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Theory of Mind

    Die Theory of Mind beschreibt die Fähigkeit, sich in die Gedanken anderer hineinversetzen zu können, d. h., die Gedanken und Überzeugungen anderer logisch erschließen zu können. Die Entwicklung der Theory of Mind ist ein wichtiger Baustein in der Entwicklung von Kindern. Mit dem Begriff der Theory of Mind beschreibt man in der Psychologie ein kognitives System, das Menschen erlaubt, sich selbst und anderen mentale Zustände zuzuschreiben, was sowohl für einfachere Zustände wie beispielsweise Schmerzen als auch komplexere Zustände wie das Verstehen von Überzeugungen gilt. Die Fähigkeit zur Zuschreibung von mentalen Zuständen baut dabei auf dem Wissen auf, dass jeder Mensch die Welt aus einer ganz eigenen also subjektiven Perspektive repräsentiert, wobei es auf der Basis dieses Verständnisses gelingen kann, Handlungsvorhersagen für das Gegenüber abzugeben und gegebenenfalls das eigene Verhalten in einer Interaktion entsprechend anzupassen. Verwandt mit der Theory of Mind ist die Annahme von Metakognitionen, die das Wissen über eigene kognitive Prozesse und die Fähigkeit beschreiben, diese kognitiven Prozesse zu kontrollieren, wobei es dabei vordringlich um Selbstzuschreibungen mentaler Zustände geht. In Abgrenzung zur Empathie bezieht sich dieser Begriff der Perspektivenübernahme vorwiegend auf den kognitiven Prozess des Hineinversetzens in ein Gegenüber, nicht das Mitfühlen mit dem anderen.

    Der Ansatz der Theory of Mind bezieht sich demnach letzlich auch auf das Verständnis von Menschen für das Funktionieren des menschlichen Verstandes und den Einfluss, den dieser auf das jeweilige Verhalten ausübt. Die Theory of Mind ist somit meist eine naive Psychologie, mit deren Hilfe sich Menschen die mentalen Zustände und inneren Prozesse anderer Menschen zu erklären versuchen. Dadurch sind sie in der Lage, die Gefühle, Wahrnehmungen und Gedanken anderer einzuordnen und deren Verhaltensweisen einzuschätzen.

    In Psychologie und Hirnforschung versteht man unter „Theory of Mind“ die Fähigkeit, Bewusstseinsvorgänge wie Gefühle, Bedürfnisse, Ideen, Absichten, Erwartungen und Meinungen anderer Personen zu antizipieren bzw. das eigene und das Verhalten anderer durch Zuschreibung mentaler Zustände zu interpretieren. Menschen besitzen bekanntlich ein besonderes Einfühlungsvermögen, denn um andere Menschen zu verstehen, müssen sie fremde Gedanken, Wünsche und Gefühle genauso entziffern wie versteckte Absichten oder unterschwellige Meinungen. Für diese anspruchsvolle Fähigkeit im menschlichen Gehirn ist ein ganzes Netzwerk verschiedener Areale zuständig das als Theory-of-Mind-Netzwerk (TOM) bezeichnet wird. Bisher wurden darunter hoch komplexe geistige Leistungen verstanden, doch neuere Experimente legen nahe, dass dieses System schon bei einfachen Handlungen eine wichtige Rolle spielt. Momentan versuchen Forscher die Funktionsweise im Detail zu verstehen, also welche Komponenten eher für Wünsche, welche für die Meinungen oder die Stimmungen anderer zuständig sind. Nach Ansicht von Neurowissenschaftlern kann man aber zwei Arten der Theory of Mind unterscheiden, und zwar eine kognitive im Sinne von „ich weiß, was du weißt“, und eine zweite affektive im Sinne von „ich weiß, was du fühlst“. Manche Menschen wissen daher zwar ganz gut, wie die anderen denken, aber sie können nicht emotional nachvollziehen, wie die anderen Menschen sich fühlen, sodass sie kein empathisches Verhalten und kein echtes Mitgefühl zeigen können.

    Für Erwachsene ist es manchmal einfach zu bemerken, wann Mitmenschen aus falschen Überzeugungen heraus handeln, wobei diese Form von Erkenntnis als elementar für die soziale Kompetenz gilt.

    Bereits in einer vorgeschichtlichen Stammesgruppe war es wichtig zu wissen, wie die Hierarchie aufgebaut ist, wer Freund und wer Feind ist und dass eine Hand die andere wäscht, d.h.,  Allianzen zu bilden und zu kooperieren gehörte schon damals zu den Fähigkeiten, die das Überleben in einer Gemeinschaft sicherten. Die dabei entwickelte Theory of Mind half den Menschen einzuschätzen, wie ein anderer wohl reagieren wird, wenn man ihn um Hilfe bittet oder wenn man ihn bedroht. Hilfsbereitschaft, Mitgefühl oder Rücksichtnahme sind daher nicht primär höfliche, sondern überlebenswichtige Werte einer Gesellschaft, wobei Kulturpessimisten heute befürchten, dass Mitgefühl kein anzustrebender Wert mehr ist, sondern die Hilfsbereitschaft nachlässt, da sich viele Menschen auf dem Egotrip befinden. Um die Fähigkeit einer Theory of Mind zu entwickeln, müssen Menschen in der Lage sein, eine Außenperspektive zu sich selbst einzunehmen, wobei das nur gelingt, wenn man die Innenperspektive des anderen akzeptiert.

    Anmerkung: Der Mensch ist eigentlich von Natur aus sozial und bereit zu helfen, wobei die menschliche Kultur vor allem durch Kooperation entstanden ist. Allerdings ist der Mensch von der Evolution her nicht auf Situationen angelegt, in denen er auf Fremdes trifft, sondern er ist darauf angelegt, vor allem jenen Menschen zu helfen, die er gut kennt. Dabei dürfen das auch nicht zu viele sein, denn der Mensch hat sich in überschaubaren Gruppen entwickelt, wie es sie etwa noch auf dem Land gibt. Das Leben in der Stadt läuft unter völlig anderen Bedingungen ab, sodass die menschliche Hilfsbereitschaft in Extremsituationen auf engere Beziehungen beschränkt bleibt.

    *** Hier KLICKEN: Das BUCH dazu! *** Menschen sind bekanntlich soziale Frühgeburten und kommen mit einem Stirnhirn zu Welt, das bei der Geburt noch unreif ist und biologisch gesehen noch nicht funktionieren kann. Doch genau in diesem Areal speichern Menschen später die Informationen und Überzeugungen über sich selbst ab und entwickeln ihre Selbstnetzwerke. Damit sich solche Netzwerke entwickeln, ist die Resonanz der Umwelt vor allem in den ersten Jahren bedeutsam. Säuglinge brauchen daher Resonanz auf ihr Verhalten, denn erst die Reaktionen der Bezugspersonen zeigen dem Säugling, dass er ein Jemand ist. In diesem Prozess entsteht ohne Empathie kein Selbst, denn es zeigt sich bei vielen Menschen, die als Erwachsene eine große Leere oder Traurigkeit empfinden, dass in den ersten Lebensmonaten niemand da war, der ihnen etwas zurückgegeben hat. Wenn Kinder keine Empathie erfahren, kann sich kein stabiles Selbst bilden. Wenn ein Kind in den ersten fünf Jahren viele Anregungen erhält, Aufgaben gestellt bekommt, an denen es sich bewähren kann, dann werden im Gehirn dieses Kindes viele Gene für Nervenwachstumsfaktoren aktiviert und lassen das Gehirn dieses Kindes wachsen. Wird ein Kind aber vernachlässigt und bekommt keine emotionale Zufuhr, erlebt keine Fürsorge, dann werden Stress-Gene aktiviert, d. h., das Kind hat das Gefühl, nicht gut genug zu sein und nicht gemocht zu werden.

    Bisher ging man davon aus, dass Kinder diese Gabe mit ungefähr vier Jahren entwickeln, doch nach neueren Untersuchungen merken schon Kleinkinder im Alter von zwei Jahren, wenn sich ein anderer irrt und können sein Verhalten entsprechend vorhersagen. So nimmt man heute auch an, dass Geschwister Glück und Partnerschaft beeinflussen, denn wer unter Geschwistern aufwächst oder schon früh in einer Kindergruppe wie im Kindergarten interagiert, der merkt schnell, dass andere Kinder anders denken und macht sich darüber erste Gedanken. Wenn Eltern jedoch nur ein Kind haben, dann dreht sich oft alles um das Kind, d.h., es hat nicht mehr das Gefühl, Teil einer Gemeinschaft zu sein, sondern denkt, es sei der Mittelpunkt der Welt. Solche Kinder haben wenige Lernanreize, die Innenperspektive anderer Menschen zu ergründen, um deren Verhaltensweisen ihnen gegenüber vorherzusagen, denn oft reicht es, einen Wunsch einfach zu äußern, damit er erfüllt wird.

    Heute wird diese Fähigkeit des Perspektivenwechsels auch manchen Tieren wie Primaten und manchen Vogelarten zugesprochen. Kognitionsbiologen bemühen sich seit einiger Zeit, bei Menschenaffen und intelligenten Tieren nachzuweisen, was experimentell nicht  einfach ist, da sich auch Tiere an der Kopf- oder Augenbewegung von Artgenossen orientieren können. Bugnyar et al. (2016) nutzten in einer ausgeklügelten Experimentieranordnung aus, dass Raben Futter vor Artgenossen verstecken. Zunächst wies man nach, dass Raben Futter nur dann gut verstecken, wenn dominante Artgenossen sichtbar und gleichzeitig hörbar sind. In einem zweiten Schritt zeigte man diese Raben ein Guckloch, das ihnen erlaubte, in in Nachbarraum zu spähen. Wenn dieses Guckloch in der Folge offen war und die Raben vom Nachbarraum Laute anderer Raben hörten, versteckten sie ihr Futter in der gleichen Weise, wie wenn ihre Artgenossen sichtbar wären. Da die Anwesenheit von Artgenossen beim offenen Guckloch über Playback simuliert wurde, konnten die Raben definitiv nicht das Verhalten von Artgenossen beurteilen, dennoch agierten sie, als ob sie beobachtet würden, d. h., sie besaßen offenbar ein Verständnis der Sichtweise der anderen.

    Die Informationsweitergabe zwischen Individuen bildet die Basis aller Langzeittraditionen und Kulturen und spielt eine wesentliche Rolle in der Anpassung an sich verändernde Umweltbedingungen, wobei auch Tiere einander häufig beobachten, um neue Informationen etwa über potentielle Nahrungsquellen oder Raubfeinde zu erhalten. Solche sozialen Interaktionen reichen von aggressiven Zusammentreffen bis hin zu freundlichen Begegnungen, die wesentlich für das Entstehen enger sozialer Beziehungen sind. Bisher war bekannt, dass räumliche Nähe zwischen Artgenossen das Lernen fördern kann, jedoch war kaum etwas über die Rolle bekannt, die unterschiedliche soziale Beziehungen beim Beobachten und Lernen spielen können. In einer Studie (Kulahci et al., 2016) wurde das Sozialverhalten von Raben analysiert und es zeigte sich, dass nicht alle sozialen Verbindungen gleichermaßen das Beobachten und das Lernen voneinander beeinflussen, sondern dass vor allem Netzwerke, die auf freundlichen Interaktionen beruhen wie das nahe Beieinandersitzen oder einander das Gefieder zu kraulen, maßgeblich dafür verantwortlich sind, wie Information in einer Rabengruppe weitergegeben wird. Man hat dabei Raben mit einer Aufgabe konfrontiert, die sie nicht kannten und für deren Lösung nur ein Tier angelernt wurde. Ausgehend von diesem Individuum wurde dann beobachtet, wie sich die Lösung der Aufgabe als Wissen in der Gruppe verbreitet. Dabei zeigte sich, dass enge soziale Beziehungen die gegenseitige Toleranz erhöhen, was dazu führte, dass Tiere mit positiven Beziehungen zueinander einander auch aus nächster Nähe bei der Aufgabenbewältigung beobachten durften. Raben, die enge Beziehungen zu jenen Artgenossen pflegten, die die Aufgabe bereits lösen konnten, waren früher in der Lage diese Aufgabe zu meistern als diejenigen, die kaum enge Beziehungen zu anderen hatten. Insbesondere bei jungen Raben bestanden diese engen Beziehungen, vor allem zwischen Geschwistern, was auch die Bedeutsamkeit verwandtschaftlicher Bindungen zeigt, die beim Lernen helfen.

    Aus Verhaltensstudien geht hervor, dass sich auch Primaten bis zu einem gewissen Grad in die Gedankenwelt anderer hineinversetzen können, d. h., sie erkennen deren Motive und begreifen, was diese wissen. So konnte man nun auch zeigen, dass Menschenaffen sogar begreifen, dass sich jemand irren muss, wenn er an etwas glaubt, was nicht mit der Realität übereinstimmt. An Experimenten dazu nahmen Schimpansen, Bonobos und Orang-Utans teil, wobei die Tere mit zwei Versionen einer Trennwand vertraut gemacht wurdeneiner blickdichten und einer, die aus einem leicht durchsichtigen Material bestand, sodass die Tiere noch erkennen konnte, was sich dahinter abspielte. Man zeigte den Probanden eine Szene, bei der die Augenbewegungen der Zuschauer durch Eyetracker erfasst wurden, da sich in diesen Augenbewegungen die Erwartungen der Tiere widerspiegeln: Wenn sie glauben, dass jemand gleich ein bestimmtes Objekt ergreifen wird, betrachten sie dieses auffällig häufiger. Die Ergebnisse zeigen, dass sich die Tiere bei ihren Erwartungen zum Wissen und Verhalten anderer auch auf ihre eigenen Erfahrungen verlassen (Kano et al. 2019).

    Experimente zur Theory of mind

    Getestet wird die Entwicklung dieser kognitiven Fähigkeit mit einer Reihe von Experimenten, etwa mit der False-belief-Aufgabe, die von Wimmer & Perner (1983) entwickelt wurde. Dabei sahen Kinder, wie eine Person beispielsweise ein Buch in einen gelben Koffer legte, und anschließend beobachteten sie, wie eine andere Person das Buch in der Abwesenheit der ersten aus dem gelben Koffer nahm und in einen roten Koffer legte. Schließlich wurden die Kinder gefragt, in welchem der Koffer die erste Person nach dem Buch suchen würde. Dabei antworteten 86 Prozent der Sechs- bis Neunjährigen richtig, über die Hälfte der Vier- bis Sechsjährigen, aber kein Kind, das jünger war. Das bedeutet vermutlich, dass im Alter von vier bis fünf Jahren Kinder zwischen Glauben und Realität unterscheiden, also verstehen, dass es Überzeugungen geben kann, die nicht der Realität entsprechen. Manche vermuten auch, dass  jüngere Kinder diese doch komplexen Aufgaben zum Teil einfach noch nicht verstehen. In einfachen Aufgaben mit wenig Ablenkungsmöglichkeiten und geringen Anforderungen an das Sprachverständnis können auch dreijährige Kinder unter Umständen schon richtige Antworten in den False-belief-Aufgaben geben, wobei bereits Zweijährige fähig sein können, anderen eine falsche Überzeugung zuzuschreiben. Die Entwicklung der Theory of Mind bei Kindern hat auch mit der Gehirnentwicklung zu tun, denn die Fähigkeit, Überzeugungen anderer einzuschätzen, ist auch eine Funktion, die sich aus dem Zusammenspiel verschiedener kognitiver Fähigkeiten ergibt wie etwa dem Gedächtnis, der Aufmerksamkeit, der Sprache, der Gesichts- und Blickerkennung sowie der Fähigkeit, auch Kausalzusammenhänge zu begreifen. Im Rahmen einer Studie (Wiesmann et al., 2017) hatte man überprüft, warum Kleinkinder sich erst ab einem Alter von etwa vier Jahren in andere Menschen hineinversetzen können, denn erst dann bildet sich eine entscheidende Faserverbindung, eine Art Datenautobahn im Gehirn, heraus. In der Studie untersuchte man 43 Kinder im Alter von drei und vier Jahren und führte zwei Standardtests zur „Theory of Mind“ durch. Während einem der Tests wurde vor den Augen der Kinder eine Schokoladenbox mit Stiften gefüllt und die Kinder gefragt, was andere wohl in den Box vermuten würden, wobei die Dreijährigen „Stifte“ antworteten, die Vierjährigen hingegen „Schokolade“. Bei Kindern unter vier Jahren ist offenbar der Fasciculus Arcuatus zwischen einer Region im hinteren Schläfenlappen und einem Areal im Frontallappen im vorderen Großhirn noch nicht völlig ausgebildet. Bei allen Dreijährigen fehlte diese Verbindung im Gehirn, die Vierjährigen hatten sie.

    Grosse Wiesmann et al. (2020) haben sich angesichts dieser Tatsachen, dass bei einer nonverbalen Testung sogar Säuglinge bereits vor dem Alter von zwei Jahren Handlungserwartungen zeigen, die mit den Überzeugungen anderer kongruent sind, die Frage gestellt, ob diese Verhaltensweisen vielleicht nur unterschiedliche Systeme für das Verständnis des Geistes anderer widerspiegeln. Sie konnten nun zeigen, dass diese Fähigkeiten durch die Reifung unabhängiger Hirnnetzwerke unterstützt werden, was auf unterschiedliche Systeme für explizite verbale Theory of Mind und frühe nonverbale Handlungserwartungen hindeutet. Untersucht wurden diese Zusammenhänge mithilfe eines Videoclips, in dem eine Katze zu sehen ist, die eine Maus dabei beobachtet, wie sie in einer Kiste verschwindet. Anschließend kehrt die Katze der Kiste für einen Moment den Rücken zu, die Maus huscht unbemerkt in die benachbarte Box, und als die Katze sich wieder der Szenerie widmet, will sie nach ihrer Beute schauen und läuft auf die erste Kiste zu. Erst Vierjährige sind in der Lage, die Frage, wo die Katze nach der Maus suchen wird, richtig zu beantworten, d. h., im Alter von vier Jahren sind die entsprechenden Hirnregionen dafür ausgereift. Mithilfe der Eye-Tracking-Methode analysierte man das Blickverhalten und stellte fest, dass sowohl die Drei- als auch Vierjährigen richtig voraussehen konnten, wo die Katze nachschauen wird. Sie erkannten also, dass die Katze die Maus noch immer in ihrem ersten Unterschlupf erwartet und dort suchen wird, obwohl sie selbst wussten, dass sich die Maus an der anderen Stelle befindet. Als man die Dreijährigen explizit danach fragte, wo die Katze nach der Maus suchen werde, gaben sie die falsche Antwort, d. h., sie konnten zwar mit ihrem Blick richtig vorhersagen, wo die Katze suchen wird, dies aber in einer Frageform nicht beantworten. Erst Vierjährigen gelang es im Schnitt, die richtige Antwort zu geben. Das erklärt sich also daraus, dass bei beiden Entscheidungsprozessen, der non-verbalen Variante über den Blick und der verbalen über die Antwort, andere Hirnstrukturen beteiligt sind. Man kann hier also Areale für die implizite und die explizite Theory of Mind unterscheiden, wobei beide Bereiche zu unterschiedlichen Zeitpunkten so weit entwickelt sind, dass sie ihre Funktionen erfüllen können. Im supramarginalen Gyrus, der Region für die non-verbale Perspektivübernahme, ist der Cortex bereits früher entsprechend weit ausgereift. Damit können bereits Dreijährige die Handlungen anderer vorhersehen, doch erst im Alter von vier Jahren sind dann der temporoparietale Übergang und der Precuneus entsprechend herangereift, also jene Regionen, durch die man verstehen kann, was andere denken und nicht nur, was sie fühlen und sehen oder wie sie handeln werden. Kurz: In den ersten drei Lebensjahren scheinen also Kinder noch nicht zu verstehen, was der andere denkt und dass das womöglich falsch ist. Es scheint einen Mechanismus in der frühen Kindheit zu geben, eine frühe Form der Perspektiveinnahme, bei dem man einfach den Blick des anderen übernimmt. In dieser Entwicklungsphase ist ein Kind also schlicht darauf angewiesen, das zu übernehmen, was etwa die Eltern wissen und sehen.

    Osterhaus & Koerber (2021) konnten nun nachweisen, dass Kinder rund um das erste Schuljahr herum verstehen, dass es zwischen Menschen zu Missverständnissen kommen kann. Dazu wurden die Kinder zum ersten Mal im Kindergarten interviewt und dann bis ans Ende der Grundschulzeit begleitet, wobei man jährlich ihre Kompetenzentwicklung gemessen hat. Auf diese Weise ließ sich sehr genau verfolgen, wann Entwicklungsschritte auftreten und wovon diese abhängen. Die SchülerInnen bekamen Aufgaben gestellt, etwa die Geschichte über ein Mädchen, dass eine Überraschungsparty versehentlich ausplaudert, wobei knapp 90 Prozent der Neunjährigen schon erkennen, dass solche Situationen nicht auf Absicht beruhen. Diese Fähigkeit scheint auf einen relativ simplen Prozess zurückzugehen, bei dem Kinder das, was in ihrem sozialen Umfeld passiert, mehr oder minder automatisch wahrnehmen und bewerten. Und je mehr Erfahrung sie hierin haben, desto besser scheint diese Bewertung zu funktionieren. Andere Fähigkeiten scheinen sich aber nicht in erster Linie durch ein Mehr an Erfahrung zu entwickeln, denn so hängt das Verständnis davon, dass zwei Menschen dieselbe Information anders interpretieren, nicht mit dem Alter zusammen, mit dem einzelne Kinder diesen grundlegenden Meilenstein im Verständnis anderer erlangten. Nur rund 60% der Neunjährigen lösten eine entsprechende Aufgabe korrekt. Stattdessen hing diese Fähigkeit mit der Intelligenz der Kinder zusammen, denn zum Ende der Grundschule schnitten intelligentere SchülerInnen bei den entsprechenden Tests besser ab. Darüber hinaus zeigte sich, dass diese Einsicht eine wesentliche Grundlage ist für viele weitere Entwicklungen in der Fähigkeit, andere Menschen zu verstehen. Zu den komplexen Fähigkeiten, die sich im Verlauf der Grundschule entwickeln, gehört Sarkasmus zu erkennen, die Gefühle anderer an den Augen abzulesen, sich in die Gedankenwelt eines anderen zu versetzen und einen Fauxpas auszumachen. Für Erziehende es deshalb als Lernziel wichtig, mit Kindern entsprechende Situationen durchzusprechen, ihnen zu erklären, warum die Beteiligten Bestimmtes denken und es an die Erfahrungswelt der Kinder rückkoppeln. Auch sollte man Kindern die passenden Begriffe dafür beibringen, denn wenn ein Grundschulkind an der Augenpartie eines Menschen nicht ablesen kann, dass dieser durchsetzungsfähig ist, liegt dies wahrscheinlich daran, dass es keinen Begriff von diesem Zustand hat. Gerade bei Konflikten ist es wichtig, dass Kinder über die nötigen Tools verfügen, um sich in andere hineinzuversetzen und Konflikte so effektiv zu lösen.

    Eine wichtige Grundlage für die Theory of Mind istdaher  auch die Sprachentwicklung. Schon Kinder mit zwei Jahren benutzen Worte, die Emotionen beschreiben – allerdings meist ihre eigenen. Mit etwa drei Jahren fangen Kinder dann an, auch kognitive Ausdrücke wie „Ich denke“, zu verwenden. Die Fähigkeit, eigene Gedanken, Wünsche und Absichten zu haben, ist eine wichtige Voraussetzung dafür, dass sich Verständnis für Überzeugungen anderer herausbilden kann (siehe Info-Kasten). Aufgaben zur Theory of Mind, die sprachlich ablaufen, bewältigen Kinder erst im Alter von vier Jahren, wobei dieses erste Level der Theory of Mind auch Affen zu beherrschen scheinen, denn sie lassen etwa beim Futter immer dem dominanten Affen den Vortritt. Wenn man aber einem nicht dominanten Affen im Experiment eine Situation zeigt, aus der klar wird, dass der dominante Affe eine Futterquelle nicht sieht, dann rennt dieser los und holt sich das Essen, und signalisiert damit: „Ich weiß, dass er nicht weiß“, was offenbar auch ohne Sprache funktioniert. Aber wenn es komplexer wird, etwa „Er denkt, dass sie denkt, dass er denkt“, dafür benötigt man die Sprache als strukturgebendes Mittel. Alle Wenn-dann-Beziehungen, vor allem, wenn sie über das Hier und Jetzt hinausgehen, kommen offenbar ohne die Sprache nicht aus.

    Jürgen Langenbach weist in einem Artikel darauf hin, dass etwa in der Kurzgeschichte Anton Tschechows „Ein Chamäleon“ die Grundzüge der  „theory of mind“ zu finden sind. Die Erzählung handelt von der Macht: „Der Polizeiaufseher Gorelow kommt irgendwo auf dem Land in eine Situation, in der ein Mann von einem Hund in die Hand gebissen worden ist, der Mann will Schadenersatz, und er will Strafe für den Hund. Gorelow hält beides für gerechtfertigt und befiehlt, den Hund zu erschlagen. Aber vorsichtshalber fragt er die Herumstehenden, ob jemand wisse, wem der Hund gehöre. „Dem General Shigalow“, antwortet einer, Gorelow schwenkt um, nimmt Partei für den Hund (bzw. den Herrn) und gegen den Gebissenen. Ein Zweiter in der Menge dementiert: Der General habe doch ganz andere Hunde. Gorelow schwenkt wieder um, und so geht die Geschichte dahin, man wird hineingezogen in die Person des Polizeiaufsehers – ob nun voll Verständnis oder Abscheu –, man fühlt und denkt mit ihm mit. Exakt das sind die beiden Bestandteile der „theory of mind“ (ToM). Die bezeichnet das für das soziale Leben grundlegende Vermögen, sich in andere hineinzuversetzen und das eigene Verhalten daran zu orientieren. Das ist nicht einfach – man muss zunächst lernen, dass andere erstens andere sind und zweitens doch auch so, wie man selbst ist. Es braucht Einfühlungsvermögen, es braucht Mitdenken, …“

    In Experimenten zeigte sich, dass die Qualität der Literatur entscheidend ist, ob sie als Gehirntraining geeignet ist, denn in der guten Literatur bleibt vieles ungesagt und schwingt zwischen den Zeilen mit, Wendungen sind weniger vorhersehbar, Gut und Böse verschwimmen, jeder Protagonist bringt in seine Geschichte eine eigene, oft widersprüchliche Vorstellungswelt mit. Erst das ermöglicht es LeserInnen, bei der Lektüre verschiedene Perspektiven einzunehmen, d. h., die Zweideutigkeit guter Literatur ist näher am richtigen Leben, weshalb gute Literatur die theory of mind auch mehr trainiert als seichte Unterhaltungsliteratur oder trockene wissenschaftliche Texte.

    Literatur

    Bugnyar, T., Reber, S. A. & Buckner, C. (2016). Ravens attribute visual access to unseen competitors. Nature Communications, 7, doi:10.1038/ncomms10506.
    Grosse Wiesmann, Charlotte, Friederici, Angela D., Singer, Tania & Steinbeis, Nikolaus (2020). Two systems for thinking about others’ thoughts in the developing brain. Proceedings of the National Academy of Sciences, doi:10.1073/pnas.1916725117.
    Kano, Fumihiro, Krupenye, Christopher, Hirata, Satoshi, Tomonaga, Masaki & Call, Josep (2019). Great apes use self-experience to anticipate an agent’s action in a false-belief test. Proceedings of the National Academy of Sciences, doi:10.1073/pnas.1910095116.
    Kulahci, I. G., Rubenstein, D. I., Bugnyar, T., Hoppitt, W., Mikus N., & Schwab C. (2016). Social networks predict selective observation and information spread in ravens. Royal Society Open Science, doi: 10.1098/rsos.160256.
    WWW: http://rsos.royalsocietypublishing.org/content/3/7/160256 (16-07-07)
    Langenbach, J. (2013). Psychologie: Werdet gute Menschen! Lest gute Bücher! Die Presse vom 4. Oktober 2013.
    Osterhaus, C. & Koerber, S. (2021). The development of advanced theory of mind in middle childhood: A longitudinal study from age 5 to 10 years. Child Development, doi:10.1111/cdev.13627
    Wimmer, H., & Perner, J. (1983). Beliefs about beliefs: Representation and constraining function of wrong beliefs in young children’s understanding of deception. Cognition, 13, 103–128.
    Wagner, B. (2011). Bei mehr als 150 Kontakten macht das Gehirn dicht. Welt online vom 15. Dezember 2011.
    Wiesmann, C. G., Schreiber, J., Singer, T., Steinbeis, N. & Friederici, A. D.  (2017). White matter maturation is associated with the emergence of Theory of Mind in early childhood. Nature Communications, doi: 10.1038/ncomms14692.
    https://www.dasgehirn.info/denken/im-kopf-der-anderen/theory-of-mind-2013-ein-kinderspiel (12-11-21)
    http://www.berliner-zeitung.de/25002272 (16-11-01)
    https://www.hr-inforadio.de/programm/das-interview/das-interview-mit-joachim-bauer-neurowissenschaftler-und-psychiater,psychiater-neurowissenschaftler-joachim-bauer-100.html (19-12-30)

     


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