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Biografiearbeit

    Die beiden wichtigsten Tage deines Lebens sind der Tag an dem du geboren wurdest, und der Tag, an dem du herausfindest, warum!
    Mark Twain

    Biografiearbeit ist ein absichtsvoller, bewusster, zielgerichteter und aktiver Gestaltungsprozess, bei dem die Biografie eines Menschen im Mittelpunkt steht. Biografiearbeit meint einerseits die Beschäftigung mit der eigenen Lebensgeschichte im Sinne einer biografischen Selbstreflexion, andererseits umfasst der Begriff auch die Anleitung und Gestaltung des biografischen Arbeitens mit Individuen und Gruppen. Biografiearbeit beschäftigt sich demnach mit der Geschichte, d.h., mit der Vergangenheit einer Person, wobei oft die Hypothese im Hintergrund steht, dass in der Vergangenheit Antworten und Erklärungen für gegenwärtiges Verhalten liegen. Das von Robert Neil Butler entwickelte Life Review, also die Lebensrückschau geht davon aus, dass viele Menschen mit zunehmendem Alter den Wunsch verspüren, dem vergangenen Leben einen Sinn zu geben. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit kann persönliche Sicherheit geben, das Selbstvertrauen stärken und dabei helfen, die schwierigen Situationen des Älterwerdens besser zu bewältigen. Eine Beurteilung der erlebten Vergangenheit aus nachträglicher Sicht kann auch zu einer Integration verdrängter und verleugneter Aspekte in die Biografie führen, wobe Diskrepanzen, die sich aus einem damaligen Wollen und dem tatsächlichen Lebenslauf ergeben, aufgehoben oder zumindest geringer werden können.

    Die Vielfalt der biografischen Methode äußert sich darin, dass sie sich aus verschiedenen wissenschaftlichen Bereichen, wie der Psychologie, den Erziehungs-, den Sozial- und Literaturwissenschaften heraus begründen lässt. Weiterhin ist die Vielfalt der Methode des biografischen Arbeitens anhand der verschiedenen Einsatzorte und -formen und ihrer hohen Flexibilität bezüglich des Ablaufs, der Übungen, der Gestaltung und der Durchführung gegeben. Die Biografiearbeit ist zum Beispiel in Arbeitsfeldern wie der Jugendarbeit, Alten- und Pflegearbeit, an Schulen, Fach- und Hochschulen, in Selbsthilfegruppen für Frauen und Männer gut einsetzbar. Innerhalb dieser Arbeitsfelder kann man die Methode in verschiedenen Konstellationen, wie der Einzelarbeit, der Gruppenarbeit in Klein- und Großgruppen oder auch in der Partnerarbeit durchführen.

    Bei nachlassender Gedächtnisleistung älterer Menschen hilft etwa Biografiearbeit als Reise in die eigene Vergangenheit, Puzzleteile des Lebens zusammenzufügen. Hier wirken oft ein Gedicht, ein Bild oder ein Duft wie ein Katalysator, d.h., Erinnerungen werden geweckt, gute wie schlechte. Biografiearbeit schafft somit eine Brücke zur Vergangenheit, zu den Wurzeln eines Menschen, und wird deshalb besonders häufig in der Altenarbeit eingesetzt. Nach Butler verspüren viele Menschen mit zunehmendem Alter den Wunsch, dem vergangenen Leben einen Sinn zu geben, wobei die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit persönliche Sicherheit geben kann, das Selbstvertrauen stärken und dabei helfen kann, die schwierigen Situationen des Älterwerdens zu bewältigen. Eine Beurteilung der erlebten Vergangenheit aus nachträglicher Sicht kann auch zu einer Integration der Biografie führen.

    Aus therapeutischer Sicht ermutigt Biografiearbeit zum einen sich zu erinnern: Wo bin ich aufgewachsen? Wer waren meine Eltern und Großeltern? In welche Schule bin ich gegangen? Womit spielte ich am liebsten? Was waren meine Lieblingsgerichte? Zum anderen fördert Biografiearbeit die lebensgeschichtliche Reflexion durch den strukturierten Blick auf die eigene Lebensgeschichte. Biografiearbeit ermöglicht damit Zusammenhänge und Brüche im Lebensverlauf zu erkennen sowie Stärken und Wachstumsmöglichkeiten zu entdecken. Biografiearbeit gibt Orientierung und macht Mut, seinen weiteren Lebensweg zu gestalten. Die Methode des biografischen Arbeitens begleitet und unterstützt die Erinnernden etwa bei der Suche oder Festigung seiner Identität, bei einer Bilanzierung seines bisherigen Lebens oder dabei, rückblickend den Lebensweg bis ins Hier und Jetzt zu verfolgen und von diesem Standort aus eine Neudefinition des zukünftigen Lebens zu formen.  Biografiearbeit hilft Menschen daher auch ja zu sagen zu dem, wie ihr Leben bisher verlaufen ist, sich in ihrem Gewordensein anzunehmen. Durch die eigenständige Aufarbeitung der individuellen Lebensgeschichte erfährt die oder der Einzelne eine Persönlichkeitsentwicklung, die mit Selbstständigkeit und Eigenaktivität einhergeht. Dieses sind die vorrangigen Ziele der Biografiearbeit, die in unterschiedlichen Konstellationen (Einzel-, Gruppen- und Paararbeit) in unterschiedlichen Praxisfeldern (Familie, Beruf, Schule) und in jeder Altersstufe mit Hilfe einer großen Anzahl verschiedener aufeinander abgestimmter Übungen durchgeführt werden kann. Außerdem ist die biografische Arbeit auch in der Durchführung und in der Kombination mit anderen Methoden sehr variabel, wobei sie auf Grund ihrer Vielfältigkeit und ihrer Ziele eine hohe Relevanz für die Verarbeitung und Reflexion eigener Lebenserfahrungen in gesellschaftlichen Kontexten besitzen kann.

    Salutogene Narration bei Menschen mit Migrationshintergrund

    Beratung und Psychotherapie mit Narration entfaltet bei Menschen mit Migrationshintergrund eine besondere Kraft, denn viele Menschen kommen aus kollektiven Kulturen oder Erzähl-Gesellschaften, in denen unterschiedliche Konzepte von Identität und Problemlösestrategien vorherrschen. Die Narration stellt hier ein wichtiges Element einer stabilen Ich-Identität dar und kann als kultursensible Copingstrategie zu einer positiven Verstärkung der Beratung und Behandlung führen. Die narrative Biografie- und Identitätsarbeit hält der erzählenden Person ihre gesamte Lebensentwicklung als Spiegel vor, d. h., der Mensch lernt, seine Lebenslinie eventuell als Gesamtheit zu verstehen und die möglicherweise entstandenen Lücken in Worte zu fassen, womit für unverarbeitete Erinnerungen nachträglich Gefühle entwickelt werden, mit denen man nun besser umgehen kann. Dabei werden kollektive und über Generationen entstandene Traumata oder andere wichtige Ereignisse in die Narration einbezogen, sodass die Klientin oder der Klient in den jeweiligen Settings, eine Erzählfunktion zu entwickeln und Zusammenhänge zwischen den eigenen Erlebnissen und z.B. denen der eigenen Familie oder des Kollektivs zu erkennen, um im Idealfall das Kohärenzgefühl zu stärken. Narratives Erzählen hat nur Sinn, wenn es von der Überzeugung getragen wird, dass Menschen die Kraft und Fähigkeit haben, mit Konflikten und Belastungen umzugehen  und bereit sind, daran zu wachsen. Die Grundlage des Ansatzes ist die durch Kultur und Sozialisation gegebene Kraft des Erzählens und Heilens, vor allem bei kollektiven Kulturen, die noch stärker als z.B. westliche Kulturen in ihrem Alltag darauf zurückgreifen. Erinnerungen werden z.B. in orientalisch-patriarchalischen Gesellschaften nicht individuell an ein bestimmtes Ereignis gebunden, sondern an ein Kollektiv wie Vorfahren, Familie oder Stammesstrukturen. Verstehen, Handhabbarkeit und Sinnhaftigkeit individueller Ereignisse werden damit im Zusammenhang mit kollektiven Ereignissen gesehen und aus individueller und kollektiver Dimension Kohärenzgefühle entwickelt (Salutogene Narration zur Biografie- und Identitätsarbeit in der Beratung und Psychotherapie bei Menschen mit Migrationshintergrund (Kizilhan, 2013).

    Übrigens sind viele Melodien Teil der Identität und somit des autobiographischen Gedächtnisses, wobei diese auch Jahrzehnte später noch aktiviert werden können. Selbst bei Menschen mit Alzheimer-Krankheit sind Melodien oftmals das letzte, woran sich diese noch erinnern. Andere Dinge, wie die binomischen Formeln oder die Texte neuer Pop-Songs, hat man hingegen schon nach ein paar Tagen wieder vergessen. Vor allem an Lieder, die man während der Jugend hörte, kann man sich besonders gut erinnern, denn in der Jugend, vor allem während der Pubertät, reagieren Menschen besonders emotional auf Musik. Viele Dinge passieren das erste Mal und Musik spielt auch als sozialer Faktor eine große Rolle, denn man hört diese gemeinsam mit Freunden, man geht auf Konzerte und in Clubs, sodass Melodien mit prägenden Ereignissen verknüpft werden, bestimmte davon werden darüber hinaus emotional aufgeladen. Dadurch landen manche Liedtexte und Melodien im autobiographischen Gedächtnis, werden wie andere prägende Ereignisse des Lebens sicher verwahrt und als Teil der Identität wahrgenommen. Rhythmus, Melodie und Text werden dabei von unterschiedlichen Arealen des Gehirns verarbeitet, d. h., viele Teile des Gehirns sind beim Musikhören involviert, was das Musikgedächtnis besonders robust macht, denn selbst wenn die Gehirnleistung in bestimmten Gehirnarealen nachlässt, sind noch genügend Informationen an anderer Stelle gespeichert. Hinzu kommt, dass manche dieser Melodien aus der Jugendzeit überraschend einfache Melodien aufweisen, was die Lieder noch einprägsamer und das Erinnern noch leichter macht.


    Anmerkung: Ereignisse im Leben eines Menschen prägen sich ein, indem die einströmenden Stimuli verschiedene Verarbeitungsebenen im Gehirn durchlaufen, von der Wahrnehmung bis hin zur rationalen Bewertung der Abläufe. Dadurch werden aus diesen einströmenden Informationen Erinnerungsepisoden zusammengesetzt, die auf der Zeitlinie des Lebens irgendwann autobiografisch abspeichert werden. Allerdings werden diese gespeicherten Daten im Gedächtnis nicht einfach konserviert, sondern sie werden immer wieder verändert, indem etwa Lücken ausgefüllt gefüllt werden. Bei jedem Abrufen wird also ein einmal erlebtes Ereignis in einen neuen Kontext gerückt, dadurch verzerrt und mit neuen Details versehen. Da sich Menschen an ein Ereignis im Leben oft mehrmals erinnern, kommt es zu einem Stille-Post-Phänomen, sodass am Ende ein ganz anderes Ereignis herauskommen kann und das nichts mehr mit dem tatsächlich Erlebten zu tun hat. Siehe dazu die Problematik der falschen Erinnerungen!


    Literatur

    Glinka, H.-J. (2001). Biographie – eine erkenntnisgenerierende und praxisrelevante Ressource für die soziale und sozialpädagogische Arbeit (S. 207-226). In Otto, H.-U. & Thiersch, H. (Hrsg.), Handbuch Sozialarbeit/Sozialpädagogik. Neuwied: Luchterhand.
    Gudjons, H., Wagener-Gudjons, B. & Pieper, M. (2008). Auf meinen Spuren. Übungen zur Biografiearbeit. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.
    Kizilhan, J. I. (2013). Salutogene Narration zur Biografie- und Identitätsarbeit in der Beratung und Psychotherapie bei Menschen mit Migrationshintergrund. Klinische Verhaltensmedizin + Rehabilitation, 26, 120-130.
    http://de.wikipedia.org/wiki/Biografiearbeit (10-02-21)
    http://methodenpool.uni-koeln.de/download/biografiearbeit.pdf (12-09-05)
    https://www.regenbogen.de/nachrichten/magazin/20210927/musik-und-erinnern-so-speichert-unser-gehirn-melodien (21-09-27)


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