Präventiverziehung

Präventiverziehung ist ein Begriff aus der pädagogischen Psychologie und Pädagogik, der sich auf Erziehungs- und Bildungsmaßnahmen bezieht, die darauf abzielen, unerwünschte Entwicklungen frühzeitig zu verhindern, bevor sie sich manifestieren oder verschlimmern. Der Begriff verbindet Elemente der Prävention mit erzieherischen Zielen und Praktiken, und er unterscheidet sich dadurch von Interventionen, die erst eingegriffen werden, wenn Probleme bereits deutlich erkennbar sind. Der Begriff Präventiverziehung geht auf lat. praevenire (zuvorkommen) zurück, also das Bemühen, Erziehungsschwierigkeiten, Fehlverhalten oder psychosoziale Probleme vorzubeugen. In dieser Sichtweise soll Erziehung nicht primär reaktiv sein, sondern proaktiv und gestaltend. Präventiverziehung umfasst sowohl strukturelle als auch alltagspraktische Gestaltung von Lebenswelten, in denen Heranwachsende leben, lernen und sich sozialisieren. Ziel ist es, Bedingungen so zu wählen bzw. zu schaffen, dass Risikofaktoren reduziert werden und Schutzfaktoren gestärkt werden.

Wesentliche Merkmale und Anliegen der Präventiverziehung

Sie richtet sich vor dem Auftreten von Problemverhalten oder Entwicklungsstörungen, nicht danach.
Sie integriert unterschiedliche Ebenen: Familie, Schule, Peergruppe, Gemeinde, gesellschaftliche Rahmenbedingungen.
Sie arbeitet mit Risikofaktoren und Schutzfaktoren: Risikofaktoren sind Bedingungen, die das Eintreten von Problemen begünstigen (z. B. instabile Familienverhältnisse, soziale Benachteiligung, fehlende Unterstützung), Schutzfaktoren sind jene, die Resilienz oder gesundes Aufwachsen fördern (z. B. stabile Beziehungen, positive Vorbilder, unterstützende Lehrende).
Sie ist breit angelegt (universell) oder richtet sich selektiv auf Risikogruppen oder indiziert auf Fälle, in denen erste Auffälligkeiten bestehen.
Sie basiert auf einer Haltung, die nicht repressiv ist, sondern bewahrend, ermutigend, entwicklungsfördernd.

Beispiele für Präventiverziehung

Ein Beispiel sind Programme in Schulen, die soziales Lernen, emotionale Kompetenz und Konfliktfähigkeit fördern, bevor sich Mobbing, Aggression oder Schulabbruch manifestieren. Ein anderes Beispiel sind Elterntrainings, die Eltern stützen, wie sie ihre Kinder im Vorschulalter in Sprache, Selbstregulation und sozialem Verhalten fördern – damit später keine oder weniger Sprach-, Lern- oder Verhaltensprobleme auftreten. Auch Angebote der Ganztagsschule oder Freizeitpädagogik mit regelmäßiger Betreuung und Bezugspersonen dienen präventiv, indem sie Kindern stabile Strukturen bieten.

Ein historisches Beispiel ist die pädagogische Praxis von Johannes Bosco, der ein sogenanntes „Präventivsystem“ („Sistema Preventivo“) entwickelte, begründet auf den Prinzipien Vernunft, Religion und Liebe („amorevolezza“). Bosco setzte statt auf Strenge, Drill oder reine Strafen auf Beziehung, Einsicht und liebevolle Begleitung, um Jugendlichen in Risikolagen früh Unterstützung zu geben und Fehlentwicklungen zu verhindern.

Ein aktuelles Beispiel aus der Praxis sind Präventivhilfen in der Jugendhilfe (z. B. in der Steiermark, Österreich), bei denen niedrigschwellige Angebote für Familien und Kinder geschaffen werden, um Entwicklungsrisiken früh zu erkennen und zu mindern. (

Unterschiede in der Prävention

In der Literatur wird oft zwischen primärer, sekundärer und tertiärer Prävention unterschieden:

  • Primäre Prävention: richtet sich an alle oder große Bevölkerungsgruppen, bevor ein bestimmtes Problem vorliegt.
  • Sekundäre Prävention: greift bei Risikogruppen oder ersten Anzeichen von Problemen ein, z. B. frühe Förderung oder Therapieansätze.
  • Tertiäre Prävention: zielt auf die Verhinderung von Verschlimmerung oder Rückfällen bei bereits bestehenden Problemen.

Diese Abstufung ist auch in Anwendungsfeldern hilfreich, um Präventiverziehung klarer zu operationalisieren.

Bedeutung und Herausforderungen

Präventiverziehung ist in pädagogischer Psychologie von großer Bedeutung, da sie dazu beitragen kann, langfristige Kosten (soziale, psychische, gesellschaftliche) zu reduzieren und das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen positiver zu gestalten. Ihre Wirksamkeit hängt jedoch stark davon ab, wie gut Risiko- und Schutzfaktoren identifiziert und adressiert werden, wie zugänglich Präventionsangebote sind und wie gut dauerhafte Strukturen existieren. Zudem bestehen ethische Fragestellungen, z. B. inwiefern präventives Erziehen in die Autonomie eingreift oder wie mit normative Ziele umgegangen werden soll.

Literatur

Dieterich, R., & Rietz, A. (1996). Psychologisches Grundwissen für Schule und Beruf. Donauwörth: Auer Verlag.
Mittelstädt, G. (1993). Vorbeugende Erziehung. In H. Rombach (Hrsg.), Lexikon der Pädagogik (S. 327-328). Freiburg: Verlag Herder.
Odenbach, K. (1974). Lexikon der Schulpädagogik: Begriffe von A-Z. Braunschweig: Westermann Verlag.
Stangl, W. (2006). Signale und Folgen sexuellen Missbrauchs. [werner stangl]s arbeitsblätter.
https://arbeitsblaetter.stangl-taller.at/PSYCHOLOGIEENTWICKLUNG/SexuellerMissbrauchFolgen.shtml
Stark, W. (1998). Prävention. In R. Asanger & G. Wenninger (Hrsg.), Handwörterbuch Psychologie (S. 563-567). München: Psychologie-Verlags-Union.


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