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Zahlensinn

    Mensch und Tier haben mit dem Zahlensinn bzw. dem Zahlenverstand eine angeborene Fähigkeit, die Anzahl von visuellen Elementen in einer Menge bzw. ihre Anzahl intuitiv zu beurteilen. Unter Zahlensinn wird somit die angeborene, intuitive Fähigkeit zum Wahrnehmen und Unterscheiden von Mengen bezeichnet, einschließlich der Fähigkeit Veränderungen von Mengen zu erkennen und zu bestimmen. Untersuchungen erklären übrigens die Entstehung des Zahlensinns auf der Grundlage von Mechanismen, die dem visuellen System evolutionär innewohnen. Die Fähigkeit zur Mengenunterscheidung muss daher nicht erlernt werden, sondern ist angeboren, denn schon Neugeborene zeigen diesen Zahlensinn. Zahlreiche Tiere können wie der Mensch spontan die Anzahl von Objekten erkennen und ihre Mengen vergleichen, etwa alle Primaten, Elefanten, Hunde und Wölfe aber auch Tintenfische und Honigbienen. Ähnlich wie bei Menschen scheinen bei diesen bestimmte Neuronen im Gehirn selektiv auf bevorzugte Zahlen zu reagieren.

    Giurfa et al. (2022) haben jünst untersucht, ob Bienen, wie Menschen, Zahlen räumlich von links nach rechts entsprechend ihrer Größe ordnen. Im Zentrum stand dabei die mentale Zahlenreihe, eine Form der räumlichen Zahlendarstellung, bei der kleine und große Zahlen dem linken bzw. rechten Raum zugeordnet werden. Diese räumlich-numerische Organisation findet sich auch bei erwachsenen Menschen und wird mit kulturellen Faktoren wie Schreib- und Lesegewohnheiten in Verbindung gebracht. Man untersuchte dabei den Zahlensinn von Honigbienen, nachdem sie darauf trainiert worden waren, Zahlen mit einer Saccharose-Belohnung zu assoziieren, Zahlen, die sie zuvor nicht kannten, entsprechend ihrer Größe von links nach rechts ordnen. Wichtig ist dabei, dass die Position einer Zahl auf dieser Skala von der zuvor trainierten Referenzzahl abhängt und nicht von niedrigschwelligen Hinweisen auf numerische Reize bestimmt wird. Da die kulturellen bzw. biologischen Ursprünge dieser mentalen Zahlenreihe bisher unklar war, konnte man nun in dem Experiment zeigen, dass Bienen Zahlen entsprechend ihrer Größe von links nach rechts ordnen und dass die Position einer Zahl auf dieser Linie mit der zuvor trainierten Referenzzahl variiert. Die neuronaler Erklärungen für diesen Effekt, die auf dem umfangreichen Wissen über die neuronalen Grundlagen der visuellen Verarbeitung bei Honigbienen beruhen – die Abbildung von Raum und von Zahlen finden in benachbarten Hirnarealen statt – belegen, dass die mentale Zahlenreihe eine Form der numerischen Repräsentation ist, die unabhängig von ihrer neuronalen Komplexität in allen Nervensystemen, die mit einem Zahlensinn ausgestattet sind, evolutionär vorhanden ist. Die mentalen Zahlenreihe hat demnach eine biologische numerische Repräsentation, die im Nervensystem zahlreicher Arten verbreitet ist und daher wohl einen evolutionären Ursprung hat.

    Bei der experimentellen Bewertung von Punktmengen zeigen übrigens im Rahmen der Forschungen zur künstlichen Intelligenz künstliche neuronale Netzwerk die gleichen Merkmale, die Menschen und Tiere beim Zahlensinn zeigen, denn es fiel diesen Netzwerken leichter, deutlich voneinander abweichende Punktmengen zu unterscheiden als fast gleich große Mengen. Im Schnitt schätzte dieses Netzwerk neue Punktmengen zu knapp achtzig Prozent richtig ein, was etwa auch dem Abschneiden von Primaten und Menschen entspricht. Offenbar ist der Zahlensinn zwangsläufig eine Folge der Verarbeitung von visuellen Informationen und hängt nicht von einem dafür spezialisierten Gehirnareal ab, sondern greift auf vorhandene neuronale Netzwerke zurück, die sich durch das Sehen gebildet haben. Dadurch lässt sich auch gut erklären, warum auch schon Neugeborene oder Wildtiere einen Zahlensinn besitzen.

    Starr et al. (2013) haben übrigens herausgefunden, dass nicht nur Fleiß allein für die mathematischen Fähigkeiten von Kindern verantwortlich ist, sondern dass auch die Gene einen großen Anteil daran haben, wobei sich schon bei Babys erkennen lässt, wie gut die künftigen mathematische Fähigkeiten ausgeprägt sein können. In der Studie wurden Kleinkinder von sechs Monateen mit einer einfachen Versuchsanordnung konfrontiert: Auf weißem Untergrund befanden sich schwarze Punkte, die sich in Anordnung und Anzahl veränderten, wobei man beobachtete, wie schnell die Kinder auf solche Änderungen reagierten. Bei einem weiteren Test im Alter von dreieinhalb Jahren wurde das Verständnis von Zahlen und Mengen an praktischen Beispielen erhoben. Es zeigte sich, dass schon Kleinkinder einen mehr oder minder ausgeprägten Zahlen- und Mengensinn haben, woraus sich Prognosen über die künftigen mathematischen Fähigkeiten ableiten ließen. Offenbar ist der präverbale Zahlensinn bei Säuglingen ein konzeptueller Vorläufer, der die menschliche mathematische Entwicklung begründet. Dieser präverbale Zahlensinn kann als ein Entwicklungsbaustein für die einzigartige menschliche Fähigkeit zur Mathematik dienen. Allerdings gibt es noch keinen direkten Beweis dafür, dass die numerischen Fähigkeiten von Säuglingen mit den mathematischen Fähigkeiten im späteren Kindesalter korreliert sind. Sicher ist, dass der präverbale Zahlensinn den Erwerb von numerischen Symbolen und mathematischen Fähigkeiten später erleichtert, wobei diese Beziehung auch nach der Kontrolle der allgemeinen Intelligenz Bestand hatte, was darauf hindeutet, dass der präverbale Zahlensinn einen einzigartigen Beitrag zu den mathematischen Fähigkeiten leistet. Diese Ergebnisse stützen die Hypothesen früherer Untersuchungen, dass die Mathematik auf einem intuitiven Zahlensinn beruht, der der Sprache vorausgeht.

    Das Buchstaben- und Zahlenerkennen ist beim Menschen in beiden Hemisphären lokalisiert, wobei für das Zahlenverständnis überwiegend die rechte Gehirnhälfte zuständig ist. Bisher vermutete man, dass die grundlegenden Prozesse des Erkennens von Buchstaben und Zahlen unterschiedlich in den Hirnhälften lokalisiert sind, doch konnte nun in eine Untersuchung zur visuellen Verarbeitung von Zahlen im menschlichen Gehirn konnte gezeigt werden, dass dabei beide Hirnhälften aktiv sind. In der Studie wurden den Versuchsteilnehmern jeweils für Sekundenbruchteile Zahlen, Buchstaben und Abbildungen von Alltagsgegenständen gezeigt und währenddessen ihre Hirnaktivität im Magnetresonanztomographen aufgezeichnet. Dabei konnten man die Region, in der die visuelle Verarbeitung von Zahlen abläuft, eindeutig eingegrenzt werden, denn das kleine Areal an der Unterseite des linken und rechten Schläfenlappens reagiert bei der Präsentation von Ziffern mit erhöhter Aktivität. Buchstaben oder andere Abbildungen, aber auch verfremdete Zahlen führen zu einer deutlich geringeren Hirnaktivität in diesem Bereich. Dieses Areal war bisher eine Art blinder Fleck im menschlichen Gehirn, denn es liegt unter Ohr und Gehörgang, umgeben von Knochen und Luft. Übrigens werden in diesen Arealen nicht nur Zahlen erkannt, sondern auch Gesichter und Objekte.

    Die bildhafte Vorstellung von Zahlen und die abstrakte Fähigkeit, zwei Zahlen zu addieren, beanspruchen völlig unterschiedliche Areale im Gehirn und erst die Kombination der beiden Zahlenmodule ermöglicht das Rechnen. Ein Areal des Gehirns führt exakte Berechnungen durch und gibt den Zahlen Namen, ist also mit Sprache verknüpft, im anderen Areal befindet sich der eher intuitive Zahlensinn, eine Art mentale Zahlenreihe, mit dem Größenordnungen abgeschätzt werden. So können manche Menschen nach einem Gehirnschlag nicht mehr entscheiden, ob 9 näher bei 10 oder 5 liegt, und dies, obwohl ihnen einfache Additionen wie 7 plus 3 gleich 10 überhaupt keine Probleme bereiten. Andere können sich hingegen nicht entscheiden, ob 2 plus 2 eher 3 oder 4 ergibt. Werden sie jedoch gefragt, ob sie als Ergebnis eher 3 oder 9 vorziehen würden, wählen alle die 3 (Stangl, 2019).

    Der Zahlen-Anpassungseffekt (numerosity adaptation effect) ist ein Wahrnehmungsphänomen in der numerischen Wahrnehmung, das die nicht-symbolische numerische Intuition demonstriert und veranschaulicht, wie sich numerische Wahrnehmungen automatisch auf das menschliche Gehirn auswirken können. Dabei kommt es auf die Dichte und Anordnung der Objekte an, wobei vorherige Beobachtungen die Mengenschätzungen beeinflussen.


    Kurioses aus der Forschung zu Zahlen: Wenn Menschen quantitative Informationen verarbeiten, speichern sie in der Regel keine exakte Ziffernfolge ab, sondern merken sich Zahlen eher in ihrem Kontext. d. h., sie erinnern sich eher an ihre Bedeutung als an ihren exakten Wert. Daher kommt es, dass etwa die Zahl 91,27 Prozent nicht mit allen Nachkommastellen in Erinnerung bleib. Jain et al. (2020) fanden nun in einem Experiment, in dem Probanden Texte lesen mussten, in denen sich einmal exakte, einmal gerundete Zahlen befanden, dass Menschen interessanterweise diese komplizierte Zahl kleiner als 90 Prozent wahrnehmen. Mittels Eye-Tracking stellten sie fest, dass die Augen der Probanden deutlich länger bei nicht gerundeten Zahlen verharrten als bei gerundeten, dass also ungerundete Zahlen wie eben die 91,27 als einzigartig aufgefasst werden. Offenbar ziehen viele einen Vergleichswert heran, um die 91,27 Prozent irgendwie einordnen zu können, also die vollen 100 Prozent. Da die 91,27 Prozent kleiner als dieser Standard sind, sinkt die Einschätzung der Zahl. Umgekehrt gelten für kleine ungerundete Zahlen wie etwa 7,69 Prozent, dass sie mit null Prozent verglichen werden, und dadurch mental größer gemacht werden, als sie tatsächlich sind.


    Literatur

    Burr, David & John Ross (2008). A Visual Sense of Number. Current Biology. 18, 425–428.
    Giurfa, Martin, Marcout, Claire, Hilpert, Peter, Thevenot, Catherine & Rugani, Rosa (2022). An insect brain organizes numbers on a left-to-right mental number line. Proceedings of the National Academy of Sciences, 119, doi:10.1073/pnas.2203584119.
    Grotheer, M., Herrmann, K. H., and Kovács, G. (2016). Neuroimaging Evidence of a Bilateral Representation for Visually Presented Numbers. The Journal of Neuroscience, 36, 88-97.
    Jain, G., Gaeth, G. J., Nayakankuppam, D. & Levin, I.P. (2020). Revisiting attribute framing: The impact of number roundedness on framing. Organizational Behavior and Human Decision Processes, 161, 109-119.
    Nasr, Khaled, Viswanathan, Pooja & Nieder, Andreas (2019). Number detectors spontaneously emerge in a deep neural network designed for visual object recognition. Science Advances, doi:10.1126/sciadv.aav7903.
    Stangl, W. (2019). Neuropsychologische Gedächtnisstudien. [werner stangl]s arbeitsblätter.
    WWW: https://arbeitsblaetter.stangl-taller.at/GEDAECHTNIS/Gedaechtnisstudien.shtml (2019-05-14).
    https://de.wikipedia.org/wiki/Zahlensinn (18-11-21)
    Starr, Ariel, Libertus, Melissa E. & Brannon, Elizabeth M. (2013). Number sense in infancy predicts mathematical abilities in childhood. Proceedings of the National Academy of Sciences, doi:10.1073/pnas.1302751110.


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