Der Begriff „Visual Turn“ – auch visualistic turn, iconic turn bzw. ikonische Wende – bezieht sich auf eine kulturelle und intellektuelle Entwicklung, die in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts und zu Beginn des 21. Jahrhunderts stattgefunden hat und die zu einer verstärkten Betonung des Visuellen in verschiedenen Bereichen von Gesellschaft, Kultur, Wissenschaft und Technologie geführt hat. In einer zunehmend digitalen Welt werden Information und Kommunikation häufig durch Bilder, Grafiken, Videos und visuelle Medien vermittelt, d.h. die Bedeutung der visuellen Kultur, in der Bilder nicht nur als Repräsentationen der Realität, sondern als aktive Agenten in der Konstruktion von Bedeutung und Identität betrachtet werden, hat enorm zugenommen. Vor allem die Digitalisierung und die Verbreitung des Internets haben den Einsatz visueller Medien und Technologien stark beeinflusst, und in den Geistes- und Sozialwissenschaften hat der Visual Turn zu einer verstärkten Integration visueller Methoden und Darstellungen in ihre Arbeit geführt.
Visual Turn bezeichnet auch die Schwerpunktverlagerung in den Geistes- und Sozialwissenschaften hin zu einer zunehmenden Beschäftigung mit der Bedeutung des Sichtbaren. In der Regel wird davon ausgegangen, dass sie in den 1990er Jahren an Bedeutung gewann und die linguistische Wende ablöste. In der Alltagskultur wird diese Wende auch als Entwicklungsschritt in Richtung einer postskriptualen Gesellschaft gedeutet.
Die Alltagskultur wird zunehmend von Bildern und Videos dominiert, nicht zuletzt, weil Menschen komplexe Inhalte über visuelle Medien schneller erfassen können. Bilder sind jedoch sehr emotional und intuitiv und lassen viel Raum für individuelle Interpretationen. Durch die emotionale Komponente prägen sich Bilder besonders tief ein. Menschen gehen davon aus, dass Bilder oder Videos die Realität so abbilden, wie sie ist, auch wenn bekannt ist, dass durch Deepfakes Scheinrealitäten geschaffen werden können, die authentisch und real wirken und das Gehirn, das an das glaubt, was es sieht, überlisten wollen. Visuelle Medien beginnen zunehmend, die Sprache im Alltag zu verdrängen, d.h. Bilder dienen nicht mehr nur als Ergänzung zu Texten, sondern sind zu eigenständigen Informationsträgern geworden. Hinzu kommt, dass das Gehirn visuelle Informationen viel schneller verarbeitet als Text und dass etwa neunzig Prozent der Informationen, die an das Gehirn übermittelt werden, visuell sind.