Erweiterter Suizid

Der Begriff erweiterter Suizid (auch Mitnahmesuizid) bezeichnet in der Psychologie und forensischen Psychiatrie eine besondere Form des Suizids, bei dem der Suizident nicht nur sich selbst, sondern auch eine oder mehrere andere Personen tötet, bevor er sich das Leben nimmt oder dies zumindest beabsichtigt. Die getöteten Menschen stehen häufig in einer engen emotionalen Beziehung zum Täter – typischerweise handelt es sich um Kinder, Partner, Partnerinnen oder andere nahestehende Familienangehörige. Das Phänomen ist von hoher gesellschaftlicher Relevanz, da es sowohl in psychologischen, rechtlichen als auch in ethischen Dimensionen komplex ist.

Psychologisch liegt dem erweiterten Suizid häufig eine tiefgreifende psychische Störung zugrunde, insbesondere depressive Syndrome, wahnhafte Störungen oder Persönlichkeitsstörungen. Charakteristisch ist ein verzerrtes Denken, in dem die Tötung der nahestehenden Personen als eine Art Erlösung von künftigem Leid rationalisiert wird. In Fällen mit starkem Verantwortungsgefühl gegenüber Angehörigen – etwa Eltern gegenüber ihren Kindern – erscheint dem Täter der Tod als vermeintlich bessere Alternative zur Trennung, zum wirtschaftlichen Ruin oder zur empfundenen Ausweglosigkeit. Die Täter sind oft davon überzeugt, dass ihre Angehörigen ohne sie nicht weiterleben könnten oder durch ihren Tod mitleiden würden, was die Tötung aus ihrer Sicht als „notwendige“ Begleitmaßnahme erscheinen lässt (Kimmel, 2001).

Typische Beispiele für erweiterten Suizid sind Tötungen im familiären Kontext: Ein Vater bringt nach dem Verlust seiner Arbeitsstelle seine Familie und anschließend sich selbst um, da er glaubt, sie nicht mehr versorgen zu können. Oder eine Mutter leidet an einer schweren Depression, sieht keinen Ausweg und tötet zunächst ihre Kinder, um sie – ihrer Wahrnehmung nach – vor dem „grausamen Leben“ zu bewahren, bevor sie sich selbst das Leben nimmt. Bei Müttern, die ihre Kinder im Rahmen eines erweiterten Suizids töten, können auch postpartale Psychosen eine Rolle spielen. Es wird vermutet, dass die Tötung der anderen Person(en) in diesen Fällen als ein Akt der Befreiung aus einem als ausweglos empfundenen Leid interpretiert wird oder als Versuch, die geliebten Menschen vor einer vermeintlich schlimmeren Zukunft zu bewahren, die man selbst nicht mehr erleben möchte.Auch im Kontext von Trennung oder Sorgerechtsstreitigkeiten kommt es zu erweiterten Suiziden, wenn Täter ihren Suizid mit der Tötung von Kindern oder Ex-Partnern oder Partnerinnen verbinden, aus einem Bedürfnis nach Kontrolle oder aus einer Mischung aus Verzweiflung und Rache (Böhm, 2013).

Der erweiterte Suizid unterscheidet sich damit deutlich von anderen Formen interpersoneller Gewalt oder von altruistisch motivierten Tötungen. Er ist auch nicht mit erweiterten Sterbehilfepraktiken zu verwechseln, bei denen die Einwilligung der getöteten Person vorausgesetzt wird. Vielmehr steht beim erweiterten Suizid eine hochpathologische Perspektive im Zentrum, die Realität, Verantwortung und Zukunftsoptionen verzerrt wahrnimmt. Häufig ist das Handeln affektiv aufgeladen, begleitet von Schuldgefühlen, Ambivalenz oder psychischer Lähmung.

Ein erweiterter Suizid infolge der Wut eines Mobbingopfers ist sehr stark vereinfachend und potenziell missverständlich, da sie eine direkte und alleinige Kausalität suggeriert, die so in der psychologischen Realität nicht gegeben ist. Es ist wichtig, diesen Zusammenhang differenziert zu betrachten. Grundsätzlich ist es aber denkbar, dass extreme Wut und Verzweiflung, die aus lang anhaltendem oder schwerem Mobbing etwa in der Schule oder am Arbeitsplatz resultieren, ein Faktor sein können, der zur Entstehung suizidaler Gedanken und Handlungen, einschließlich eines erweiterten Suizids, beiträgt, denn Mobbing kann bei Opfern zu tiefgreifenden psychischen Schäden führen, darunter schwere Depressionen, Angststörungen, posttraumatische Belastungsstörungen und ein Gefühl der Ausweglosigkeit. Diese Zustände erhöhen das Risiko für Suizidgedanken erheblich. Wenn eine Person, die Mobbing erfahren hat, einen erweiterten Suizid begeht, könnte die darin liegende Wut auf die Täter oder auf eine als ungerecht empfundene Welt eine Rolle spielen. In extremen Fällen könnte die Tötung der anderen Person(en) als eine Art Racheakt oder als ein verzweifelter Versuch verstanden werden, dem eigenen Leid und dem als unausweichlich empfundenen Schmerz ein Ende zu setzen – und dabei möglicherweise auch diejenigen zu treffen, die als verantwortlich für das eigene Elend empfunden werden, oder diejenigen, die man vor einem ähnlichen Schicksal bewahren möchte. Es ist jedoch entscheidend zu betonen, dass die Wut allein selten die alleinige Triebkraft ist. Nicht jedes Mobbingopfer entwickelt suizidale Tendenzen, und nur ein verschwindend geringer Anteil der Mobbingopfer begeht einen erweiterten Suizid. Wenn dies geschieht, ist es das Ergebnis einer Verkettung extrem unglücklicher Umstände, oft unter Beteiligung schwerer psychischer Krankheiten, die durch das Mobbing mitbeeinflusst werden können. Die Wut ist dann eher ein Symptom oder ein Teil der emotionalen Gemengelage, nicht die alleinige Ursache.

In der kriminalpsychologischen Analyse gelten erweiterte Suizide als Sonderform von Tötungsdelikten, bei denen Täter:innen meist nicht mit klassischen Gewaltverbrechern identisch sind, sondern eher aus einem subjektiven Leidensdruck heraus handeln. Eine umfassende präventive Bearbeitung erfordert deshalb ein sensibles Zusammenspiel zwischen psychiatrischer Versorgung, psychosozialer Unterstützung und frühzeitiger Risikoerkennung, etwa durch Warnsignale wie Rückzugsverhalten, Suizidankündigungen oder rigide Denkmuster.

Amoklauf und erweiterter Suizid

Der erweiterte Suizid und der Amoklauf sind zwei Gewaltereignisse, die sich in bestimmten Fällen überschneiden können, insbesondere wenn der Täter am Ende seines Amoklaufs den Suizid begeht oder diesen geplant hatte. In solchen Fällen wird in der forensischen Psychologie und Kriminalistik von einem Amoklauf mit suizidaler Absicht oder von einem erweiterten Suizid mit Amokcharakter gesprochen. Trotz dieser Überschneidungen handelt es sich um unterschiedliche Phänomene mit teils divergierenden psychodynamischen und sozialen Hintergründen. Ein Amoklauf ist definiert als eine plötzliche, scheinbar unmotivierte Gewalttat, bei der ein oder mehrere Täter in kurzer Zeit wahllos oder gezielt mehrere Menschen töten oder verletzen. Meist liegt ein Gefühl tiefgreifender sozialer Zurückweisung, Demütigung oder narzisstischer Kränkung zugrunde, oft kombiniert mit Rachefantasien und dem Wunsch nach Aufmerksamkeit, Macht oder „Wiedergutmachung“ eines empfundenen Unrechts. In vielen Fällen endet ein Amoklauf mit dem Suizid des Täters – dieses Ende ist jedoch nicht zwingend Bestandteil des Konzepts (Meloy et al., 2004). Der erweiterte Suizid hingegen ist primär durch die suizidale Grundhaltung motiviert, wobei die Tötung Dritter aus Sicht des Täters meist aus „Fürsorge“, Verzweiflung oder um geliebte Menschen „mitzunehmen“ erfolgt und sie einem als unerträglich empfundenen Leben zu entziehen. Die Gewalt richtet sich dabei gezielt gegen Menschen im Nahbereich (Familie, Kinder, Partner und Partnerinnen) und ist emotional verknüpft mit der suizidalen Krise (Böhm, 2013).

Die Überschneidung entsteht dort, wo Täter nach außen hin einen Amoklauf begehen – etwa an einer Schule oder am Arbeitsplatz – diesen aber mit einem geplanten Suizid abschließen, etwa in Form eines finalen Schusses auf sich selbst. In solchen Fällen spielt oft ein Mischmotiv eine Rolle: Neben narzisstischer Kränkung und Rachegedanken treten Gefühle von Hoffnungslosigkeit und Selbstentwertung auf. Der Täter plant, andere zu bestrafen, bevor er sich selbst das Leben nimmt – die Gewalt gegen andere ist dann Ausdruck innerer Zerrissenheit, nicht ausschließlich „Amok“ im engeren Sinn. Ein berühmtes Beispiel für diese Konvergenz ist der Amoklauf von Columbine (1999), bei dem die Täter ihre Morde mit einem gemeinsamen Suizid beendeten. Auch der Fall von Erfurt (2002), bei dem ein ehemaliger Schüler 16 Menschen und sich selbst tötete, wird teils als erweiterter Suizid mit Amokcharakter interpretiert.


In Österreich gibt es zahlreiche Anlaufstellen, die Menschen unterstützen, die selbst suizidgefährdet sind, in akuten Krisen stecken oder mit den Folgen eines Suizids bzw. eines erweiterten Suizids im Umfeld konfrontiert sind. Die Hilfsangebote reichen von akuter Krisenintervention über langfristige psychosoziale Beratung bis hin zu spezialisierten Angeboten für Hinterbliebene nach Suizid (Survivors). Hier sind zentrale Stellen und Organisationen aufgelistet:

Telefonische Soforthilfe und Krisendienste

Telefonseelsorge Österreich – Notruf 142
Rund um die Uhr anonym und kostenlos erreichbar – auch per Online-Chat und Mail.
Website: www.telefonseelsorge.at
Tel.: 142
Kriseninterventionszentrum Wien
Psychologische und psychiatrische Hilfe bei akuten Krisen, auch für Angehörige.
Website: www.kriseninterventionszentrum.at
Tel.: +43 1 406 95 95 (Mo–Fr)>
Rat auf Draht – Notruf für Kinder und Jugendliche
Für junge Menschen bis 18 Jahre sowie deren Bezugspersonen.
Website: www.rataufdraht.at
Tel.: 147 (rund um die Uhr, kostenlos)

Spezialisierte Suizidprävention und Beratung

SUPRA – Nationale Plattform für Suizidprävention in Österreich
Vernetzt Organisationen und bietet Informationen zu Hilfsangeboten und Präventionsmaßnahmen.
Website: www.suizidpraevention.gv.at
GO-ON Suizidprävention
Regionale Stellen zur Suizidprävention in mehreren Bundesländern (z. B. Steiermark, Kärnten, Salzburg).
Website: www.go-on.at

Unterstützung für Hinterbliebene nach Suizid

RAINBOWS & Verein VERWAIS
Begleitung für trauernde Kinder und Jugendliche sowie für Angehörige nach plötzlichem Verlust.
Website: www.rainbows.at | www.verwais.at
EXIT-sozial Linz – Projekt „Lebensnah“
Unterstützungsangebot für Menschen nach Suizidversuchen oder Suizid im Umfeld.
Website: www.exitsozial.at

Hinterbliebenen-Gruppen (z. B. bei Caritas, Diakonie, Hospizvereinen)
In vielen Regionen gibt es Selbsthilfegruppen und Einzelbegleitung für Menschen, die durch Suizid eine nahestehende Person verloren haben. In jedem Bundesland stehen rund um die Uhr psychosoziale Krisen- oder Notdienste zur Verfügung, häufig in Kooperation mit Landeskliniken und mobilen Diensten.

In akuter Lebensgefahr

Rettung / Polizei – Notrufnummer 112 oder 133
Bei unmittelbarer Gefahr für Leib und Leben sollte nicht gezögert werden, den Notruf zu wählen.

Wer selbst betroffen ist oder einen Suizidversuch beobachtet, sollte professionelle Hilfe in Anspruch nehmen. Suizidgedanken sind oft Ausdruck einer behandelbaren Krise oder psychischen Erkrankung. Offen darüber zu sprechen und sich Hilfe zu holen, ist ein wichtiger Schritt zur Bewältigung.

Literatur

Böhm, K. (2013). Familiendrama und erweiterter Suizid: Eine kriminologische und psychologische Analyse. Wiesbaden: Springer VS.
Kimmel, S. R. (2001). The psychology of suicide: Understanding risk and prevention. New York: Nova Science Publishers.
Meloy, J. R., Hempel, A. G., Mohandie, K., Shiva, A. A. & Gray, B. T. (2004). Offender and offense characteristics of a nonrandom sample of adolescent mass murderers. Journal of the American Academy of Child & Adolescent Psychiatry, 43, 707–716.
Petermann, F., & Niebank, K. (2008). Amoklauf und schwere Schulgewalt: Erscheinungsformen, Ursachen, Prävention. Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie, 57, 540–555.
Stangl, W. (2002, 11. Juni). Pädagogische Implikationen bei Neigung zum aggressiven Verhalten. [werner stangl]s arbeitsblätter.
https:// arbeitsblaetter.stangl-taller.at/EMOTION/A-Amok.shtml
Tödtling, C. & Steinbauer, M. (2007). Erweiterter Suizid: Tötung aus Verzweiflung? Forensische Psychiatrie, Psychologie, Kriminologie, 1, 25–31.


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