Kurzdefinition: Gerichtetes Vergessen bezeichnet jenen Prozess, bei dem vom Gehirn irrelevante Informationen als solche erkannt und gezielt vergessen werden, wobei diese Form des Nichtspeicherns einer Information eine wichtige Voraussetzung für effizientes Lernen ist und in fortgeschrittenem Alter schlechter funktioniert.
Das menschliche Gedächtnis dient nicht allein dazu, Informationen über lange Zeit zu erhalten, sondern Erinnerungen sind in erster Linie dazu da, eine Grundlage für Entscheidungen zu liefern. Daher ist ein Gleichgewicht von vergessenen und gespeicherten Informationen optimal, denn dadurch passen sich Menschen an neue Situationen besser an, werden flexibler und können Zusammenhänge erkennen. Ein wesentliches Merkmal des Gedächtnisses ist daher die Priorisierung der Informationen, um diese anwenden zu können. Das Vergessen bestimmter Inhalte ist daher in vielen Situationen und bei gewissen Informationen unabdingbar für die einwandfreie Arbeitsweise des menschlichen Gedächtnisses. Dieses als gerichtetes Vergessen bezeichnete Form des Vergessens besagt, dass Informationen, die nicht mehr länger brauchbar bzw. für die Erreichung eines Ziels irrelevant geworden sind, aus dem Gedächtnis entfernt werden, um Platz für relevante Informationen und Prozesse zu schaffen. Gerichtetes Vergessen passiert einerseits quasi automatisch, lässt sich anderseits aber auch gezielt steuern, denn der Hinweis „Vergiss das!“ führt häufig zu einer signifikant geringeren Gedächtnisleistung von zuvor gelernten Informationen, allerdings nur bei jungen Menschen. Nach neueren Untersuchungen (Kerschbaum et al., 2017) wird dabei das gerichtete Vergessen von Geschlechtshormonen beeinflusst, denn junge Männer vergessen, wenn sie in Experimenten dazu aufgefordert werden, Unwichtiges am besten, danach kommen junge Frauen, die die Pille nehmen, knapp dahinter Frauen mit einem natürlichen Zyklus. Postmenopausale Frauen hingegen können am schlechtesten filtern. Da man weiß, dass eine Funktion von Progesteron darin besteht, im Gehirn hemmende Netzwerke zu verstärken, d. h., Denkprozesse werden durch erregende und hemmende elektrische Schwingungen in bestimmten Frequenzbereichen beeinflusst, wobei ohne hemmende Schwingungen es zu einer nicht verarbeitbaren Informationsflut käme. Beeinflusst von Progesteron sorgen hemmende Schwingungen (Alpha-Oszillationen) für eine selektive Wahrnehmung, indem sie bestimmte Nervenzellen vorübergehend blockieren.
Ein typisches Beispiel aus dem Alltag ist jene Situationen, in der man einfach nicht mehr weiß, wo man einen Gegenstand hingelegt hat, den man nur Minuten zuvor noch in den Händen hielt. Das geschieht deshalb, weil das Gehirn in diesem Augenblick durch einen anderen Inhalt – etwa einen Telefonanruf oder das Klingeln an der Tür – blockiert wurde, den für aktuell relevanter erachtet wird.
Der Schlaf beeinflusst das Gedächtnis über zahlreiche Mechanismen, etwa indem das Gehirn im Schlaf Abfallstoffe ausschwemmt und die Informationen des Tages nochmals verarbeitet, bevor Wichtiges dann im Langzeitgedächtnis gespeichert wird. Izawa et al. (2019) haben am Mausmodell gezeigt, dass auch das nächtliche Vergessen ein aktiver Prozess ist, wobei eine Neuronengruppe des Hypothalamus, die auch eine Reihe von vegetativen Funktionen steuert, das melaninkonzentrierende Hormon, das neben dem Hungergefühl auch die Länge der REM-Schlafphasen beeinflusst, dafür entscheidend sein kann. Als man nach Lernversuchen mit Mäusen diese Zellgruppe im Gehirn der Tiere aktivierte, führte das dazu, dass die Mäuse sich nicht mehr an die zuvor gelernten Inhalte erinnerten. Eine Kontrollgruppe, bei denen dieses Areal nicht durch eine Injektion aktiviert worden war, erinnerte sich deutlich länger an das Gelernte. Das Vergessen geschieht also über eine direkte Nervenverbindung zwischen dieser Neuronengruppe und dem Hippocampus, indem Neurotransmitter freigesetzt werden, die verhindern, dass ein Teil der Informationen in das Gedächtnis gelangen. Offenbar entscheidet Gehirn im REM-Schlaf, welche Informationen es speichert und welche nicht, was übrigens auch erklärt, warum Träume fast immer sofort aus dem Gedächtnis verschwinden, denn Träume treten vor allem im REM-Schlaf auf und damit genau zu der Zeit, in der diese Neuronengruppe aktiv ist.
Literatur
Izawa, Shuntaro, Chowdhury, Srikanta, Miyazaki, Toh, Mukai, Yasutaka, Ono, Daisuke, Inoue, Ryo, Ohmura, Yu, Mizoguchi, Hiroyuki, Kimura, Kazuhiro, Yoshioka, Mitsuhiro, Terao, Akira, Kilduff, Thomas S. & Yamanaka, Akihiro (2019). REM sleep–active MCH neurons are involved in forgetting hippocampus-dependent memories. Science, 365, 1308-1313.
Kerschbaum H. H., Hofbauer I., Gföllner A., Ebner B., Bresgen N., Bäuml K. T. (2017). Sex, age, and sex hormones affect recall of words in a directed forgetting paradigm. Journal of Neuroscience Research, 95, 251-259.
Löschen und Vergessen sind keine Fehler oder Aussetzer in der Wahrnehmung, vielmehr gehören sie fest zu den dafür nötigen Abläufen, denn längerfristig gespeichert wird nur ein verschwindend kleiner Teil der Erlebnisse. Schreibgeschützt sind aber oft traumatische Erlebnisse, wobei sich auch diese Erinnerungen mit jedem Abruf ein wenig ändern.
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