Die Stressreaktion ist ein allen Menschen und auch höheren Tieren angeborenes Verhalten, das bei Gefahr die Energiereserven im Körper mobilisieren soll, und rührt aus der stammesgeschichtlichen Entwicklung des Menschen her, als es in Gefahrensitutationen nur zwei Möglichkeiten zum Überleben blieben: Angriff oder Flucht. Stress löst im Gehirn eine komplexe Kette von Reaktionen aus, denn es signalisiert das Nervensystem der Nebennierenrinde, verschiedene Hormone freizusetzen, unter anderem das Hormon Cortisol. Die Nebenniere ist eine paarige Hormondrüse und befindet sich beim Menschen auf den oberen Polen beider Nieren. Das von ihr ausgeschüttete Cortisol wirkt im Gehirn über zwei verschiedene Rezeptortypen, den Mineralocorticoid Rezeptor und den Glucocorticoid Rezeptor. Das menschliche Stresssystem ist evolutionär sehr alt, denn wahrscheinlich half es schon den ersten Säugetieren beim Überleben. Seither hat sich dieses weiterentwickelt und verfeinert, wobei es Verhaltensoptionen in Notfallsituationen wie Kampf, Flucht, Verstecken oder Totstellen unterstützt. Alle diese Reaktionen verbrauchen Energie, die der Körper vorsorglich bereitstellen muss. Wissenschaftler auf dem Jahrestreffen 2018 der Gesellschaft für Kognitive Neurowissenschaft in Boston berichten, dass bei Föten von Müttern, die großem Stress ausgesetzt waren, Veränderungen in der neuronalen Verschaltung in Gehirn feststellbar sind.
Über das Stresssystem des sympathischen Nervensystems wird etwa der Kreislauf angetrieben, von der Leber wird Zucker zur Verfügung gestellt und aus Fettzellen werden Fettsäuren freigesetzt, zudem wird über ein weiteres Stresssystem, die Hypothalamus-Hypophysen-Nebenniere-Achse, beim Menschen Cortisol ausgeschüttet, das sich im gesamten Körper verbreitet und vor allem im Kern einer Zelle die Genexpressionen verändert. Dieses Hormon wirkt praktisch auf jede Körperzelle und sorgt unter anderem dafür, dass der Körper auch mittel- oder langfristig mit einer anhaltenden Stresssituation zurechtkommt. Das Gehirn merkt sich in Stresssituationen wichtige Dinge wesentlich besser, sodass man beim nächsten Mal eine ähnliche Situation von vornherein vermeidet oder ob man in der Lage ist, die Situation erfolgreich zu bewältigen. Bei der Evolution der Säugetiere wurden Stresssysteme zunehmend im sozialen Kontext relevant, wobei es dabei nicht um die Abwehr eines angreifenden Fressfeindes geht, sondern etwa um den Reproduktionsvorteil. Schon die menschlichen Vorfahren waren gestresst, wenn die von ihnen erlebte soziale Stellung, ihr soziales Selbst, in Gefahr war, und auch heute werden bei Menschen Stresssysteme besonders in sozialen Stresssituationen aktiv. Allerdings kann all das, was Menschen früher in bedrohlichen Situationen gerettet hat, heute gesundheitlich gefährlich werden. Übrigens: nach neueren Untersuchungen soll Cortisol die Erinnerungsfähigkeit eher verschlechtern, und unter Stress neigen Menschen eher dazu, in alte Gewohnheiten zu verfallen und weniger Neues auszuprobieren, was auch auf Kinder zutrifft. Stress bewirkt bekanntlich einen Anstieg des Stresshormons Cortisol, sodass bei Menschen in solchen Situationen die kognitive Flexibilität verringert wird, man auf Sicherheit bedacht ist und keine alternativen Verhaltensweisen ausprobiert.
Elbau et al. (2018) haben gezeigt, dass Stress auch die Regulation des Blutflusses im Gehirn beeinflusst, wobei diese neurovaskuläre Kopplung auf den Stoffwechselbedarf, der durch die neuronale Aktivität erzeugt wird, genau abgestimmt ist. Dies könnte einen bisher nicht erkannten Mechanismus darstellen, der zu individuellen Unterschieden in der Stressantwort beiträgt. Es zeigte sich nämlich in einem Experiment, in dem bei Probanden künstlich Stress induziert wurde, dass sich die hämodynamische Antwort in verschiedenen Gehirnregionen (Hippocampus, präfrontalen Cortex) dadurch veränderte, wobei diese Veränderungen innerhalb weniger Minuten erfolgten, sodass sich mit ihrer Hilfe die spätere Ausschüttung von Stresshormonen vorhersagen ließ. Diese Ergebnisse zeigen, dass akuter Stress zu einer schnellen, grundsätzlichen Funktionsanpassung des Gehirns führt, und möglicherweise beeinflussen die individuelle Unterschiede auf dieser Ebene auch das Risiko, unter chronischem Stress Fehlanpassungen und letztlich psychische Symptome zu entwickeln. Psychischer Stress verursacht häufig erhöhten oxidativen Stress in den Zellen, wobei vor allem die Mitochondrien dabei überlastet werden, was zu chronischen Erschöpfungszuständen führt und den generellen Gesundheitszustand beeinträchtigt. Doch auch die Erbsubstanz wird von Traumata in Mitleidenschaft gezogen, denn es hat sich gezeigt, dass Menschen, die traumatische Ereignisse erlebt haben, tatsächlich ein Mehr an Schädigung ihrer DNA aufweisen.
Enzym MMP8 als Auslöser für Depressionen?
In der Psychologie existieren viele unterschiedliche Definitionen von Stress und je nach Theorie wird mit Stress ein belastendes Ereignis (stimulusorientierte Stresstheorien), eine bestimmte Reaktion auf Reize (reaktionsorientierte Stresstheorien, z.B. nach Hans Selye) und eine bestimmte Beziehung zwischen Reizen und Reaktionen (kognitiv- transaktionale Stresstheorie nach Lazarus et al.) bezeichnet. Das Stress-Konzept von Lazarus et al. etwa betont die Person-Umwelt-Beziehung, d.h., es besteht eine Diskrepanz zwischen den Bedürfnissen und Möglichkeiten einer Person (IST) und den an sie gerichteten Anforderungen (SOLL). Jeder Mensch reagiert auf eine solche Situation anders, wobei entscheidend ist, wie er diese subjektiv bewertet: Ist die Situation belastend, irrelevant oder positiv für sein Wohlbefinden? Nur wenn er das Geschehen als eine Belastung bewertet, erlebt er Stress (primäre Bewertung). Zeitgleich wägt man die persönlichen Stressbewältigungsmöglichkeiten ab (sekundäre Bewertung), d.h., kann man diese Situation meistern? Erlebt man eine Stressreaktion als belastend und schätzt gleichzeitig seine Bewältigungskompetenzen als unzureichend ein, wird eine Stressreaktion ausgelöst. Grundsätzlich lässt sich das akute Stressgeschehen in drei Ebenen unterscheiden:
- Stressoren (äußere belastende Situationen und Bedingungen): physikalische Stressoren: Lärm, extreme Hitze, Kälte etc., soziale Stressoren: Streitigkeiten, Trennungen etc., Anforderungen im Leistungsbereich (Zeitdruck, Überforderung etc.),
- Stressreaktionen (persönliche Reaktionen auf die Belastung): körperliche Ebene: schnelle Atmung, erhöhter Muskeltonus ec., behaviorale Ebene: unkoordiniertes Arbeitsverhalten, konfliktreicher Umgang mit anderen etc., kognitiv-emotionale Ebene: Gefühle der inneren Unruhe und Hilflosigkeit, Selbstvorwürfe etc. und
- Individuelle Motive, Bewertungen und Einstellungen, die daran beteiligt sind, ob und wie stark eine Situation zu einem Stressor wird.
Die individuellen Motive, Bewertungen und Einstellungen verbinden die Stressoren mit den Stressreaktionen und werden auch als persönliche Stressverstärker bezeichnet. Diese tragen zur Interpretation, Auslösung bzw. Verstärkung der Stressreaktionen bei. Probleme im Zusammenhang mit Stressverstärkern treten dann auf, wenn man sich durch die gesammelten Erfahrungen in seinem Leben zu einem stressverschärfenden Denkstil neigt. Dieser gliedert sich in die selektive Wahrnehmung (man nimmt nur bestimmte negative Situationsaspekte aus der Umwelt wahr und blendet die positiven aus), selektive Verallgemeinerung (man bezieht einzelne negative Ereignisse und Erfahrungen auf sein gesamtes Leben) sowie in das Personalisieren (man bezieht alles, was geschieht, auf die eigene Person) und Katastrophisieren (man überbewertet die Folgen negativer Geschehnisse).
Wenn man kurzfristig und insbesondere chronischem Stress ausgesetzt ist, haben diese Belastungen sowohl körperliche, psychische als auch kognitive Auswirkungen. Stress ist also der Versuch des Körpers, sich auf die verschiedensten Arten von Belastung einzustellen: auf Kälte, Hitze, soziale Spannungen, das ganze Spektrum von möglichen Belastungen, die Körper und Seele treffen können. Wissenschaftlich nachweisbar ist, dass Stresshormone ausgeschüttet werden, die den Menschen in die Lage versetzen, eine körperliche Antwort auf die Belastung zu finden.
Dauerhafter Stress kann reale Schmerzen und körperliche Beschwerden auslösen, etwa Magen- und Darmprobleme, Rückenschmerzen, Asthma, Hautausschlag oder Kopfschmerzen. Finden sich keine körperlichen Ursachen für diese Leiden, sollte man herausfinden, was einen in seinem Leben so stark unter Druck setzt und was man ändern könnte, was oft nur durch eine psychotherapeutische Behandlung möglich. Sehr häufig resultiert übrigens Stress aus latenten Konflikten mit Kollegen oder Vorgesetzten im Beruf sowie aus Partnerschaftsproblemen.
Empathischer Stress: Stress ist übrigens ansteckend, denn es kann ausreichen, einen anderen Menschen in einer stressbelasteten Situation zu beobachten, damit der eigene Körper das Stresshormon Cortisol ausschüttet. Dieser empathische Stress trat besonders häufig dann auf, wenn Beobachter in einer Beziehung zu der gestressten Person steheen und das Geschehen direkt verfolgen können. Aber auch wenn fremde Menschen lediglich auf einem Bildschirm zu sehen sind, versetzt das einige Menschen in Alarmbereitschaft, denn dieser empathisch vermittelte Stress ein Erbteil der Evolution (Engert et al., 2014). Im Detail siehe unten!
Übrigens: Nicht nur Gähnen, sondern auch Stress kann ansteckend wirken, denn wer selbst entspannt ist, für den kann die Beobachtung eines anderen Menschen in einer angespannten Situation belastend sein. Schon die Beobachtung reicht oftmals, dass der eigene Körper ebenfalls das Stresshormon Cortisol ausschüttet. Wenn man zu dem Betroffenen in einer partnerschaftlichen Beziehung verbunden ist, so reagieren vierzig Prozent, bei fremden Menschen immerhin noch zehn Prozent. Auch können selbst Fernsehsendungen, die mit dem Leid anderer konfrontieren, den Stress auf übertragen.
Eine Langzeitstudie schwedischer und amerikanischer Forscher bei 1415 Frauen, die über Jahrzehnte immer wieder Stress empfunden hatten, erbrachte ein deutlich erhöhtes Demenzrisiko. Stress kann bekanntlich das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen wie Schlaganfall, Herzinfarkt und Bluthochdruck erhöhen, aber die neuen Ergebnisse legen den Schluss nahe, dass Stress auch das Risiko für die Alzheimersche Krankheit bzw. eine dadurch bedingte Demenz beeinflussen kann.
Der menschliche Organismus bzw. das menschliche Gehirn ist auf kurze Stresssituationen eingerichtet, die einige Sekunden dauern: Wenn sich unsere Vorfahren einem Säbelzahntiger gegenübersahen, war die Angelegenheit nach einer Minute geklärt: Entkommen oder gefressen worden zu sein. Längere Zeit anhaltender Stress jedoch, etwa die jahrelange Zusammenarbeit mit einem unangenehmen Vorgesetzten oder eine unbefriedigende Ehe, in der es immer Streit gibt, beeinflusst die Leistung unseres Gehirns äußerst negativ.
Persönlichkeit und Stress
Zum Begriff Stress
Stress leitet sich vom lateinischen Wort distingere her, das beanspruchen und einengen bedeutet (Vgl. Brockhaus 2008, S. 258f).
Nach Lazarus & Folkmann (1986, zit. nach Eppel 2007, S. 15) bezieht sich Stress „auf eine Beziehung mit der Umwelt, die vom Individuum in Hinblick auf sein Wohlergehen als bedeutsam bewertet wird, aber zugleich Anforderungen an das Individuum stellt, die dessen Bewältigungsmöglichkeiten beanspruchen oder überfordern“.
Für Becker (1990, S. 23) hat Stress hingegen nichts „mit äußeren Umständen“ zu tun. Stress ist von diesem Standpunkt aus betrachtet eine „Störung des inneren Gleichgewicht“, die einen Spannungszustand im Organismus erzeugt (Vgl. Schmale 1995, S. 203; Zapf & Dormann 2001, S. 565).
Zimbardo (1988, S. 99) bezeichnet Stress nicht nur Zustände oder Einflüsse aus der Umwelt, sondern als „Spannungsreaktionen beim Individuum“ auf „situative Bedingungen“.
Stressreaktionen
Zu unterscheiden sind grundsätzlich vorübergehende Erregungsmuster mit klar definiertem Beginn bzw. Ende, welche als akuter Stress bezeichnet werden, und kontinuierlich wirkende Faktoren, die eine chronische Form des Stresses hervorrufen. Wichtigste Komponenten im Rahmen der physiologischen Reaktionen sind der Hypothalamus, die Hypophyse und das autonome Nervensystem. Der Hypothalamus ist eine etwa daumennagelgroße Region in der Mitte der Hirnbasis, und stellt einen Teil des limbischen Systems dar, welches die menschlichen Emotionen bestimmt. Als oberstes Steuerzentrum des Hormonsystems hat der Hypothalamus über den Hypophysenstiel direkten Kontakt zur Hypophyse. Dieses etwa haselnussgroße Organ, welches aus einem Hinter- und einem Vorderlappen besteht, setzt unter Kontrolle des Hypothalamus zwei für die Stressreaktion wesentliche Hormone frei. Zum Einen das Thyroid stimulierende Hormon (TSH), welches die Schilddrüse anregt, die wiederum dem Körper mehr Energie zur Verfügung stellt. Zum anderen wird das adrenokortikotrope Hormon (ACTH) ausgeschüttet, was wiederum die Freisetzung sog. Glukokortikoide in der Nebennierenrinde provoziert. Diese sorgen für eine gesteigertes Angebot von Energie- und Energieträgern im Körper, z.B. durch vermehrte Glukogenese aus Aminosäuren in der Leber und Erhöhung der Glukosekonzentration im Blut. Auch das autonome Nervensystem wird vom Hypothalamus gelenkt . Hier werden Körperaktivitäten geregelt, die nicht der direkten Kontrolle des Individuums unterstehen. Zu unterscheiden sind hier zwei „Abteilungen“, und zwar der Sympathikus, welcher vor allem bei Aktivitäten des Körpers erregt ist, die nach außen gerichtet , wie z.B. körperliche Arbeit und Reaktion auf Stressreize, und der Parasympathikus, welcher bei den nach innen gerichteten Körperfunktionen wie Verdauung und Ausscheidung dominiert.
Beim Auftreten einer Störung des Organismus bzw. Stress aktiviert der Sympathikus umgehend das Gehirn und stellt bestimmte Verhaltensweisen des Körpers sicher: Unterbrechung der Verdauung, verstärkte Versorgung der Muskeln mit Blut, Steigerung des Sauerstofftransportes, Steigerung der Herzfrequenz, Erhöhung des Blutdrucks und Anregung des endokrinen Systems. Adrenalin und Noradrenalin, Hormone des Nebennierenmarks werden durch einen Reiz aus dem sympathischen vegetativen Nervensystem per Exozytose in die Blutbahn gegeben. Diese Katecholamine sind ausgesprochene Stresshormone, die eine sog. Flucht – oder Kampfreaktion vermitteln.
Für die Beruhigung und Entspannung nach überwundener Gefahr sorgt der Parasympathikus, es kommt zum Einsetzen der Verdauung, Verlangsamung der Atmung.
Die hormonelle Reaktion auf Stress wird bekanntlich durch die Hypothalamus-Hypophysen-Nebennieren-Achse reguliert, ein neuroendokrines System, das bei Stress aktiviert wird. Bestimmte Neuronen in einem Bereich des Hypothalamus geben den Corticotropin freisetzenden Faktor ab, der an die Rezeptoren in der Hormondrüse Hypophyse bindet, wodurch die Freisetzung eines speziellen Hormons, des adrenokortikotropen Hormons ACTH, aus der Hypophyse in den Blutkreislauf stimuliert wird. Das ACTH bindet an die Nebennierenrinde und aktiviert die Synthese einer Klasse von Hormonen, der Glukokortikoide, also des Kortisols beim Menschen bzw. Kortikosterons bei Nagetieren, die so als nachgeschaltete Auslöser für die Stressreaktion fungieren. Sie geben die wichtige negative Rückmeldung an die Hypothalamus-Hypophysen-Nebennieren-Achse, sich abzuschalten, wenn der akute Stress vorbei ist. Nun hat man herausgefunden (Ramot et al., 2017), dass Glukokortikoide noch eine weitere Regulation bewirken, wobei man eeine bisher unbekannte Population von Neuronen im Hypothalamus entdeckt hat, die den CRF1-Rezeptor auf der Zelloberfläche tragen. Diese Neuronen in diesem Bereich des Hypothalamus produzieren genau dann vermehrt Rezeptoren, wenn das Glukokortikoid-Niveau hoch ist, wenn die Stressreaktion des Körpers also bereits läuft. Diese Ergebnisse weisen darauf hin, dass es außer dem bekannten negativen Rückkopplungsmechanismus im HPA-System auch einen positiven Verstärkungsmechanismus gibt.
Dritter Stressmechanismus für langanhaltende Stressreaktion
Die stressbedingte kortikale Wachsamkeit wird durch eine erhöhte Erregbarkeit noradrenerger Neuronen aufrechterhalten, die insbesondere den präfrontalen Cortex innervieren. Allerdings ist weder die Signalachse, die die hypothalamische Aktivierung mit einer verzögerten und dauerhaften noradrenergen Erregbarkeit verknüpft, noch die molekulare Kaskaden-Gate-Noradrenalin-Synthese dadurch definiert. Ein internationales Forschungsteam (Alpár et al., 2018) hat nun einen dritten, für die verzögert eintretende Stressreaktion und vor allem die Langzeitwirkungen von Stress verantwortlichen Prozess im Gehirn identifiziert, der neben dem hormonellen und neuronalen Signalweg wirksam ist. Es scheint auch evolutionär sinnvoll, dass eine aus dem Umfeld kommenden Bedrohung auch länger bestehen kann, was vom Organismus nicht nur einen sofortigen, sondern einen dauerhaften Aufmerksamkeitszustand abverlangt.
Nach der Stressauslösung und dem Auftreten von Gefahr wird über das Hirnwasser mit einer zehnminütigen Verzögerung derjenige Hirnbereich aktiviert, der auf den Stress reagiert und für das weitere Verhalten verantwortlich ist. Dabei sind dieselben Nervenzellen auch fähig, auf diesem dritten Weg eine Stressreaktion auszulösen, deren Wirkung später auftritt und vor allem dauerhaft ist. In diesem Prozess gelangt das für die Entwicklung und Instandhaltung des Nervensystems wichtiges Molekül, der sogenannte ziliare neurotrophe Faktor (CNTF), der im Hirnwasser kreist, zur Stresszentrale. Im Hirnwasser wird der Stoff langsamer verdünnt und kann deshalb seine Wirkung länger andauernd entfalten und es kommt auch zu einem wacheren Zustand des Nervensystems mit einer höheren Reaktionsfähigkeit. Vermutlich werden bei starkem Stress alle drei Mechanismen einsetzen wirksam. Dieser dritte Mechanismus könnte auch bei der Entstehung des posttraumatischen Syndroms eine Rolle spielen, wenn also aus akutem Stress ständiger, chronischer Stress wird, und sich etwa in einem Burnout äußert.
Osteocalcin als Stressauslöser
Berger et al. (2019) haben am Mausmodell entdeckt, dass auch das Skelett eine Stressreaktion zeigen kann, und zwar schütten bei Tieren in Gefahrensituationen auch deren Knochen ein Stresshormon aus. Dieser Botenstoff spielt offenbar eine noch wichtigere Rolle für die akute Stressreaktion des Körpers als das Adrenalin, das schon vor einigen Jahrzehnten entdeckte Osteocalcin. Dieses Peptidhormon gelangt von den Knochen in den Blutkreislauf und beeinflusst zahlreiche Körperfunktionen, wobei Experimente nahelegen, dass Osteocalcin unter anderem das Erinnerungsvermögen und die Muskelfunktion verbessern, also Faktoren, die auch in Gefahrensituationen von Vorteil sind. Auch Menschen, die eine Rede halten sollten oder einem Kreuzverhör unterzogen wurden, hatten ebenfalls vermehrt die aktive Form dieses Knochenhormons im Blut. Offenbar sind die Nebennieren für eine akute Stressreaktion offenbar gar nicht so bedeutsam wie gedacht, sondern erst durch Osteocalcin zeigt der Körper eine adäquate Reaktion auf unmittelbare Bedrohungen. Man untersuchte auch, wie genau die Ausschüttung des Knochenhormons in Stresssituationen stimuliert wird, und es zeigte sich, dass wenn die Amygdala das Signal Angst aussendet, die knochenbildenden Osteoblasten den von Neuronen ausgeschütteten Botenstoff Glutamat aufzunehmen beginnen. Im Inneren der Zellen entfaltet dieser Neurotransmitter dann seine Wirkung und hemmt ein Enzym, dass das Osteocalcin normalerweise inaktiv macht. Das nun aktivierte Knochenhormon wird von den Osteoblasten freigesetzt und wirkt hemmend auf parasympathische Neuronen ein, die im Erholungsmodus des Körpers aktiv sind. Dadurch hat der für die Leistungssteigerung bei Belastung zuständige Sympathikus keinen Gegenspieler mehr und die mit der Kampf-oder-Flucht-Antwort assoziierten Reaktionen setzen ein. Die Fähigkeit des Osteocalcins, die akute Stressreaktion auszulösen, das Gedächtnis zu fördern und die Muskelfunktion zu verbessern, legt nahe, dass dieses Peptidhormon einen wichtigen Überlebensvorteil für Wirbeltiere bedeutet, die in potenziell bedrohlichen Umgebungen leben.
Bender et al. (2020) haben ebenfalls am Mausmodell gezeigt, dass unter dem Einfluss von Stress bestimmte Zellen im Gehirn den Kontakt untereinander verlieren, indem die Struktur und Funktion von Neuronen und Astrozyten verändert werden. Die sternförmig verzweigten Astrozyten, die unter anderem dazu dienen, Botenstoffe zu recyceln, ziehen einige ihrer dünnen Ausläufer von Synapsen der Neuronen zurück. Am Mausmodell hat man nun herausgefunden, dass das im Stress ausgeschüttetes Hormon Noradrenalin die Produktion des Proteins GluA1 blockiert, das für den Aufbau der Ionen-Kanäle bedeutsam ist, denn ohne dieses Protein geht der Kontakt der Neuronen untereinander verloren. Dabei führte schon ein einmaliger Stressmoment (Fuchsurin), dem die Tiere ausgesetzt wurden, zu einem schnellen, aber lang anhaltendem Rückzug der Astrozyten-Ausläufer im Mäusegehirn. Konkret reguliert Stress also die GluA1-Proteinsynthese in Astrozyten und gestaltet ihre feinen Prozesse daher um.
Ein neues Phänomen: Digitaler Stress am Arbeitsplatz
Nach einer Studie empfindet in Deutschland jeder fünfte Arbeitnehmer starken digitalen Stress durch seinen Beruf, sodass digital Gestresste öfter daran denken, ihre Arbeitsstelle oder ihren Beruf zu wechseln, und sie zeigen auch eine schlechtere Leistung und sind unzufriedener mit ihrer Arbeitsstelle. Im Projekt „Prävention für sicheres und gesundes Arbeiten mit digitalen Technologien“ wurden zwölf verschiedene Belastungsfaktoren identifiziert, etwa der gefühlte Zwang zur Omnipräsenz, das Gefühl der ständigen Erreichbarkeit und eine erwartete kürzere Reaktionszeit durch das Auflösen der Grenzen zwischen Arbeits- und Privatleben. Dabei ist nicht nur jeder dritte Befragte mindestens einem der Belastungsfaktoren stark bis sehr stark ausgesetzt, sondern fast jeder Fünfte nimmt aufgrund eines dieser Belastungsfaktoren sehr starken digitalen Stress wahr. Auch Unterbrechungen und Ablenkung durch digitale Medien lösen Stress aus, wobei sich viele Menschen mittlerweile als gläsern fühlen, da sie ihre Privatsphäre durch die berufliche Nutzung digitaler Technologien und Medien in Gefahr sehen. Digitaler Stress geht meist mit sozialen Konflikten am Arbeitsplatz, einer hohen emotionalen Anforderung sowie einer hohen Arbeitsquantität einher. Allerdings kann man durch organisationale und soziale Faktoren diesem digitalem Stress am Arbeitsplatz entgegenwirken, etwa durch einen erweiterten Handlungsspielraum hinsichtlich arbeitsrelevanter Entscheidungen sowie eine gute Beziehung zu Vorgesetzten. Projektlink: https://gesund-digital-arbeiten.de/
Zum Stresstest
Holmes & Rahe (1967) untersuchten Stress im Zusammenhang mit psychischen Belastungen und definierten ihn als Anpassungsaufwand, den bestimmte Lebensereignisse erfordern. In diesem Ansatz sind bestimmte Lebensereignisse Stressoren, auf die reagiert werden muss. Mit der „Social Readjustment Rating Scale“ und der „Schedule of Recent Experiences“ wurden dabei Messinstrumente entwickelt, die zur Messung von Stress dienen, wobei dabei auch Ereignissen wie Heirat, Verlust eines Angehörigen oder Wohnortwechsel berücksichtigt werden (vgl. Rice, 2005).
Auf der Webseite von Joachim F. Nusch findet sich eine Liste mit Stressereignissen und deren Belastungsgrad – auch wenn diese Zahlen nicht empirisch fundiert sind, haben sie doch einigen Plausibilitätswert in Bezug auf die Belastung durch Stress beim Auftreten dieser Ereignisse.
Ereignis | Wert |
Tod eines Partners | 100 |
Scheidung | 73 |
Tod eines nahen Familienmitgleids | 63 |
Gefängnis | 63 |
Verletzung oder Krankheit | 53 |
Hochzeit | 50 |
fristlose Kündigung | 47 |
Versöhnung mit dem Partner | 45 |
In Rente oder Pension gehen | 45 |
Familienmitgleid erkrankt | 44 |
Schwangerschaft | 40 |
Mobbing | 39 |
Sexuelle Probleme | 39 |
Geschäftlicher Neubeginn | 38 |
Aufstieg oder Abstieg im Job | 36 |
Ehestreit | 36 |
Kind zieht aus | 29 |
Ärger mit Schwiegereltern | 29 |
Außergewöhnlicher Erfolg | 28 |
Schulabschluß oder Start ins Berufsleben | 26 |
Änderung von Gewohnheiten | 24 |
Wechsel des Wohnorts | 20 |
Andere Arbeitsbedingungen | 20 |
Wechsel in eine neue Schule | 20 |
einen größeren Kredit aufnehmen | 17 |
Andere Schlafgewohnheiten | 15 |
Veränderungen der Essgewohnheiten | 15 |
Urlaub | 15 |
Weihnachtszeit | 12 |
Kleiner Ärger mit dem Gesetz | 11 |
Summiert man diese Ereignisse im Verlaufe eines Jahres auf, kann mein eine spezifische Gesamtbelastung bestimmen:
Mehr als 300: Vorsicht! 80 Prozent der Personen, deren Werte höher als 300 liegen, werden schnell krank. Sie sollten dringend eine Entspannungs-Technik lernen.
200 bis 299: Ihr Risiko liegt bei 50 Prozent, dass Sie in nächster Zeit an den Stressfolgen erkranken. Ziehen Sie die Bremse an im Leben und lernen Sie eine Entspannungs-Technik.
150 bis 199: Jeder Dritte mit diesen Werten bekommt Probleme mit der Gesundheit. Das können Sie ausschließen, wenn Sie lernen, sich zu entspannen.
bis 150 Punkte: Gratulation! Ihre Stressbelastung ist normal.
Zwar sind diese Bereiche nicht empirisch bestätigt, können aber einen Anhaltspunkt geben, wann Handlungsbedarf besteht.
Kurioses: Whisker Stress oder Schnurrhaare-Stress
Katzen nehmen die Welt auch über ihre Tasthaare – auch als Vibrissen oder Sinneshaare bezeichnet – wahr, die in gut durchblutetem Gewebe enden, das über zahlreiche Muskeln und Nerven verfügt. Das macht Katzen sehr empfindlich, denn schon kleinste Ablenkungen der Schnurrhaare sorgen dafür, dass Erregungsdaten über Propriozeptoren am Ende der Schnurrhaare ans Gehirn weitergeleitet und die Reize dann dort ausgewertet werden, sodass eine Katze über ihre Sinnes- und Tasthaare sogar kleinste Luftbewegungen erfassen kann. In freier Wildbahn ist das alles sinnvoll, aber in einer sicheren Umgebung wie einer Wohnung ist diese Reaktion oft überflüssig, etwa bei der Nutzung eines zu engen Fressnapfs, durch den eine Dauerreizung erfolgt und somit Stressreaktionen bei der Katze auslöst.
Literatur
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https://www.eurekalert.org/pub_releases/2018-03/cns-psc032318.php (18-03-22)
Engert et al. (2014) untersuchen die Existenz eines empathischen Stresses, definiert als eine voll ausgeprägte physiologische Stressreaktion, die allein dadurch entsteht, dass man eine Zielperson in einer stressigen Situation beobachtet, bzw. ob empathischer Stress bis zum Kern des Stresssystems, der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennieren-Achse vordringen kann. Auch untersuchte man, ob empathische Stressreaktionen durch die Vertrautheit zwischen Beobachter und Zielperson (Partner vs. Fremde), die Art der Beobachtung (real vs. virtuell) und das Geschlecht des Beobachters (weiblich vs. männlich) beeinflusst werden können. Die Probanden wurden in Zweiergruppen getestet, die mit einer geliebten Person oder einem Fremden des anderen Geschlechts gepaart waren. Während die Zielperson der Dyade einem psychosozialen Stressor ausgesetzt war, sah der Beobachter durch einen Einwegspiegel oder per Live-Videoübertragung zu. Insgesamt zeigten 26 % der Beobachter einen physiologisch signifikanten Cortisolanstieg. Dieser empathische Stress war bei intimen Beobachter-Ziel-Dyaden (40 %) und während der realen Darstellung des Stressors (30 %) stärker ausgeprägt. Empathischer Stress wurde außerdem durch interindividuelle Unterschiede in den Empathiemaßen moduliert. Trotz der höheren Prävalenz von empathischem Stress in der Partner- und der realen Beobachtungssituation traten signifikante Cortisolreaktionen auch bei Fremden (10 %) und in der virtuellen Beobachtungsmodalität (24 %) auf. Das Auftreten von empathischem Stress bis hin zur Aktivierung der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennieren-Achse, in einigen Fällen sogar bei völlig Fremden und wenn sie nur virtuell Zeuge der Notlage eines anderen werden, könnte vermutlich auch Auswirkungen auf die Entwicklung stressbedingter Krankheiten haben.
Literatur: Engert, V., Plessow, F., Miller, R., Kirschbaum, C., & Singer, T. (2014). Cortisol increase in empathic stress is modulated by emotional closeness and observation modality. Psychoneuroendocrinology, 45, 192–201.
klasse übersicht. extrem gute struktur. exzellentes animiertes bild 🙂
Danke für den aufschlußreichen Artikel. So nimmt leider der Lauf seinen Weg durch unsere Lebenszeit.
Der Artikel hilft wirklich weiter.