Als Phantomschmerz bezeichnet man Schmerzen, die in einem abgetrennten Körperteil als Ganzes oder in einem Bereich des abgetrennten Körperteils empfunden werden, wobei die häufigsten Ursachen Amputationen der Arme oder Beine sind. Phantomschmerz sind neuropathischen Schmerzen, die zur Gruppe der Nerverschmerzen gehören. Die Schmerzen können aber auch nach Entfernung der Brust, von inneren Organen, nach operativer oder traumatischer Entfernung der Zunge, der Augen oder des Penis entstehen. Nach einer Amputation oder einem Unfall ändert sich dabei das Körperbild bzw. Körperschema im Gehirn, und das Gehirn üblicherweise schlecht mit einem solchn gestörten Schema umgehen kann, entwickeln die Betroffenen Schmerzen. Für die Nervenbahnen im Körper gibt es entsprechende Areale im Gehirn, die den jeweiligen Körperbereich repräsentieren, wobei Hände, Füße, Lippen und die Genitalregion im Gehirn des Menschen besonders gut abgebildet ist. Wird nun ein Körperteil abgetrennt, organisiert sich das entsprechende Areal im Gehirn neu.
Etwa zwei Drittel aller Menschen, denen ein Körperteil amputiert wurde, leiden unter teilweise sehr heftigen Phantomschmerzen, die sie sehr genau lokalisieren können, wobei die Schmerzen sehr unterschiedlich empfunden und als schneidend, brennend, stechend oder krampfartig beschrieben werden, aber auch attackenhaft, einschießend, messerstichartig oder elektrisierend. „Meine Phantomschmerzen sind stechende Schmerzen, als würde man Nadeln hineinbohren oder als hätte man einen viel zu engen Schuh an,“ beschreibt etwa ein Betroffener die Beschwerden in seinem fehlenden Fuß. Außerdem scheinen sie umso öfter in Erscheinung zu treten, je näher die Amputation an der Körpermitte liegt. Auch die Intensität und Dauer der Schmerzen können sich von Mensch zu Mensch sehr unterscheiden. Neurologen haben gezeigt, dass diese Schmerzen absolut real sind, denn man hat in bildgebenden Verfahren nachgewiesen, dass beim Phantomschmerz alle Teile des Gehirns genau so aktiv sind, als würde der Betroffene einen akuten Schmerz erleiden.
Phantomschmerzen treten meist innerhalb der ersten Tage nach Verlust des Körperglieds auf und werden immer im abgetrennten Körperglied empfunden. Phantomschmerzen können dabei von leichter Intensität sein, etwa in Form von Wetterfühligkeit, aber auch so stark, dass manche Betroffene als letzten Ausweg den Suizid in Erwägung ziehen. Phantomschmerz kann auch entstehen, wenn lediglich die periphere oder zentrale nervale Versorgung durchtrennt wurde, etwa bei Rückenmarkverletzungen (Deafferentierungsschmerz), bei Erkrankungen oder als Folgen eines Gehirntraumas (zentraler Schmerz).
Nicht schmerzhafte Phantomgliedempfindungen sind Wahrnehmungen, die aus dem abgetrennten Körperglied oder Körperteil empfunden werden und nicht schmerzhaft sind, wobei mehr als 80 Prozent der Betroffenen, denen ein Körperglied fehlt, über solche Empfindungen wie Wärme oder Kälte, Muskelspannungen und -verkrampfungen sowie Berührungsgefühle berichten. Diese Empfindungen können lang andauernd aber auch nur phasenweise präsent sein, wobei Intensität, Ausprägung und affektive Färbung im Lauf der Zeit variieren, bei einigen Menschen gehen die Empfindungen allmählich zurück, bei anderen bestehen sie lebenslang. Manche Betroffene berichten von Phantombewegungen, d. h., sie erleben dabei Bewegungen des Phantomgliedes, die sich zum Teil wie Verrenkungen anfühlen. Ein weiteres Phänomen ist Teleskoping, das sowohl mit als ohne Phantomschmerzen in Erscheinung treten kann. Davon Betroffene beschreiben es als Gefühl, bei dem das Phantomglied Stück für Stück zum Stumpf wandert, wobei der noch spürbare, jedoch nicht mehr vorhandene Körperteil, dadurch mit der Zeit immer kürzer wird. Dies führt etwa dazu, dass ein Fuß oder eine Hand direkt an der Trennstelle des Stumpfes wahrgenommen wird. Allerdings kann es auch vorkommen, dass die fehlende Gliedmaße wie mit einem Teleskop wieder ausgefahren wird und die ursprüngliche Länge annimmt. Untersuchungen weisen darauf hin, dass Teleskoping eher mehr mit Phantomschmerzen verbunden ist, als mit weniger, wie ursprünglich vermutet wurde.
Neuere Forschungen belegen, dass die durch den Verlust einer Hand oder eines Armes freiwerdenden Gehirnareale von ihren Nachbarstrukturen erobert werden, wobei hier offensichtlich ein evolutionärer Effekt, der etwa auch die Steuerungsareale der Spielhand von Geigenspielern wachsen lässt. Solche Veränderungen im Gehirn sind insgesamt ein Beleg für die hohe Dynamik auch noch des adulten Gehirn.
Interessanterweise berichten auch Menschen, denen von Geburt an ein Körperteil fehlt, über Phantomgliedgefühle, d.h., sie spüren etwa Lageempfindungen, Kribbeln, Pulsationen, Verkrampfungen, Bewegungen, Kälte, Wärme oder Berührung.
Der Mechanismus, der der Entstehung von Phantomschmerzen zugrunde liegt, ist nicht vollständig geklärt. Bis vor nicht kurzem nahm man in der gängigen Theorie zur Ursache von Phantomgliedern und Phantomschmerzen eine Irritation der durchtrennten Nervenendungen an und dachte, solche funktional unsinnigen Signale würden vom Gehirn nun als Schmerz interpretiert. Heute vermutet man, dass Phantomempfindungen auf einer Art „Kreuzverkabelung“ im somatosensorischen Cortex beruhen, der im Gyrus postcentralis liegt, und der die entsprechenden Signale aus den Extremitäten und dem übrigen Körper aufnimmt. Signale der linken Körperhälfte werden von der rechten Hirnhemisphäre aufgenommen und umgekehrt. Der Input aus den Extremitäten erreicht den somatosensorischen Kortex auf normale Weise und wird innerhalb der im somatosensorischen Homunkulus dafür vorgesehenen Repräsentation verarbeitet.
Vermutlich kommt es nach einem Verlust eines Körperteils innerhalb der reorganisierten cortikalen Repräsentanz des betroffenen Gliedes zu Konfliktsituationen zwischen alten und neuen Mustern kommt, sei es nun dass vom alten Muster Suchsignale ausgehen, die sensorisch wie propriozeptiv ohne Antwort bleiben, so dass die kortikale Repräsentanz des amputierten Gliedes in einem Versuch, dies zu kompensieren die Intensität ihrer Signale verstärkt, was dann schließlich zu Schmerzempfindungen führt. Einige Therapieverfahren versuchen daher die Umorganisation im Gehirn wieder rückgängig zu machen.
Myoelektrische Prothesen: Durch das Tragen dieser Prothesen, die durch Muskeln des Stumpfes gesteuert werden, erfährt die Hirnregion, die aufgrund der Amputation keine Signale mehr erhält, wieder eine neue Aktivierung. Dem Gehirn soll dadurch signalisiert werden, dass der fehlende Körperteil noch intakt sei.
Visualisierungstraining: Hierbei versuchen Betroffene, den fehlenden Körperteil durch die eigene Vorstellungskraft zu visualisieren und sich Bewegungen vorzustellen.
Sensorisches Wahrnehmungstraining: Bei dieser Therapiemethode erfährt der Stumpf eine Stimulation, die mit der bewussten Wahrnehmung der Reize kombiniert werden, womit der Reiz positiv besetzt und eine Umorientierung im Gehirn initiiert werden soll.
Reizstrom und Neuromodulation: Bei der Reizstromtherapie bewirken spezielle Geräte eine transkutane elektrische Nervenstimulation, d. h., dabei werden über Elektroden elektrische Reize auf die Hautoberfläche übertragen, was zu einer dauerhaften Stimulierung der irritierten Nerven führt, wodurch sich die Phantomschmerzen verringern sollen. Ähnliches trifft auch auf die Neuromodulation zu, bei der Elektroden mittels Neurochirurgie permanent implantiert werden.
*** Hier KLICKEN: Das BUCH dazu! *** Eine weitere Therapiemethode ist die Spiegeltherapie, bei der die Betroffenen einen Spiegel gegen ihre unversehrte Körperseite halten, Bewegungen machen und die Reflexion betrachten. Die amputierte bzw. verletzte Extremität bleibt dabei hinter dem Spiegel verborgen, und durch den Blick in den Spiegel nimmt das Gehirn Informationenen über die versehrte Seite wahr. Dieses Spiegelbild wird dabei vom Gehirn so wahrgenommen, als würde sich die fehlende Gliedmaße bewegen, sodass Betroffene allmählich wieder die Ordnung in ihrem Gehirn hinbekommen. Auch wenn den Betroffenen bewusst ist, dass sie eine erkrankte oder verlorene Extremität besitzen, kommt es dennoch im Gehirn zu einer Aktivierung von Gehirnzentren, vor allem auch in jenen Arealen, in dem bisher die meisten Signale aus der Körperperipherie als Schmerz fehlinterpretiert worden sind. Diese Aktivierung der Gehirnzentren korrigiert mit der Zeit das wahrgenommene Schmerzempfinden und verschafft allmählich Erleichterung.
Die Spiegeltherapie wurde von Vilayanur S. Ramachandran entwickelt und zählt zu den Imaginationstherapien. Das Phantomglied kann dabei über das gesunde gezielt bewegt und beeinflusst werden, etwa indem der Phantomkörperteil aus einer imaginären schmerzhaften Position in eine angenehmere Position bewegt wird und somit der Phantomschmerz abgeschwächt werden kann. Die Spiegeltherapie, die häufig auch nach Schlaganfällen eingesetzt wird, erfordert sehr viel Aufmerksamkeit und Konzentration und die aktive Mitarbeit des Betroffenen ist Voraussetzung, d. h., die oder der Betroffene muss sich bewusst auf die Illusion des Spiegels einlassen. Am Beginn einer Spiegeltherapie ist in der Regel viel Geduld erforderlich und ein intensives und konsequentes Training ist notwendig, um den gewünschten Therapieerfolg zu erzielen.
Eine ähnliche neue Therapiemöglichkeit bei Phantomschmerz ist das Virtual Walking, das dem Gehirn Zeit geben soll, sich an die neuen Körpergrenzen zu gewöhnen und damit die Schmerzen lindern. Die Methode besteht darin, dass der Oberkörper des querschnittsgelähmten Patienten gefilmt wird und auf fremden, gehenden Beinen eines Hintergrundvideos so positioniert wird, dass beim Patienten die Illusion entsteht, dass er gehen kann. Man geht davon aus, dass dieser visuelle Eingang die Nichtübereinstimmung der motorischen Befehle und der sensorischen Rückmeldungen zu korrigieren vermag. Das Zentrum für Schmerzmedizin und die Hochschule Luzern hat diese komplizierte und weltweit einzigartige Installation entwickelt, die es den Patienten ermöglicht, sich selbst gehen zu sehen. In dieser Installation sitzt der Betroffene in einem umgebauten Elektrorollstuhl, der für das Becken die Gehbewegung simuliert. Vor ihm steht eine Leinwand mit einer Kamera in der Mitte. Sie nimmt den Oberkörper auf. Hinter der Person steht ein sogenannter Greenscreen, auch die Beine sind grün abgedeckt. Eine eigens entwickelte Software kann die Kameraaufnahme der querschnittgelähmten Person mit einem vorproduzierten Video von zwei gesunden, gehenden Beinen und der Waldszene zusammenfügen. Man geht davon aus, dass in diesem Augenblick das Gehirn die reale Situation annehmen kann und der Phantomschmerz so behandelt wird.
Ein neuer Forschungsansatz stützt sich auf die Kryoablation, bei dem das Narbengewebe und Nerven um den verbliebenen Stumpf mittels einer implantierten Sonde auf Temperaturen unterhalb des Gefrierpunktes heruntergekühlt werden. Zusätzlich werden die beteiligten Nerven mithilfe von bildgebenden Verfahren genau lokalisiert. Damit soll erreicht werden, dass die Nervenzellen sich so verändern, dass sie keine Reize mehr weiterleiten.
Übrigens: Menschen ordnen Berührungen oft einer falschen Körperseite oder einem falschen Körperteil zu, wenn sie die Beine oder Füße überkreuz legen, denn in Experimenten werden systematische Berührungen von Hände fälschlicherweise den Füßen zugeordnet und umgekehrt. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von Phantomberührungen. Bisher nahm man an, dass die Verortung von Berührungen auf Körperteilen von mentalen Körperkarten abhängt, doch hängen Phantomberührungen vermutlich von drei Faktoren ab: Von der Identität des Körperteils, also ob es sich etwa um eine Hand oder einen Fuß handelt, sodass häufig die Berührung der einen Hand an der anderen Hand wahrgenommen wird. Den zweitgrößten Einfluss hat die Körperseite des berührten Körperteils, was erklärt, warum die Berührung am linken Fuß manchmal fälschlicherweise an der linken Hand gespürt wird. Hinzu kommt die gewohnte, anatomische Position des Körperteils, also wo sich Hände und Füße am Körper befinden (Badde et al., 2019).
Literatur
Badde, Stephanie, Röder, Brigitte & Heed, Tobias (2019). Feeling a Touch to the Hand on the Foot. Current Biology, doi:10.1016/j.cub.2019.02.060
http://de.wikipedia.org/wiki/Phantomschmerz (10-03-04)
https://de.wikipedia.org/wiki/Spiegeltherapie (12-11-21)
https://www.infranken.de/ratgeber/gesundheit/krankheiten/phantomschmerzen-wie-entstehen-sie-und-welche-neuen-therapien-gibt-es-art-5374058 (22-01-20)