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prospect theory

    Die Prospect-Theorie – auch neue Erwartungstheorie – ist eine psychologische Theorie, welche davon ausgeht, dass für viele Menschen nicht das Gewinnen sondern das Vermeiden von Verlusten die entscheidende Motivation darstellt. Sie ist heute ein wesentlicher Bestandteil der Verhaltensökonomik (behavioural economics). Mit Hilfe der Prospect-Theorie können viele Verhaltensanomalien erklärt werden, also Verhaltensweisen, die mit dem rationalen Verhaltensmodell nicht vereinbar sind.

    Seit Mitte des vorigen Jahrhunderts gingen wirtschaftswissenschaftliche Theorien vorwiegend von einem rationalen Menschen aus, der seine Entscheidungen auf der Grundlage von Informationen so trifft, dass er also seine Kosten minimiert und der Nutzen für sich maximiert (Homo oeconomicus). Zwar belegen viele Untersuchungen diese Betrachtung, während andere sich einer solchen einfachen Erklärung entziehen. Die prospect theory oder Neue Erwartungstheorie stellt sich nun eben gegen diese Lehrmeinung der Wirtschaftswissenschaft, dass der Mensch Verluste stärker verabscheut, als er Gewinne liebt. Daniel Kahneman und Amos Tversky räumten daher mit dem Mythos vom homo oeconomicus auf, denn auch bei finanziellen Transaktionen agieren Menschen nicht als nüchterne Nutzenmaximierer, sondern sie sind auch hier von Emotionen geleitet wie dem Gefühl für Fairness, Risikoscheu und der Furcht vor Verlusten. Wenn man Entscheidungen trifft, strebt man nicht danach, den Nutzen zu maximieren, sondern man strebt danach, das Bedauern zu minimieren.

    Die prospect theory wurde 1979 von Daniel Kahneman und Amos Tversky als eine psychologisch realistischere Alternative zu der rein ökonomisch orientierten Erwartungsnutzentheorie entwickelt und erlaubt die Beschreibung der Entscheidungsfindung in Situationen der Unsicherheit. Dies betrifft insbesondere solche Entscheidungen, bei denen unwägbare Risiken bzw. die Eintrittswahrscheinlichkeiten der künftigen Umweltzustände unbekannt sind (Ambiguität bzw. Zwiespältigkeit). Ursprünglich war diese Theorie als lottery theory bezeichnet worden. Sie ist heute ein wesentlicher Bestandteil der Verhaltensökonomik (behavioral economics). Wenn Menschen eine Entscheidung treffen oder ein Problem lösen sollen, dann sind sie nach diesem Ansatz also keine rein rationalen, nüchternen Nutzenmaximierer, sondern entscheidend ist nicht so sehr das Problem an sich, sondern die Wahrnehmung dieses Problems.

    Diese Theorie ist durch drei grundlegende Unterschiede zum üblichen Erwartungsnutzenkonzept (Nutzentheorie) gekennzeichnet: Der Nutzen einer Handlungsalternative wird nicht am endgültigen Vermögens- und/oder Wohlfahrtszustand gemessen, sondern an Veränderungen im Verhältnis zu einem Referenzzustand. Verschlechterungen relativ zum Referenzpunkt, also Verluste, werden deutlich stärker empfunden als Verbesserungen, also Gewinne, wobei sich Individuen im Bereich der Verluste risikofreudig verhalten, im Gewinnbereich dagegen eher risikoscheu. Mögliche Umweltzustände werden nicht mit ihrer objektiven Eintrittswahrscheinlichkeit gewichtet, sondern mittels einer Wahrscheinlichkeitsgewichtungsfunktion, die äußerst unwahrscheinlichen Ereignissen tendenziell ein zu hohes Gewicht einräumt und fast sicheren Ereignissen ein zu geringes Gewicht.

    Demnach gibt es eine Neigung von Börsenanlegern, jene Aktien abzustoßen, deren Wert gestiegen ist, und solche zu halten, deren Wert gesunken ist. Wenn ein Anleger tausend Euro an der Börse gewinnt, freut er sich, verliert er jedoch tausend Euro, ärgert er sich. Um sich dieser Verärgerung nicht aussetzen zu müssen, zögern deshalb viele Anleger mit dem Verkauf ihrer Aktien und hoffen auf später wieder steigende Kurse. Verstärkt wird dieser Dispositionseffekt dadurch, dass die Verärgerung über Verluste nach der Prospekt-Theorie etwa doppelt so stark empfunden wird wie die Freude über Gewinne, d. h., die Angst vor dem Verlust lässt Anleger risikobereiter werden und führt nicht selten dazu, dass sie damit noch tiefer in die Verlustzone geraten. Vermutlich beruht der Dispositionseffekt auf einem Problem mit dem Selbstwertgefühl, denn wenn jemand verlustreiche Aktien verkauft, muss er sich die für ihn unangenehme Frage stellen, ob nicht schon die Kaufentscheidung möglicherweise ein Fehler war, und sich nachträglich einzugestehen, beim Kauf der Aktien einen Fehler begangen zu haben, ist für die meisten Menschen äußerst unangenehm. Hinzu kommt das Phänomen, dass Menschen denken, viele Dinge besser zu können als andere und auch mehr zu wissen als andere.

    Ähnliches Verhalten gemäß der Prospect-Theorie konnte von Wendt et al. (2019) sogar bei Insekten nachgewiesen werden, denn Ameisen, die erwarten, minderwertige Lebensmittel zu finden, zeigten eine höhere Akzeptanz von Lebensmitteln mittlerer Qualität als Ameisen, die mittlere Qualität erwarteten. Ameisen, die eine höhere Nahrungsqualität erwarteten, lehnten im Gegensatz zu Tieren einer Kontrollgruppe die mittlere Qualität häufig ab, d. h., sie zeigten sich enttäuscht und ordneten dem Futter einen geringen Wert zu. Auch war die Begeisterung mit der die Ameisen andere Tiere über die Nahrungsqualität durch eine Pheromonspur informierten, direkt mit der positiven oder negativen Erfahrung verknüpft. Weitere Experimente zeigten, dass diese Kontrasteffekte eher aus kognitiven als aus rein sensorischen oder präkognitiven Wahrnehmungen resultieren. Auch soziale Informationen, die im Bau gewonnen werden, können auch als Anhaltspunkt dienen, denn die Qualität der Nahrung, die von anderen Ameisen erhalten wurde, beeinflusste den wahrgenommenen Wert der später selber gefundenen Nahrung. Diese Bewertung ist offenbar ein Schlüsselelement der Entscheidungsfindung und beeinflusst die relative Wertwahrnehmung deutlich. Vereinfacht gesagt: Wenn eine Ameise gerade gute Nahrung von einer anderen Ameise erhalten hat, wird sie danach mittelmäßige Nahrung verweigern, wenn sie jedoch schlechte Nahrung erhalten hat, wird sie nicht wählerisch sein und auch mit mittelmäßiger Qualität zufrieden sein.


    Ruggeri et al. (2020) haben die Studie von Daniel Kahneman zur Prospect Theory wiederholt, also wie Menschen unter Unsicherheit Entscheidungen treffen und inwiefern diese nicht immer konsistent mit dem sind, was man gemeinhin unter rational versteht, was die früheren, rationalen Entscheidungstheorien wie die Expected Utility Theory widerlegte. Nun wurden vierzig Jahre später die ursprünglichen Antwortmuster für Entscheidungen unter Unsicherheit repliziert, wenn auch teils mit kleineren Effektgrößen. So waren 77 Prozent der Effektgrößen in der neuen Studie kleiner als die der Originalstudie, was aber wegen der große Anzahl an Versuchspersonen nicht überraschend ist. Die Originalstudie untersuchte Stichproben von maximal 141 Versuchspersonen pro Frage, die Replikationsstudie umfasste eine Gesamtstichprobe von über viertausend Probanden und Probandinnen aus neunzehn Ländern, was darauf hindeutet, dass die Antwortmuster weltweit generalisierbar sind. Offenbar ist diese Theorie weiterhin dazu in der Lage zu beschreiben, wie Menschen Entscheidungen bei Unsicherheiten und Risiken in den Ausgangsbedingungen treffen. Mit dieser neuen Replikationsstudie konnte nun der Einfluss der Prospect Theory sowohl in der Wissenschaft als auch in der politischen und unternehmerischen Praxis gerechtfertigt werden.


    *** Hier KLICKEN: Das BUCH dazu! *** Biografische Anmerkung: Daniel Kahneman, 1934 geboren, der die Schoa als Kind im französischen Versteck überlebte, war unsicher, schüchtern und pessimistisch, während Amos Tversky, geborener Israeli, hingegen selbstbewusst, laut und ein unbeirrbarer Optimist war. Sie waren dennoch unzertrennlich und haben sich stunden-, tage-, ja, wochenlang in ihrem Büro eingeschlossen. 2002 wurden Amos Tversky und Daniel Kahneman für die Forschungen, die die Grundlage der Verhaltensökonomik legten, mit dem Wirtschaftsnobelpreis ausgezeichnet. Amos Tversky konnte ihn nicht mehr entgegennehmen, er war bereits 1996 an Hautkrebs verstorben.

    Daniel Kahneman erklärt in seinem Buch „Schnelles Denken, langsames Denken„, wie, wann und warum das menschliche Gehirn falsch funktioniert und was man dagegen tun kann. Typisches Beispiel ist diese klassische Rechenaufgabe: „Ein Schläger und ein Ball kosten zusammen 1,10 Euro. Der Schläger kostet einen Euro mehr als der Ball. Wie viel kostet der Ball?“ Nach Kahneman hat das Gehirns eine Art Autopilot, der die Lösung dieser Denkaufgabe übernimmt, da er glaubt, die Aufgabe sei einfach und er nennt die Lösung spontan: „Der Ball kostet 10 Cent.“ Dieser Autopilot im Gehirn spart Energie, indem er bei Aufgaben den kürzeren Weg wählt und Menschen schnell handeln, entscheiden und auch antworten lässt. Oft oder sogar meist liegt diese Reaktion richtig, doch manchmal eben auch nicht, und zwar unabhängig von der Intelligenz des Menschen. Das analytische, kontrollierte und fokussierte Denken hingegen ist im Gegensatz dazu langsamer, verbraucht auch mehr Energie, doch hilft diese Form des Denkens wenig, wenn Menschen in einer bedrohlichen Lage sind und eine ganz schnelle Entscheidung gefragt ist.
    BTW: Die Lösung ist übrigens falsch!


    Literatur

    Kahneman, D. & Tversky, A. (1979). Prospect theory: An analysis of decision under risk. Econometrica, 47, 263-291.
    Ruggeri, Kai, Ali, Sonia, Berge, Mari Louise, Bertoldo, Giulia, Bjørndal, Ludvig D., Cortijos-Bernabeu, Anna, Davison, Clair, Demic, Emir, Esteban-Serna, Celia, Friedemann, Maja, Gibson, Shannon P., Jarke, Hannes, Karakasheva, Ralitsa, Khorrami, Peggah R., Kveder, Jakob, Andersen, Thomas Lind, Lofthus, Ingvild S., McGill, Lucy, Nieto, Ana E., Pérez, Jacobo, Quail, Sahana K., Rutherford, Charlotte, Tavera, Felice L., Tomat, Nastja, Reyn, Chiara Van, Veckalov, Bojana, Wang, Keying, Yosifova, Aleksandra, Papa, Francesca, Rubaltelli, Enrico, Linden, Sander van der & Folke, Tomas (2020). Replicating patterns of prospect theory for decision under risk. Nature Human Behaviour, doi:10.1038/s41562-020-0886-x.
    Tversky, A. & Kahneman, D. (1981). The framing of decisions and the psychology of choice. Science, 211, 453-458.
    Wendt, S., Strunk, Kim S., Heinze, J., Roider, A. & Czaczkes, Tomer J. (2019). Positive and negative incentive contrasts lead to relative value perception in ants. eLife, doi: 10.7554/eLife.45450.


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