Reviktimisierung bezeichnet die Tendenz von Opfern körperlicher und sexueller Traumatisierung in Kindheit und Jugend, im späteren Leben erneut traumatischen Erfahrungen ausgesetzt zu sein (Wöller, 2005). Man vermutet mögliche Ursachen in Bindungsmustern, die in der Kindheit erlernt wurden, denn nach der Bindungstheorie prägen frühe Bindungserfahrungen die Vorstellung davon, was eine Beziehung ausmacht. Bereits in der Kindheit formt sich demnach ein stabiles Bild davon, was man in einer Beziehung zu erwarten hat, wie andere sich in Beziehungen verhalten und wie man selbst sich zu verhalten hat. Eine warme, fürsorgliche und liebevolle Umgebung lässt in einem Kind die Überzeugung wachsen, es wert zu sein, positiv und liebevoll behandelt zu werden. Umgekehrt sorgen abweisende, in ihrem Verhalten unvorhersehbare und missbräuchliche Bezugspersonen dafür, dass das Kind sich selbst für wertlos hält. Daraus entsteht ein inneres Bindungsmodell, nach dem Beziehungspartner generell missbrauchend und wenig einschätzbar sind, wobei diese früh erworbenen Bindungsmuster die Wahl späterer Beziehungspartner beeinflussen.
In Studien hat sich ein deutlicher Zusammenhang zwischen sexuellem Missbrauch in der Kindheit und der Entwicklung eines unsicheren Bindungsstils ergeben, also erhöhte bindungsbezogene Angst und erhöhte bindungsbezogene Vermeidung. Während Menschen mit hoher bindungsbezogener Vermeidung sich in nahen, emotionalen Beziehungen unwohl fühlen, haben Menschen mit hoher bindungsbezogener Angst ein starkes Bedürfnis nach Nähe und große Angst, verlassen zu werden, wobei besonders hohe bindungsbezogene Angst das Risiko für Reviktimisierung zu erhöhen scheint.
Viele Menschen, ob im Bereich der Gesundheitsberufe oder im therapeutischen Setting, berichten von großen Schwierigkeiten bei den Themen Abgrenzung, nein zu sagen, eine eigene Meinung zu äußern oder sich durchzusetzen. Dies führt oftmals zu Überforderung, chronischen Stresszuständen und einer verminderten Lebensqualität. Es ist daher notwendig, diese Menschen in ihrer Souveränität und Selbstwirksamkeit zu stärken, ihnen zu zeigen, wie sie sich selbst schützen können, um auch eine eventuelle Reviktimisierung zu vermeiden.
Der Teufelskreis aus schädlichen Bindungserlebnissen und der Suche nach immer wieder ähnlichen Bindungen, die wiederum das erlernte Muster bestätigen, kann durch psychotherapeutische Interventionen durchbrochen werden, was die Möglichkeit eröffnet, einer Reviktimisierung therapeutisch vorzubeugen. Dafür müssen aber die zugrundeliegenden Mechanismen wie etwa bindungsbezogene Angst frühzeitig therapeutisch erkannt und bearbeitet werden.
Literatur
Bockers, E. S. (2015). Reviktimisierung und Posttraumatische Belastungsstörung als Folgen interpersoneller Gewalt. Risikofaktoren und zugrundeliegende Mechanismen. Dissertation, FU Berlin.
Wöller, W. (2005). Traumawiederholung und Reviktimisierung nach körperlicher und sexueller Traumatisierung. Fortschr Neurol Psychiat, 73, 83-90.
Psychotherapie im Dialog 01/2014