Non piangere mai per qualcosa che non puo piangere per te.
Vittorio De Sica
Wir denken selten an das, was wir haben, aber immer an das, was uns fehlt.
Arthur Schopenhauer
Als Verlustaversion – loss aversion – bezeichnet man in der Psychologie die Tendenz von Menschen, Verluste höher zu gewichten als Gewinne. Die Verlustaversion ist ein Bestandteil der Prospect Theory von Kahneman und Tversky, die behauptet, dass sich Individuen in Entscheidungssituationen irrational verhalten, wenn Unsicherheiten eine Rolle spielen. Diese Annahme widerspricht der neoklassischen ökonomischen Entscheidungstheorie, wonach der Homo oeconomicus nutzenmaximierend und rational handelt. Menschen bewerten eine Investition nämlich häufig nicht nach ihrem Endergebnis, sondern in Bezug auf einen Referenzpunkt, meist dem Preis zum Zeitpunkt des Kaufs eines Objekts wie Aktien. Verlustaversion bezeichnet somit die relative Gewichtung dieser Gewinne und Verluste, wobei Verluste im Urteil von Entscheidungsträgern etwa doppelt so schwer wiegen als gleich große Gewinne.
Die Verlustaversion ist eine der wichtigsten psychologischen Einsichten der Verhaltensökonomie und hat Auswirkungen in vielen Bereichen des Lebens, wobei nicht nur Entscheidungen beeinflusst werden, bei denen das Ergebnis zufallsbestimmt ist, sondern auch solche, die sichere Verluste mit sich bringen. Hat etwa jemand die Wahl, sicher fünfhundert Euro zu gewinnen oder mit einer Wahrscheinlichkeit von fünfzig Prozent tausend Euro zu gewinnen, wird er sich meist für den sicheren Weg entscheiden. Beim Verlust ist es umgekehrt, denn bei der Wahl zwischen einem sicheren Verlust von fünfhundert Euro oder einer fünfzigprozentigen Chance tausend Euro zu verlieren, setzen die meisten Menschen auf die Fifty/Fifty-Chance. Menschen unterscheiden sich aber darin, wie verlustavers sie handeln, denn Studien zeigen, dass etwa neunzig Prozent der Probanden eine mehr oder weniger stark ausgeprägte Verlustaversion bei sicheren Verlusten aufweist, bei unsicheren Verlusten waren es jedoch etwas weniger. Außerdem ist Verlustaversion bei Menschen mit höherer Bildung seltener, nimmt aber mit dem Alter zu. Bei der Verlustaversion zeigen sich auch keine bedeutenden Unterschiede zwischen Frauen und Männern.
Es gibt zahlreiche Forschungen dazu, wie Präferenzen der Menschen durch ihre Entscheidungen geprägt werden, denn so haben Studien über kognitive Dissonanz gezeigt, dass Beobachter, die zwischen zwei gleich attraktiven Optionen wählen müssen, die nicht gewählte Option anschließend meiden, was darauf hindeutet, dass eine Nichtwahl einer Option dazu geführt hat, dass diese abgelehnte Option danach auch weniger gefällt. Silver et al. (2020) haben versucht, mögliche entwicklungsgeschichtlichen Wurzeln dieses Phänomens bei präverbalen Säuglingen zu finden. In einer Serie von sieben Experimenten mit einem Free-Choice-Paradigma fand man heraus, dass Säuglinge im Alter zwischen 10 und 20 Monaten eine wahlbedingte Präferenzveränderung ähnlich wie Erwachsene erleben. So boten man den Kindern etwa zwei Objekte zum Spielen an, wobei es sich um gleich helle und farbenfrohe Stoffklötze handelte, die beide gleich weit von einem Baby entfernt lagen, das entweder zu dem einen oder aber zu dem anderen krabbeln konnte. Danach gab man zwingend vor, mit welchem der Objekte die Babys spielen sollten, wobei sich dann keine Vorliebe mehr zeigte. Entfällt also die eigene Entscheidung, verschwindet das Phänomen, d. h., die Kleinkinder wählen tatsächlich nicht aufgrund von Neuheit oder tatsächlicher Vorliebe. Die Wahlmuster der Kleinkinder spiegelten demnach eine echte Präferenzveränderung wider. Offenbar prägt eine Auswahl die Präferenzen auch ohne umfangreiche Erfahrung in der Entscheidungsfindung und ohne ein gut entwickeltes Selbstkonzept. Dieses Verhalten gleicht demnach dem Verhalten Erwachsener, die ihre Wahlen in der Regel im Nachhinein rechtfertigen. Offenbar ist die Entwicklung einer Vorliebe aufgrund einer zuvor getroffenen Auswahl intuitiv und fundamental für menschliches Verhalten.
Man vermutet den Ursprung dieser Präferenz in der Evolution, denn da ging es für die Jäger in erster Linie darum, jeden Tag genügend Nahrung zum Überleben zu fangen. Es war in diesem Fall nicht wichtig, im langfristigen Durchschnitt höhere Gewinne zu erzielen, da Jagderfolge schlecht mit ergebnislosen Jagden verrechnet werden konnten, denn wenn man an einem Tag fünf Tiere statt nur einem erlegte, konnte die Gruppe doch nur eines verzehren und die überschüssigen Tiere verdarben.
Beispiel: Gewinnen jemand mit Aktie A 1000 Euro an der Börse und verliert anschließend 1000 Euro mit Aktie B, dann ist der Ärger über den Verlust größer als die Freude über den Gewinn. Es ist im Durchschnitt ein Plus von 2000 Euro nötig, um ein Minus von 1000 Euro gefühlsmäßig aufzuwiegen.
Siehe dazu Spekulation als Glücksspiel.
Ein bekanntes Alltagsphänomen ist die Glückssträhne, nach der viele Spieler in Casinos glauben, dass diese wohl noch eine Weile anhält, wobei sich jedoch meist zeigt, dass die real betrachteten Gewinne schnell wieder verloren sind und Verluste die Oberhand gewinnen.
Die Angst vor der Reduktion
Eine Verbesserung von Objekten, Ideen oder Situationen, sei es, dass ein Konstrukteur eine Technologie verbessern, ein Schriftsteller ein Argument verstärken oder ein Manager ein gewünschtes Verhalten fördern möchte, erfordert dies eine Suche nach möglichen Veränderungen. Menschen ziehen in der Regel eine begrenzte Anzahl vielversprechender Ideen in Betracht, um die kognitive Belastung zu bewältigen, die mit der Suche nach allen möglichen Ideen verbunden ist. Dies kann jedoch dazu führen, dass sie angemessene Lösungen akzeptieren, ohne potenziell bessere Alternativen in Betracht zu ziehen. Adams et al. (2021) haben untersucht, ob Menschen Veränderungen, die Komponenten von einem Objekt, einer Idee oder einer Situation abziehen, genauso häufig in Betracht ziehen wie Veränderungen, die neue Komponenten hinzufügen. In acht Experimenten konnte man zeigen, dass Menschen systematisch nach additiven Transformationen suchen und folglich subtraktive Transformationen übersehen. Offenbar erkannten die Probanden weniger wahrscheinlich vorteilhafte subtraktive Veränderungen, wenn die Aufgabe sie nicht geradezu dazu aufforderte, Subtraktion in Betracht zu ziehen, auch wenn sie eine Gelegenheit hatten, die Unzulänglichkeiten einer additiven Suchstrategie zu erkennen.
Diese standardmäßige Suche nach additiven Veränderungen könnte ein Grund dafür sein, dass die Menschen offenbar Schwierigkeiten haben, überlastete Zeitpläne, institutionelle Bürokratie und schädliche Auswirkungen auf die Umwelt abzumildern, indem sie etwas weglassen. Verantwortlich ist dafür offenbar ein Aspekt der Verlust-Aversion. Die Verlustaversion ist daher möglicherweise auch eine Ursache dafür, dass ein Großteil der Menschen nichts gegen den Klimawandel tut, obwohl er in der Theorie dazu bereit wäre. Offenbar fällt es Menschen schwer, sich von ihren klimaschädlichen Annehmlichkeiten wie einem eigenen Auto, zu trennen, auch wenn sie sich dadurch die Aussicht auf einen nicht klimageschädigten Planeten verbauen. Hinzu kommt, dass Menschen den Klimawandel eher als ein Problem der Zukunft betrachten, was die Bereitschaft des Einzelnen ebenfalls sinken lässt.
Ein Beispiel: Über den menschlichen Drang, Dinge immer komplizierter zu machen
Eines Tages haben die Geräte begonnen, ihre Besitzer anzupiepen. Die Waschmaschine zum Beispiel. Dass die Wäsche nun fertig sei und aufgehängt werden könne, zeigten diese Maschinen früher an, indem sie die Geräuschentwicklung einstellten. Jetzt aber: Auf Schleudergerumpel folgt Piepen statt Stille. Oder der Kühlschrank. Steht die Tür einen Moment zu lang offen, beginnt das Ding zu piepen. Und natürlich das Auto. Zu Beginn der Pieps-Ära erzog das Kfz seine Halter lediglich per Geräuschpenetranz, wenn der Gurt nicht angelegt war. Doch dann gaben Ingenieure alle Zurückhaltung auf und statteten Autos mit unzähligen Warn- und Assistenzsystemen aus. Jetzt piept es beim Einparken, es piept, wenn ein Sensor findet, der Fahrer sei müde. Dazwischen piepen unklare Warnhinweise, die einen verwirrt auf dem Display oder den unzähligen Knöpfen auf dem Lenkrad herumdrücken lassen (Herrmann, 2022).
Literatur
Adams, Gabrielle S., Converse, Benjamin A., Hales, Andrew H. & Klotz, Leidy E. (2021). People systematically overlook subtractive changes. Nature, 592, 258-261.
Herrmann, S. (2022). Und noch ein Pieps. Süddeutsche Zeitung vom 28. Oktober.
Silver, Alex M., Stahl, Aimee E., Loiotile, Rita, Smith-Flores, Alexis S. & Feigenson, Lisa (2020). When Not Choosing Leads to Not Liking: Choice-Induced Preference in Infancy. Psychological Science, doi:10.1177/0956797620954491.
* Weine niemals um etwas, das nicht um dich weinen kann.