Horvath et al. (2017) haben festgestellt, dass Binge-Watching dem Gedächtnis von Menschen Schaden kann. Probanden mussten eine beliebte Serie in jeweils unterschiedlichen Zeitabständen ansehen. Einen Tag nach der letzten Folge konnten sich die Binge-Watcher besser erinnern als die wöchentlichen Rezipienten, doch nach 140 Tagen konnten sich die wöchentlichen Konsumenten der Serie deutlich besser an die Handlung erinnern als die Binge-Watcher. Dieses Ergebnis bestätigt die lernpsychologische Tatsache, dass der Mensch besser verteilt lernt, denn zuviel Inhalt auf einmal ist dem Behalten nicht förderlich. Hinzu kommt, dass bei den Binge-Watchern der aktive Abrufeffekt ausbleibt, denn beim Betrachten einer neuen Folge muss man sich notgedrungen an die vorherige Folgen erinnern, sich also die Inhalte nochmals ins Gedächtnis rufen, was das Behalten bekanntlich fördert. Dieses von manchen Experten als schädlich eingestufte Binge-Watching muss daher nach Ansicht von anderen Experten nicht unbedingt so negativ gesehen werden, denn ob es schadet oder nicht, hängt von einigen Faktoren ab. Der wichtigste Faktor ist dabei Kontrolle, denn man muss nämlich zwischen Cringe-Watching und Feast-Watching unterscheiden. Cringe bedeutet schaudern, zurückschrecken, sich schämen, und diese Form des Fernsehens oder Streamens ist eindeutig ungesund, denn sie zeichnet sich dadurch aus, dass man mehr oder weniger nebenbei etwas tut und vielleicht parallel dazu auf dem Smartphone surft. Auf jeden Fall schaut man die Videos oder Filme dabei nicht bewusst und kontrolliert, und das schadet definitiv der Gesundheit. Beim Feast-Watching – also dem Festschauen – hingegen behält man die Kontrolle und schaut bewusst etwa eine Lieblingsserie, auf die man sich vorher gefreut hat, indem man vielleicht daraus ein richtiges Ritual gemacht. hat Dabei leidet die mentale Gesundheit nicht, wobei generell natürlich immer die richtige Dosis entscheidend ist, doch in Maßen und ganz bewusst genossen kann auch ein Serienmarathon einem Menschen guttun, etwa auch, wenn er diesen gemeinsam mit anderen genießt.
Binge watching und Sucht
Scheurer & Ernst (2016) bzw. Scheurer, Ernst & Rothlauf (2016) haben in Untersuchungen zum Suchtpotential von Serien wie Game of Thrones festgestellt, dass vor allem die Identifikation mit Serienhelden zu einer Abhängigkeit führen kann. Hinzu kommt, dass durch Streaming-Dienste zu jeder Tages- und Nachtzeit auf beliebig viele Unterhaltungsmedien zugegriffen werden kann, sodass die Beziehung bzw. die Identifikation der ZuschauerInnen zu den Charakteren einer Fernsehserie für die Entwicklung eines starken sozialen Zugehörigkeitsgefühls sorgt. Die Zuschauerinnen und Zuschauer betrachten die Figuren der Serien als vertraute Freunde, an deren Leben sie gefühlten Anteil haben, und wollen mit der Zeit immer mehr davon. Eine solche Beziehung zu fiktiven Figuren wird vor allem dann aufgebaut, wenn die Zuschauerinnen und Zuschauer Parallelen zu ihrer eigenen Person finden oder ihr Leben mit dem der Serienfigur vermischen. Das führt u. a. eben zum Binge Watching. Bei solchen Serien fühlen sich die Zuschauerinnen und Zuschauer akzeptiert und weniger alleine, sie können daher auch nicht aufhören, sich eine bestimmte Fernsehserie immer weiter anzusehen. Eine Vielzahl dieser Sendungen basiert auf Drehbüchern, bei denen häufig Konflikte sozial oder gesellschaftlich benachteiligter Menschen im Fokus stehen. Es zeigte sich auch, dass die Wahrscheinlichkeit, eine Sucht nach Reality TV zu entwickeln, höher ist, wenn die Menschen ein geringes Selbstwertgefühl besitzen, während bei Menschen mit einer hohen Selbstakzeptanz dagegen andere Faktoren eine größere Rolle spielen, wie etwa das soziale Zugehörigkeitsgefühl, das ebenfalls die Sucht nach Fernsehserien begünstigt. So dient Reality TV auch dazu, dass die ZuschauerInnen ihre eigene Lebenssituation mit dem Leben von weniger erfolgreichen Personen, die im Fernsehen dargestellt werden, vergleichen, um dadurch ihr subjektives Wohlbefinden zu steigern.
Streaming-Dienste fördern das Binge watching
In neuerer Zeit stieg gerade in der Gruppe der über 50-Jährigen die Zahl der Streamingdienste-Abonnenten, laut Marktforschungsunternehmen GfK allein im Jahr 2019 um 30 Prozent, während in anderen Altersgruppen die Steigerung niedriger ausfiel. Generell führt ein Fernseh-Konsum von mehr als 3,5 Stunden täglich zu signifikanten Defiziten beim Erinnern an gesprochene Informationen, wobei MRT-Bilder des Gehirns von 50-jährigen Menschen, die über Jahrzehnte im Schnitt mehr als vier Stunden pro Tag vor dem Fernseher saßen, zeigten, dass das Volumen des Frontalhirns und der grauen Substanz geschrumpft war. Hinzu kommt, dass bei manchen Menschen auch die Kommunikationsfähigkeit nachlässt, denn im sozialen Miteinander übt man permanent, Mimik und Gestik eines Gegenüber zu interpretieren und darauf zu reagieren, doch wer passiv vor einem Bildschirm sitzt, läuft Gefahr, dass die empathischen Fähigkeiten leidet, denn das Gehirn passt sich an neue Gewohnheiten an. Hinzu kommt, dass man die in den Medien vorgegaukelten Beziehungen für real hält und dann auch im Alltag erwartet, dass die Welt genauso funktioniert.
Förderung des Binge watching durch Cliffhanger
Einen Cliffhanger nennt man die Situation am Ende eines Films, bei der die Handlung nach eine Lösung verlangt, der Zuschauer aber bis zur Fortsetzung hängen gelassen wird, d. h., er muss also warten, bis es weiter geht. Als Cliffhanger wird dabei daher der offene Ausgang einer Episode auf ihrem Höhepunkt bei Serials, Fernsehserien, Seifenopern oder mit planvoll fortgesetzten Kinofilmen bezeichnet, wobei die Handlung meist in der nächsten Episode fortgesetzt wird. Auch in der Literatur etwa bei Comics gibt es solche Cliffhanger. Im Cliffhanger-Projekt des Departement für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung der Universität Freiburg wurden auch physiologische Daten erhoben und das Cortisol-Level vor, während und nach der Nutzung von solchen Serien untersucht und überprüft, ob es dabei Indikatoren für Stress gibt. Je komplexer das Narrativ war, je mehr Handlungsstränge sich verwoben, desto mehr führte eine Serie dazu, dass man sie spannend fand. Allerdings war nicht ausschlaggebend, wie eine Serie genau aufgebaut ist, sondern was dabei genau mit den NutzerInnen passiert, dass sie bzw. er starke Beziehungen zu den Charakteren entwickelt, d. h., wichtig sind die emotionalen Zustände, die dabei ausgelöst werden. Man geht daher auf Grund der Ergebnisse mehrerer Studien davon aus, dass Menschen Medien nutzen, um ihre Stimmungen in Balance zu bringen, d. h., wenn man gestresst ist, sucht man sich Medien aus, die etwas herunterholen und wenn man gelangweilt ist, sucht man etwas Stimulierendes. Wenn eine Serie dazu führt, dass man kein Gleichgewicht erreicht, weil am Ende immer noch etwas Aufregendes passiert, es also einen Cliffhanger gibt, die Szene besonders traurig macht oder aufwühlt, dann schaut man solange weiter, bis man wieder das Gleichgewicht erreicht. Wenn Serien gut gemacht sind, befindet man sich am Ende einer Folge daher nicht in einem Zustand, in dem man verbleiben möchte. Solche Serien sind daher so konstruiert, dass es eine interessante Geschichte innerhalb einer Episode gibt, aber auch eine Metageschichte, die wichtig ist für das Weiterschauen, weil man ja wissen will, wie es insgesamt weitergeht. Cliffhanger können dazu Wesentliches beitragen, aber natürlich auch, dass viele Serien character driven sind: Wie geht es mit den Figuren weiter, zu denen man eine Beziehung aufgebaut hat? Kann man sich mit ihnen identifizieren? Wie ambivalent sind sie? Zum guten Rezept solcher Serien gehört auch dazu, dass sich die Charaktere entwickeln. Viele Serien schaffen es auch, dass man weiterschaut, weil beim Abspann am Ende einer Folge das Fenster für die nächste aufgeht, so dass man neu getriggert ist, und wenn man nicht aktiv stoppt, fängt die nächste Folge automatisch an.
Literatur
Jared Cooney, Horvath, Alex J. Horton, Jason M. Lodge & John A.C. Hattie (2017). The impact of binge watching on memory and perceived comprehension. First Monday, 22, doi:http://dx.doi.org/10.5210/fm.v22i9.7729.
Maren Scheurer & Claus-Peter H. Ernst (2016). A Study on the Role of Self-Esteem in Reality TV Addiction. “Séries et Dépendance II” in Paris, 8-10 December 2016.
Maren Scheurer, Claus-Peter H. Ernst & Franz Rothlauf (2016). TV Series Characters Are Almost Like Friends to Me – On the Influence of Perceived Belonging on TV Series Addiction. “Séries et Dépendance II” in Paris, 5-6 February 2016.
https://www.apotheken-umschau.de/Sucht/Endlos-TV-Was-bewirkt-Binge-Watching-559363.html (20-08-14)
https://www.unifr.ch/universitas/de/ausgaben/2020-2021/united-kingdom/nur-noch-eine-folge.html (21-11-06)
https://www.brigitte.de/liebe/persoenlichkeit/psychologie–gewohnheiten–die-unserer-psyche-nicht-so-schaden-wie-gedacht-13374942.html (22-08-19)