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Verhaltenstherapie

    Verhaltenstherapie ist jene Form von Psychotherapie, die psychologisches Wissen, insbesondere Erkenntnisse ihrer Lerntheorien, auf die Behandlung von Menschen mit psychischen Störungen anwendet. Verhalten ist demnach sowohl erlernbar als auch wieder verlernbar. Allerdings geht die Verhaltenstherapie über die Grenzen der Lerntheorie hinaus, indem sie weitere Funktionalitäten des Verhaltens und Erlebens wie Kognitionen, Motive, Emotionen oder den sozialen Kontext für die Regulation des Verhaltens in der Psychotherapie mitberücksichtigt. In der verhaltenstherapeutisch orientierten Psychotherapie wird in der Regel auf der Grundlage von gezielten Verhaltensanalysen hypothesengeleitet überprüft, welche Faktoren des Erlebens und Verhaltens der betroffenen Person eine psychische Störung aufrechterhalten. Danach erfolgt die Planung von gezielten Maßnahmen, um den Zustand des Patienten positiv zu verändern, wobei diese Behandlungsmaßnahmen meist Übungen bilden und die aktive Mitarbeit des Klienten bei den Therapiemaßnahmen erfordern. Alle Formen der Verhaltenstherapie wie Langzeittherapie, Kurzzeittherapie, Einzeltherapie oder Gruppenbehandlung beinhalten eine laufende Überprüfung des praktischen Vorgehens (Evaluation), wobei theoretische Erkenntnisse mit einbezogen werden. Zum einen sichert dies die Bewertung des Therapieverlaufes, zum anderen kann dadurch der Therapieplan an die Bedürfnisse des Patienten angepasst werden.

    Zur Geschichte:

    Historisch betrachtet hatten im Laufe der Entwicklung der Verhaltenstherapie die Arbeiten von I. P. Pawlow und J. B. Watson den bedeutendsten Einfluss. Ihre Art, gestörtes Verhalten anzugehen und die insgesamt wachsende Bedeutung der Lerntheorie innerhalb der Psychologie schufen ein günstiges Klima für die Entwicklung der Verhaltenstherapie.

    Die Verhaltenstherapie hat aber ihre Ursprünge in den bahnbrechenden Arbeiten der amerikanischen Psychologin Mary Cover Jones, die 1924 eine wegweisende Fallstudie zur Behandlung von Ängsten veröffentlichte. Ihre innovative Methodik basierte auf Erkenntnissen aus der Lernpsychologie und markierte einen Paradigmenwechsel in der Behandlung psychischer Störungen. In ihrem allerersten Fall behandelte Mary Cover Jones einen dreijährigen Jungen, der eine irrationale Angst vor Kaninchen und anderen pelzigen Tieren hatte. Mit großer Sorgfalt und Feingefühl gelang es ihr, das Kind Schritt für Schritt an den Kontakt mit den gefürchteten Objekten heranzuführen und positive Assoziationen zu schaffen. Die detailliert dokumentierte Fallstudie, die 1924 in einer renommierten Fachzeitschrift erschien, erregte große Aufmerksamkeit in der Fachwelt und legte den Grundstein für die Verhaltenstherapie als eigenständige psychotherapeutische Schule. Obwohl Mary Cover Jones ihrer Methodik damals keinen spezifischen Namen gab, kann sie rückblickend als Mutter der Verhaltenstherapie angesehen werden. Ihr innovativer Ansatz, der auf einer systematischen Gewöhnung an angstauslösende Reize beruhte, erwies sich als äußerst effektiv bei der Behandlung von Angststörungen, Zwangserkrankungen, Suchtproblemen und Essstörungen – und findet bis heute breite Anwendung in der klinischen Praxis.

    Mary Cover Jones zeichnete sich durch ihre sorgfältige, wissenschaftliche Herangehensweise aus. Mit ihrem tiefgreifenden Verständnis der experimentellen Psychologie testete und evaluierte sie ihre Behandlungsmethoden gründlich, um deren Vor- und Nachteile zu erkennen. Dieses Prinzip der evidenzbasierten Praxis ist bis heute ein Kernmerkmal der Verhaltenstherapie geblieben. Sie baut auf den Erkenntnissen der Grundlagenwissenschaften auf und überprüft ihre Ergebnisse kontinuierlich durch empirische Forschung. Durch ihre bahnbrechende Arbeit leistete Mary Cover Jones einen entscheidenden Beitrag zur Professionalisierung und Weiterentwicklung der Psychotherapie. Ihre innovativen Ideen und ihr streng wissenschaftlicher Ansatz inspirierten nachfolgende Generationen von Psychotherapeuten und trugen maßgeblich zur Etablierung der Verhaltenstherapie als eine der führenden psychotherapeutischen Richtungen unserer Zeit bei.

    Der eigentliche Beginn der verhaltenstherapeutischen Orientierung in der psychologischen Therpie datiert aber in die fünfziger Jahre des vorigen Jahrhunderts. In Südafrika experimentiert der Psychiater Joseph Wolpe mit Tieren und stellt fest, dass Angst neurotische Reaktionen verursacht. Dabei gründet er seine Schlussfolgerungen auf die Pawlowschen Prinzipien der Konditionierung und das Stimulus-Response Modell. Die Verhaltenstherapie war als angewandte Lernpsychologie vor allem in ihrer ersten Phase strikt verhaltenszentriert und an der Modifikation des dysfunktionalen Verhaltens in gegebenen Kontexten orientiert, und erst mit der kognitiven Wende wurden innere Prozesse des Klienten bzw. der Klientin als wichtige intervenierende Einflüsse auf das offene Verhalten mit einbezogen. Doch bleibt das, was in der Verhaltenstherapie wirksam ist, teilweise umstritten, denn insbesondere der Beitrag störungsspezifischer Faktoren beim Therapieerfolg relativiert die meist überlegene Wirksamkeit einzelner Verfahren.

    Siehe dazu im Detail Verhaltenstherapie – Was ist das?


    Buchempfehlung

    Lehrbuch über Psychotherapie mit Schwerpunkt Verhaltenstherapie, gekennzeichnet von Verfahrensoffenheit sowie einer modernen und patientenorientierten Haltung setzt es sich insbesondere mit dem Verlauf des psychotherapeutischen Prozesses auseinander. Damit wird die Problemanalyse statt der klassifikatorischen Diagnostik zum zentralen Bezugspunkt. Im Mittelpunkt stehen die störungsübergreifenden Bedingungen psychischer Störungen im Verhalten, in den Kognitionen und Emotionen, im Körper, in der Psychodynamik sowie in den Systemen und Lebenswelten. Daran anschließend werden ausführlich und praxisnah Interventionen beschrieben, die sich aus den jeweiligen aufrechterhaltenden Bedingungen ableiten lassen. Des Weiteren werden reflektiert die an der Psychotherapie beteiligten Personen und ihre Beziehung, diagnostische Methoden sowie die gesellschaftlichen, ethischen und rechtlichen Rahmenbedingungen psychotherapeutischen Handelns. In diesem Lehrbuch der Psychotherapie wird problemanalytisch und daraus abgeleitet in Bezug auf die Interventionen durch verschiedene Brillen geschaut, je nach Art des Problems der Patientin und des Patienten und natürlich auch je nach fachlicher Orientierung der Therapeutin und des Therapeuten. Dies ermöglicht eine individuelle Sicht, eine individuelle Diagnostik und eine individuelle Therapieplanung.


    1. Definition
    Die Verhaltenstherapie ist eine therapeutische Richtung, die das auf experimentellem Wege gefundene Gesetz des Lernens anzuwenden versucht. Sie geht davon aus, dass „pathologische“ Störungen auf die gleiche Art gelernt werden wie „normales“ Verhalten. Die Therapie stellt ein „therapeutisches Lernen“ dar. Das häufig ein Verlernen oder Umlernen darstellt (vgl. Edelmann, 1978, S. 90).

    2. Definition
    „Im weitesten Sinne wird in der Verhaltenstherapie normabweichendes Verhalten, welchen das Individuum selbst und/oder eine soziale Umwelt als störend empfindet, durch vorgeplante Lernvorgänge verändert“ (Pielmaier, 1979, S. 14).

    3. Definition
    In der deutschen Literatur versteht man unter der Verhaltenstherapie ebenfalls die kontrollierte lernpsychologische Beeinflussung von Problemverhalten, verwendet den Begriff aber vorzugsweise für therapeutische Behandlungen in der sozialen Umwelt (Familie, Schule, Heime, Kindergarten) unter der Einbeziehung der Bezugsperson des Klienten (vgl. Bauer, 1979, S. 19).

    4. Definition
    Es existieren eine ganze Reihe verhaltenstherapeutische Verfahren, die alle auf gewisse Erfolge verweisen können. Dabei kann kaum ein Zweifel darüber bestehen, dass die einzelnen Verfahren für verschiedene Formen gestörten Verhaltens verschieden gut geeignet sind. Günstiger wäre es jedoch, stattdessen den Möglichkeiten und Problemen einer „diagnosen-spezifischen“ und „fallspezifischen“ Behandlung mehr Aufmerksamkeit zu widmen (vgl. Blöschl, 1974, S. 54).

    5. Definition
    Anwendung experimentell begründeter Lernprinzipien mit dem Ziel, unangepaßtes Verhalten zu verändern. Unangepaßtes Verhalten werden abgeschwächt und ausgemerzt, angepasste Verhaltensweisen aufgebaut und verstärkt (vgl. Dorsch, 1994, S. 647).


    Kritik an der Verhaltenstherapie

    Kritisiert wird an der Verhaltenstherapie häufig, dass psychische Erkrankungen in der Verhaltenstherapie als Störungen aufgefasst werden, die es zu beseitigen gilt, damit ungestörtes psychisches Funktionieren wieder möglich wird. Im Gegensatz dazu verstehen etwa psychoanalytischen Verfahren psychische Symptome als Sinnträger, die einen Konflikt zum Ausdruck bringen, der auf andere Weise nicht mitgeteilt werden kann. Ausgangspunkt einer solchern Therapie ist die Auffassung, dass Ängste oder Depressionen immer auch Spuren früherer Gewalterfahrungen oder Vernachlässigungen enthalten, die sich nicht einfach beseitigen lassen, sondern verstanden werden müssen. Erst die Anerkennung dieser schwer erträglichen traumatischen Erfahrungen bringt die bisher unerhörte Botschaft zum Verschwinden und mildert damit die Symptome. Um ein solches Verstehen zu ermöglichen, arbeiten die analytischen Verfahren im Hier und Jetzt und sehen in der therapeutischen Beziehung den entscheidenden Raum zur Inszenierung dieser Botschaften und der bisher unverstandenen, schmerzlichen Beziehungserfahrungen. Zentral ist dabei das Zusammenspiel von Übertragung und Gegenübertragung, während die kognitiv-behavioralen Therapieverfahren in instrumenteller Weise die Übertragungsbeziehung zu nutzen suchen und dabei vorgeben, etwas Ähnliches zu machen wie die analytischen Verfahren.

    Literatur

    Alpers, G.W. (2024). Happy 100th Anniversary, Behavior Therapy! Behaviour Research and Therapy, doi.org/10.1016/j.brat.2024.104642.
    Bauer, M. (1979). Verhaltensmodifikation durch Modelllernen. Stuttgart: Kohlhammer.
    Blöschl, L. (1974). Grundlagen und Methoden der Verhaltenstherapie. Wien: Huber.
    Dorsch, F. (1994). Psychologisches Wörterbuch. Wien: Huber.
    Edelmann, W. (1993). Lernpsychologie. Weilheim: Psychologie-Verl.-Union.
    Pielmaier, H. (1979). Verhaltenstherapie bei delinquenten Jugendlichen. Stuttgart: Enke.
    Stangl, W. (2024, 13. November). Mary Cover Jones, die Begründerin der Verhaltenstherapie.Psychologie-News.
    https:// psychologie-news.stangl.eu/5451/mary-cover-jones-die-begruenderin-der-verhaltenstherapie.
    https://taz.de/Ausbildung-in-der-Psychotherapie/!5661319/ (20-02-19)


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    3 Gedanken zu „Verhaltenstherapie“

    1. Psychologe

      Herzlichen Dank für den tollen und informationshaltigen Artikel! Ich freue mich in Zukunft noch weitere Beiträge von euch zu Lesen.
      Grüße Sven

    2. Ich habe kein psychologisches Hintergrundwissen, aber fand den Artikel übersichtlich und verständlich. Die Verhaltenstherapie scheint ein sehr interessanter Teilbereich der Psychologie zu sein.

    3. Schöner Übersicht zum Thema Verhaltenstherapie. Der Artikel war sehr interessant für mich.
      LG

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