Modell angepasst, bei der motorischen Steuerung die Außenwelt selbst. Wenn man etwa doe Hand will und die Hand nicht bereits gehoben ist, erzeugt die wahrgenommene Diskrepanz einen großen Vorhersagefehler, der dadurch minimiert wird, indem man die Hand hebt.
Angesichts der Bedeutung, die Vorhersagen für das tägliche Leben haben, könnten Beeinträchtigungen der Art und Weise, wie Erwartungen an die sensorischen Bahnen übermittelt werden, tiefgreifende Auswirkungen auf die Kognition haben. Lese-Rechtschreib-Schwäche, die am weitesten verbreitete Lernstörung, wurde bereits mit veränderter Verarbeitung in der Hörbahn und mit Schwierigkeiten in der auditorischen Wahrnehmung in Verbindung gebracht. Tabas et al. (2020) haben auch gezeigt, warum Menschen mit Lese-Rechtschreibschwäche Schwierigkeiten bei der Wahrnehmung von Sprache haben. Man maß dabei mittels funktioneller Magnetresonanztomographie die Gehirnreaktionen von Probanden, während diese Tonfolgen hörten. Diese wurden angewiesen, herauszufinden, welcher der Klänge in der Reihenfolge von den anderen abweicht. Die Erwartungen der Probanden wurden so verändert, dass sie den abweichenden Ton an bestimmten Stellen der Sequenz erwarten würden. Man konzentrierte sich dabei auf die Reaktionen, die die abweichenden Geräusche in zwei wichtigen Kernen der Hörbahn, die für die auditorische Verarbeitung verantwortlich sind, auslösten: dem colliculus inferior und dem medialen corpus geniculatum mediale. Obwohl die Teilnehmenden die abweichenden Töne schneller erkannten, wenn sie an Positionen platziert wurden, an denen sie diese erwarteten, verarbeiteten die Kerne der Hörbahn die Töne nur, wenn sie an unerwarteten Positionen platziert wurden. Diese Ergebnisse passen in eine allgemeine Theorie der sensorischen Verarbeitung, die die Wahrnehmung als einen Prozess der Hypothesenprüfung beschreibt, nämlich als prädiktive Kodierung, die davon ausgeht, dass das Gehirn ständig Vorhersagen darüber generiert, wie die physische Welt im nächsten Moment aussehen, klingen, sich anfühlen und riechen wird, und dass die Neuronen, die für die Verarbeitung der Sinne zuständig sind, Ressourcen sparen, indem sie nur die Unterschiede zwischen diesen Vorhersagen und der tatsächlichen physischen Welt darstellen. Offenbar haben die Überzeugungen einen entscheidenden Einfluss darauf, wie Menschen die Realität wahrnehmen, also diese Überzeugungen mit sensorischen Informationen abgleichen, wobei dieser Prozess auch in den einfachsten und evolutionär ältesten Teilen des Gehirns vorherrscht, sodass alles, was Menschen wahrnehmen, durch die subjektiven Überzeugungen über die Welt geprägt ist.
Man kann aber das Planen trainieren und so besser werden, denn im Gehirn findet eine Art Wechselspiel zwischen einem Kontroll- und einem Modellbereich statt. Eine Studie hat gezeigt, dass Menschen dieses Wechselspiel durch entsprechendes Training verbessern können, sodass sie in der Lage sind, die Zukunft besser zu planen. Ausgangslage für die Forschenden war die Tatsache, dass Schachspielende, die sehr viel strategisch und viele Züge im Voraus denken müssen, auch im Alltag besser planen. In der Studie hat man das Planungsspiel Tic-Tac-Toe (Tic-Tac-Toe ist ein Spiel, das eigentlich immer Unentschieden ausgeht. Allerdings gibt es eine Strategie, mit der man jedes Tic-Tac-Toe-Spiel gewinnt, wenn man beginnen darf und der Gegner einen Fehler macht. Die Strategie: Erstes Kreuz in eine Ecke des Feldes, denn das gibt dem anderen die meisten Möglichkeiten, einen Fehler zu begehen. Jetzt muss man nur darauf hoffen, dass der Gegner seinen ersten Kreis nicht in die Mitte setzt, denn tut er einem tatsächlich diesen Gefallen, dann wird er keine Chance mehr haben) eingesetzt, wobei die Teilnehmenden lernen sollten zu überlegen, wenn sie einen bestimmten Zug machen, mit welchem Zug dann ihr Gegner oder Gegnerin antworten würde. So haben die Teilnehmenden gelernt, schrittweise in die Zukunft zu planen, und konnten dadurch mehr Planungstiefe erreichen, die ihnen unter Umständen helfen kann, in ihrem Leben vielleicht bessere Entscheidungen treffen. Offenbar können auch solche Spiele Menschen dabei helfen, strategische Denken zu üben und dann auf die Wirklichkeit zu übertragen.
In einer aktuellen, bahnbrechenden Studie der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg konnten Forschende beweisen, dass das menschliche Gehirn auch ohne äußere Reize in einem kontinuierlichen Zustand der Aktivität verharrt. Diese spontane Hirnaktivität, die sogenannten lokalen Feldpotenziale (LFPs), ermöglicht es dem Gehirn, potenzielle zukünftige Szenarien vorauszuahnen und darauf vorbereitet zu sein. Dr. Patrick Krauss und Dr. Achim Schilling, zwei hochdekorierte Neurowissenschaftler des Erlanger Uniklinikums, haben mithilfe modernster Methoden der künstlichen Intelligenz die neuronalen Aktivitätsmuster von Epilepsiepatienten eingehend untersucht. Die gewonnenen Erkenntnisse zeigen, dass das Gehirn selbst im Ruhezustand kontinuierlich Vorhersagen über mögliche künftige Ereignisse trifft und diese Informationen für Entscheidungsfindungen und Verhaltensanpassungen nutzt. Dieser Prozess des „Predictive Coding“ spielt eine Schlüsselrolle dabei, wie sich der Mensch an wechselnde Umgebungen und Situationen anpasst. Besonders aufschlussreich war, dass die Forschenden Rückschlüsse auf Form und Richtung dieser LFPs ziehen konnten. Diese Signaturmuster der spontanen Gehirnaktivität könnten künftig dabei helfen, neurologische Erkrankungen frühzeitig zu erkennen, da Abweichungen von der Norm auf pathologische Veränderungen hinweisen könnten. Somit eröffnet diese bahnbrechende Studie nicht nur neue Perspektiven für das grundlegende Verständnis menschlicher Kognition, sondern könnte langfristig auch Implikationen für Diagnose und Behandlung von Hirnstörungen haben. Darüber hinaus verdeutlicht diese Forschungsarbeit die enormen Möglichkeiten, die sich durch den Einsatz von KI-Technologien in der Neurowissenschaft ergeben. Nicht nur trug die computergestützte Datenanalyse entscheidend zur Entdeckung dieser fundamentalen Erkenntnisse bei, sondern die Erkenntnisse selbst könnten wiederum dazu führen, dass auch KI-Systeme, beispielsweise in selbstfahrenden Autos, in der Lage sind, kontinuierlich Vorhersagen zu treffen – selbst wenn keine aktuellen Sensordaten vorliegen. Somit demonstriert diese bahnbrechende Studie das enorme Synergiepotenzial zwischen menschlicher Forschung und künstlicher Intelligenz.
Vorgeschichte
Die zentrale Frage der Neurowissenschaften ist, wie können Milliarden Nervenzellen nur durch Austausch kleiner, kurzer, etwa eine Tausendstel Sekunde dauernde elektrische Signale all das erzeugen, was Menschen subjektiv als Wahrnehmung, als Aufmerksamkeit, als Lernen oder als Gedächtnis erleben. Ein zentrales Funktionsprinzip des Gehirns besteht darin, die effektive Stärke der Verbindungen zwischen Nervenzellen innerhalb von Bruchteilen von Sekunden zu verändern, so dass sich die informationsverarbeitende Funktion eines neuronalen Netzes grundlegend verändern kann. So können die neuronalen Netzwerke trotz ihrer anatomisch gegebenen und nicht rasch veränderbaren Verbindungen in einem Moment eine bestimmte Funktion lösen und im nächsten Moment, wenn eine andere Funktion erfüllt werden muss, funktionell buchstäblich umverdrahtet werden.
Bis ins späte 20. Jahrhundert nahmen Hirnforscher an, dass das Gehirn eine Art Detektor für Muster in Sinnesdaten sei, d. h., es registriert Sinnesreize, verarbeitet sie und erzeugt ein Verhalten als Reaktion. Dabei repräsentiert die Aktivität einzelner Hirnzellen die An- oder Abwesenheit bestimmter Reize. Einige Neuronen im visuellen Cortex reagieren etwa nur auf die Kanten sichtbarer Objekte, andere auf deren Orientierung, Färbung oder Schattierung. Doch dieser Prozess erwies sich als weit komplizierter als zunächst angenommen, denn so ergaben Experimente, dass die Neuronen, die auf Linien reagieren, aufhören zu feuern, wenn das Gehirn eine immer länger werdende Linie wahrnimmt, obwohl die Linie nicht verschwindet. Außerdem kann diese Detektortheorie nicht erklären, warum im Gehirn ein beträchtlicher Teil des Informationsflusses top-down verläuft, also von Arealen für komplexere Inhalte in Richtung jener, die einfachere Sinnesdaten verarbeiten. Darauf entwickelte man die Theorie des bayesschen Gehirns, der zufolge das Gehirn nicht einfach Sinnesmuster erkennt, sondern aus ihnen fortlaufend Schlüsse darüber zieht, was sich in der Welt mutmaßlich ereignet. Dabei folgt es den Regeln der bayesschen Wahrscheinlichkeitsrechnung, die die Wahrscheinlichkeit eines kommenden Ereignisses auf Basis vorheriger Erfahrungen ermittelt, d. h., statt auf Sinneseindrücke zu warten, konstruiert das Gehirn also ständig aktiv Hypothesen darüber, wie die Welt funktioniert. Dadurch erklärt es außerdem neue Erfahrungen und füllt Lücken, wenn die Sinnesdaten unvollständig sind, sodass Wahrnehmung so eine Art kontrollierte Halluzination darstellt.
Literatur
Brodski, Alla, Paasch, Georg-Friedrich, Helbling, Saskia & Wibral, Michael (2015). The Faces of Predictive Coding. Journal of Neuroscience, 35, 8997–9006. DOI: 10.1523/JNEUROSCI.1529-14.2015.
Tabas, Alejandro, Mihai, Glad, Kiebel, Stefan, Trampel, Robert, von Kriegstein, Katharina, Shinn-Cunningham, Barbara, Griffiths, Timothy & Malmierca, Manuel (2020). Abstract rules drive adaptation in the subcortical sensory pathway. eLife, doi:10.7554/eLife.64501.
https://www.spektrum.de/news/sagt-unser-gehirn-die-zukunft-voraus/1613666 (19-04-23)
https://www.spektrum.de/magazin/bewusstsein-die-erfindung-des-erlebens/1920013 (21-09-28)
https://www.butenunbinnen.de/nachrichten/neurowissenschaften-bremen-andreas-kreiter-100.html (21-11-06)