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Vorläuferzellen

    Als Vorläuferzellen, Progenitorzellen bzw. Stammzellen werden Körperzellen bezeichnet, die sich in verschiedene Zelltypen oder Gewebe ausdifferenzieren können, wobei je nach Art der Stammzelle sich diese in jegliches Gewebe oder in bestimmte festgelegte Gewebetypen entwickeln können. Stammzellen in menschlichen Körper fungieren dabei als Reservoir von Zellen, die sich teilen, um neue Stammzellen zu produzieren, sowie als eine Vielzahl verschiedener Arten spezialisierter Zellen, die zur Sicherung der Gewebserneuerung und -funktion erforderlich sind. Hämatopoetischen Stammzellen (Blutstammzellen) etwa befinden sich im Knochenmark, dem Weichgewebe, das sich im Zentrum großer Knochen wie Hüften oder Oberschenkel befindet, wobei es deren Aufgabe ist, das Repertoire der Blutzellen zu erneuern, und zwar einschließlich der Zellen des Immunsystems, die für die Bekämpfung von Infektionen und anderen Krankheiten von großer Bedeutung sind.

    Besonders bedeutsam sind in der Psychologie die neuronalen Stammzellen, denn wenn ein Kind das Licht der Welt erblickt, warten in seinem Kopf Milliarden von Neuronen auf Input, wobei diese enorme Menge an Nervenzellen von nur einigen wenigen Vorläuferzellen abstammt. Diese müssen sich zunächst vermehren, um genügend Ausgangszellen zu bilden, und nach und nach schlägt dann ein Teil der Zellen einen anderen Weg ein und beginnt, in die gewebespezifischen Zellen des Gehirns wie Neuronen und Gliazellen auszureifen. Der Übergang zwischen Zellvermehrung und Ausreifung ist dabei genau geordnet, denn eine Veränderung des Gleichgewichtes hätte fatale Folgen, sodass gegenläufige Stuerkomponenten sich gegenseitig kontrollieren und einen Regelkreis bilden. Wie viele adulte Stammzellen vorhanden sind, ist allerdings für die  Regenerationsfähigkeit des Gehirns essenziell, denn diese Zellen stehen nicht endlos zur Verfügung, sondern können nur eine bestimmte Anzahl neuer Nervenzellen bilden.

    Schon die Art und Weise, wie sich Stammzellen während der Embryonalentwicklung teilen, beeinflusst die Bildung der adulten neuralen Stammzellen. Während der embryonalen Entwicklung gibt es zwar viele Vorläuferzellen, die neue Nervenzellen bilden können, doch bleiben nur wenige dieser Vorläuferzellen auch im erwachsenen Organismus als adulte neurale Stammzellen erhalten. Aus diesen Zellen können einerseits Nervenzellen hervorgehen, andererseits aber auch adulte neurale Stammzellen, die später in der lateralen Wand des lateralen Ventrikels des Gehirns angesiedelt sind. Die aus diesen adulten Stammzellen neu gebildeten Nervenzellen wandern etwa anschließend in den Bereich, der für den Geruchssinn zuständig ist, und können dort verlorene Nervenzellen ersetzen.

    Die Wanderung von Nervenzellen von ihrem Entstehungsort zu ihrem Bestimmungsort ist ein entscheidender Schritt bei der Entwicklung des zentralen Nervensystems, wobei bestimmte Zellen, basale Vorläuferzellen, beim Menschen die Verbreitung der Nervenzellen im entstehenden Gehirn unterstützen. Basale Vorläuferzellen, einschließlich intermediärer Vorläuferzellen und basaler radialer Glia, entstehen aus apikalen radialen Gliazellen und sind in gyrenzephalen Spezies wie dem Menschen angereichert und tragen zur neuronalen Expansion bei. Kurz nach ihrer Entstehung delaminieren die Vorläuferzellen in die subventrikuläre Zone, wo sie sich vor ihrer Differenzierung weiter vermehren. Die Veränderungen der Genexpression, die an der Delaminierung der Vorläuferzellen und ihrer Funktion beim Menschen beteiligt sind, sind nur unzureichend bekannt. Kyrousi et al. (2021) untersuchten anhand von zerebralen Organoiden, menschlichem fötalem Gewebe und Mäusen die Rolle von LGALS3BP, einem sekretierten Protein, das bisher als Krebs-Biomarker bekannt war, das in menschlichen neuralen Vorläuferzellen angereichert ist. Sie zeigten, dass Menschen mit bestimmten Varianten des LGALS3BP-Gens Unterschiede in ihrer Großhirnrinde aufweisen, wobei man herausfand, dass LGALS3BP die Position der neuronalen Vorläuferzellen bestimmt und ihre Verankerung sowie Bewegung in der extrazellulären Matrix des menschlichen Gehirns beeinflusst. LGALS3BP ist bei seiner Ausschüttung in extrazelluläre Vesikel offenbar für die richtige Faltung der Hirnrinde unerlässlich.

    Zum Aufbau des Neocortex, der äußersten Schichten der Großhirnrinde, müssen Stammzellen die Bildung von Milliarden Nervenzellen verschiedenster Art anstoßen, doch wie dieser Prozess in richtiger zeitlicher Abfolge abläuft, ist noch nicht vollständig geklärt. Bei Studien an Mäusen zeigte sich, dass diese zu unterschiedlichen Zeitpunkten mit anderen genetischen Programmen arbeiten und diese an ihre Tochter-Neuronen weitergeben. Diese Programme ändern sich in ihrer Ausrichtung und werden immer komplexer, denn ist es zunächst vor allem die Steuerung von Prozessen innerhalb der Zellen, kommen mit der Zeit mehr Programme zur Anwendung, die auch Reize von außerhalb der Zellen verarbeiten (Telley et al., 2019).

    Früher dachte man, dass die Identität einer Zelle unveränderlich festgeschrieben ist, doch in den letzten Jahren stellt sich heraus, dass diese Identität nicht statisch ist, sondern ständig aktiv stabilisiert wird. So entstehen etwa sowohl die Hilfszellen als auch die Nervenzellen des Gehirns aus gemeinsamen Vorläufern. Solche Hilfszellen sind die sternförmigen Astrozyten, die die Nervenzellen mit Nährstoffen versorgen, für eine stabile Umgebung sorgen und Abfälle entsorgen, sind also für die Funktion des Gehirns ganz entscheidend. Qian et al. (2020) haben jüngst herausgefunden, dass die Identität der Hilfszellen durch einen Faktor namens PTB aufrechterhalten wird, denn solange diese nach einer genetischen Anleitung PTB produzieren, bleiben Hilfszellen Hilfszellen, doch im Hintergrund liegt stets eine Identität für eine Nervenzelle bereit. Wenn man nun diese genetische Anleitung gezielt mit Antisense Molekülen blockiert, können die Hilfszellen kein PTB mehr bilden und beginnen dann Moleküle zu bilden, die für Nervenzellen typisch sind, etwa indem sie beginnen, elektrische Signale weiterzuleiten. Ohne PTB setzt sich der stumme genetische und sich selbst verstärkender Prozess für die Identität Nervenzelle durch, d. h., auch wenn PTB nur für kurze Zeit fehlt, fällt die Zelle nicht in ihre alte Identität als Hilfszelle zurück, sondern bleibt auf Dauer eine Nervenzelle. Schon bisher hatte man versucht, Hilfszellen in Nerven umzuwandeln. Bei Mäusen, bei denen die Dopaminneuronen auf einer Seite des Gehirns fehlen und denen man die Antisense Moleküle gegen die PTB-Produktion direkt ins Mittelhirn gespritzt hatte, wandelten sich die Hilfszellen in Nerven um. Diese Methode könnte bei neurodegenerativen Erkrankungen wie Parkinson ein wichtiger Ansatz sein.

    Kultivierte Vorläuferzellen aus dem Gehirn von wenige Wochen alten, verstorbenen Säuglingen brachten es auf über 70 Zellgenerationen, die sich in Kultur zu verschiedenen Zelltypen ausdifferenzieren ließen, etwa zu Nervenzellen und Astrocyten.

    Nach neuester Forschung an Mäusen (Falk et al., 2017)  beeinflusst die Teilungsebene der embryonalen Vorläuferzellen die Entstehung der adulten Stammzellen, denn liegt die Teilungsebene der meisten Vorläuferzellen annähernd senkrecht (60-90°) zur apikalen Zelloberfläche, ist der Ertrag an adulten Stammzellen am höchsten. Ein weiterer Faktor ist der Zeitpunkt der Zellteilung, denn adulte Stammzellen werden nur während einer zeitlich eng begrenzten Phase der Entwicklung gebildet. Spätere Manipulationen der Teilungsebene haben dann keinen Einfluss mehr auf die Anzahl der zur Verfügung stehenden adulten Stammzellen.

    Bei Mäusen ließ sich zeigen, dass transplantierte embryonale Nervenzellen zu gleichwertigen Mitgliedern eines bestehenden Nervennetzwerks heranwachsen und die Aufgaben der neuen Position vollständig übernehmen können. Im Versuch transplantierten Falkner et al. (2016) embryonale Nervenzellen der Großhirnrinde in geschädigte Sehrindennetzwerke erwachsener Mäuse und beobachtete in den folgenden Wochen und Monaten, wie sich die unreifen Nervenzellen zu den Pyramidenzellen ausdifferenzierten, die in den beschädigten Bereich des Gehirns gehören. Dabei haben die Zellen nicht nur überlebt und sich weiterentwickelt, sondern die neuen Zellen verknüpften sich genauso wie die Nervenzellen dieser Region und antworteten auf Sehreize. Dabei verknüpften sich die Pyramidenzellen, die aus den transplantierten Jungzellen entstanden waren, mit exakt den richtigen Nervenzellen im gesamten Netzwerk des Gehirns und erhielten die gleichen Informationen wie die ausgefallenen, ursprünglichen Zellen des Netzwerks. Auch die nachgeschalteten Neuronen entsprachen denen der zerstörten Zellen, d. h., die fremden Nervenzellen haben mit hoher Genauigkeit die Lücke in einem neuronalen Netzwerk geschlossen, das unter natürlichen Umständen niemals neue Nervenzellen integrieren würde.

    Stammzellen bei Mäusen

    Paul, Chaker & Doetsch (2017) haben bei der Untersuchung von Nervenzellen im Hypothalamus entdeckt, dass diese über große Distanzen in Abhängigkeit von der Nahrungszufuhr einen ganz bestimmten Typ von Stammzellen dazu stimulierten, sich zu vermehren und zu spezifischen Nervenzellen heranzureifen, im konkreten Fall zu Nervenzellen für das Riechzentrum. Sie konnten am Mausmodell auch zeigen, dass Hunger und Sättigung die Rekrutierung ganz spezifischer Stammzellpopulationen und damit verbunden, die Bildung von bestimmten Nervenzelltypen im Riechkolben steuern. Wenn die Tiere hungerten, sank die neuronale Aktivität der Nervenzellen im Hypothalamus und damit auch die Vermehrungsrate des angesteuerten Stammzellpools. Wenn die Tiere wieder Nahrung erhielten, kehrte sich dieser Prozess um. Diese Ergebnisse lassen vermuten, dass auch andere Nervenzellnetzwerke im Gehirn unterschiedliche Pools von Stammzellen aus der subventrikulären Zone regulieren und damit auf verschiedene Reize und Zustände reagieren.

    Bottes et al. (2020) konnten erstmals den Prozess beobachten, wie sich Stammzellen im erwachsenen Gehirn der Maus über Monate hinweg teilen, um neue Nervenzellen zu bilden. In der Studie beobachtete man mittels modernster Mikroskopie und genetischer Analysen (Einzelzell RNA-Sequenzierung) von Stammzellen und ihren Tochterzellen die Bildung von neuen Nervenzellen und stellte fest, dass bestimmte Stammzellpopulationen über Monate hinweg aktiv sind und sich wiederholt teilen können. Auch konnte durch die Einzelzell RNA-Sequenzierung von Stammzellen und ihren Tochterzellen gezeigt werden, dass sich Stammzellen mit unterschiedlichem Teilungsverhalten (wenige Zellteilungen im Gegensatz zu langanhaltender Stammzellaktivität) anhand ihrer molekularen Zusammensetzung und Expression von Genen unterscheiden lassen.

    Gehirnverletzungen und Stammzellen

    Neurologische Erkrankungen wie Trauma, Schlaganfall, Epilepsie und verschiedene neurodegenerative Erkrankungen führen zu einem irreversiblen Verlust von Nervenzellen, wodurch die Gehirnfunktion stark beeinträchtigt wird. Dies liegt zum einen daran, dass verloren gegangene Nervenzellen nicht ersetzt werden können, und zum anderen daran, dass die Zellen in der Umgebung der Läsion die Heilung nicht unbedingt fördern. Gliazellen sind neben den Neuronen ein wesentlicher Bestandteil des Nervensystems und haben eine Schutzfunktion: Es konnte gezeigt werden, dass Gliazellen die Zellteilung wieder aufnehmen und so das Eindringen von Immunzellen bei Hirnverletzungen verhindern können. Darüber hinaus erlangen einige dieser Astrozyten neuronale Stammzelleigenschaften, wobei neuronale Stammzellen sich selbst erneuern und sowohl Neuronen als auch Gliazellen produzieren können. Sirko et al. (2023) haben nun herausgefunden, dass bei Hirnverletzungen bestimmte Zellen im Gehirn aktiv werden und Eigenschaften von neuronalen Stammzellen aufweisen, wobei der Regulator dieser Stammzelleigenschaften ein bestimmtes Protein ist, das für neue therapeutische Ansätze genutzt werden könnte. Solche Zellen wurden im Gehirn von Mäusen nach Verletzungen wie Trauma oder Schlaganfall gefunden, bei denen die Blut-Hirn-Schranke beschädigt wurde, so dass Blut oder Liquor, eine schützende Flüssigkeit, die das Gehirn umgibt, eindringen konnte. Es zeigte sich, dass diese Plastizität der Astrozyten eng mit der Hochregulierung des Proteins Galectin 3 zusammenhängt, das somit ein Marker für sich teilende menschliche Astrozyten zu sein scheint.

    Die Rolle der Interferone

    Interferone sind Zell-Botenstoffe, die bei einer Virusinfektion das Immunsystem ankurbeln und modulieren, sind aber gleichzeitig eine wichtige Ursache für den altersbedingten Funktionsverlust von Hirnstammzellen. Am Mausmodell konnte man jüngst zeigen, dass Interferon die Aktivität und Selbsterneuerung der Hirnstammzellen während der gesamten Lebenspanne reguliert, d. h., in jungen Gehirn steigert, im weniger aktiven alternden Gehirn dagegen drosselt es die Produktion von Nerven-Vorläuferzellen. Im Gegensatz zur vorherrschenden Expertenmeinung fanden Carvajal et al. (2023) heraus, dass Interferon-Signale nicht nur im Alter, sondern über die gesamte Lebensspanne hinweg die Aktivität der Hirnstammzellen beeinflussen, selbst schon bei jungen Tieren. Die Hirnstammzellen reagierten auf Interferon, Vorläuferzellen ab einem gewissen Entwicklungsschritt jedoch nicht mehr, und erst die ausdifferenzierten Neuronen sprachen wieder auf den Botenstoff an. Eine zweiphasige Interferon-Kontrolle der Aktivierung von Hirnstammzellen trägt offenbar dazu bei, die Produktion von Vorläuferzellen an den jeweiligen Bedarf anzupassen, im jungen Gehirn steigert Interferon also die Anzahl der Vorläuferzellen, im wenig aktiven alternden Gehirn dagegen drosselt es sie. Man hofft nun, dass man im höheren Lebensalter durch eine Blockade der Interferonsignale diesen Prozess möglicherweise bremsen und dem altersbedingten Abbau der Gehirnfunktion entgegenwirken könnte.


    In der Jugend ist der Hippocampus entscheidend für das Erinnern an Orte und Ereignisse, denn dort werden die kognitiven Landkarten neuer Umgebungen erstellt. Im Alter werden dafür andere Strukturen genutzt, die eher auf Gewohnheiten beruhen. Berdugo-Vega et al. (2020) haben untersucht, ob eine Erhöhung der Anzahl von Hirnstammzellen helfen kann, diesbezügliche kognitive Funktionen wie Lernen und Gedächtnis wiederzuerlangen, die im Laufe des Alterns verloren gehen. Man stimulierte im Gehirn alter Mäuse den dort vorhandenen kleinen Pool neuronaler Stammzellen, sodass sich die Menge dieser Stammzellen und damit auch die Anzahl der aus ihnen erzeugten Gehirnzellen erhöhte, wobei diese zusätzlichen Neuronen im Experiment überlebten und neue Kontakte zu benachbarten Zellen knüpften. In einem nächsten Schritt untersuchte man eine wichtige Aufgabe des Gehirns, die ähnlich wie bei der Maus auch beim Menschen im Laufe des Alterns verloren geht, die Navigationsfähigkeit. Es ist vom Alter abhängig, auf welche Art man sich in einer neuen Umgebung zurechtzufinden lernt, denn in der Jugend erstellt das Gehirn eine kognitive Landkarte und erinnert sich an diese, doch schwindet diese Fähigkeit im Alter, d. h., ältere Türe und vermutlich auch Menschen navigieren statt mit der Landkarte anhand fester Abfolgen von Richtungswechseln, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Doch ist die zuverlässigere Strategie von beiden jedoch die kognitive Landkarte, also die Strategie des jungen Gehirns. Es zeigte sich, dass eine erhöhte Zahl von Gehirnzellen ausreicht, um den Alterungsprozess zu verlangsamen und damit der nachlassenden Navigationsfähigkeit entgegenzuwirken. Alte Mäuse mit einem Plus an Stamm- und Gehirnzellen konnten die zuvor verlorene Fähigkeit, eine kognitive Landkarte zu erstellen, zurückgewinnen und erinnerten sich länger an die Details. Auch die Stimulation der Hirnstammzellen bei jungen Mäusen sorgte dafür, dass deren Gedächtnisleistung über den gesamten Verlauf ihres Lebens vergleichsweise gut erhalten blieb und kognitive Beeinträchtigungen verzögert auftraten. Das Hinzufügen von Neuronen im Hippocampus erlaubte es den alten Mäusen daher, die für junge Tiere typischen Strategien zu verwenden, d. h., diese lernten nicht nur schneller, sondern zeigten auch einen veränderten verjüngten Lernprozess. Da auch der Mensch Stammzellen im Gehirn besitzt, deren Zahl im Laufe des Lebens stark abnimmt, könnte man solche Beeinträchtigungen mithilfe des körpereigenen Potenzials der Gehirnzellen begegnen und so das Gehirn gewissermaßen verjüngen.

    Blutstammzellen erinnern sich an frühere Infektionen

    Hämatopoetischen Stammzellen (Blutstammzellen) befinden sich im Knochenmark, dem Weichgewebe, das sich im Zentrum großer Knochen wie Hüften oder Oberschenkel befindet, wobei ihre Aufgabe ist, das Repertoire der Blutzellen zu erneuern, einschließlich der Zellen des Immunsystems, die für die Bekämpfung von Infektionen und anderen Krankheiten von entscheidender Bedeutung sind. Hämatopoetische Stammzellen erhalten bekanntlich die lebenslange Produktion von Immunzellen aufrecht und können direkt auf eine Infektion reagieren, doch waren bisher die nachhaltigen Auswirkungen auf die Immunantwort unklar. De Laval et al. (2020) konnten jüngst zeigen, dass sich Blutstammzellen an einen früheren Angriff erinnern und mehr Immunzellen wie etwa Makrophagen produzieren, um eine neue Infektion zu bekämpfen. Man hat dabei festgestellt, dass Blutstammzellen eine schnellere und effizientere Immunantwort auslösen können, wenn sie zuvor einem Bakterienmolekül ausgesetzt waren, das eine Infektion nachahmt. Bei der ersten Exposition gegenüber diesem Bakterienmolekül setzen sich Markierungen auf dem DNA der Stammzellen, direkt um Gene, die für eine Immunantwort wichtig sind. Ähnlich wie bei Lesezeichen sorgen diese Markierungen auf der DNA dafür, dass diese Gene leicht gefunden, zugänglich und für eine schnelle Reaktion aktiviert werden, wenn eine zweite Infektion durch einen ähnlichen Wirkstoff eintreten sollte. Man entdeckte dabei auch, wie dabei das Gedächtnis in die DNA eingeschrieben wird. Die Fähigkeit des Immunsystems, frühere Infektionen in einer Art Gedächtnis zu behalten und beim zweiten Auftreten effizienter zu reagieren, ist auch das Grundprinzip von Impfstoffen. Durch diese Erkenntnisse sollte es daher möglich sein, Immunisierungsstrategien zu optimieren, um den Schutz auf Infektionserreger zu erweitern.

    Vielfalt und Präzision der Neuronen wird durch Isoformen erreicht

    Damit die Informationsströme im menschlichen Körper fehlerfrei fließen und alle Funktionen ausgeübt werden können, müssen die unterschiedlichen Zellen so programmiert werden, dass sie sich mit dem jeweils richtigen Interaktionspartner verbinden. Welche Funktion die Nerven dann bekommen, legen dabei die Gene fest, wobei die rund dreißigtausend verschiedenen Gene jedoch allein nicht ausreichen, um die nötige Vielfalt individueller Nervenzellen entstehen zu lassen. Wada et al. (2018) haben nun embryonale Mausstammzellen bei ihrer Reifung zu Neuronen untersucht und ein mathematisches Modell zur Entwicklung entworfen, das zeigt, wie die Vielfalt und Präzision der Neuronen durch Genvarianten (Isoformen) erreicht wird. Erst die Kombination der Isoformen macht es möglich, unterschiedliche Populationen von Neuronen aus einer recht begrenzten Anzahl an Genen zu erzeugen. Die Kombinationen entstehen bei der zufälligen Auswahl von Isoformen. Diese Zufälligkeit kann jedoch zu starken Schwankungen bei der Anzahl der exprimierten Isoformen in den einzelnen Zellen führen, wobei aber eine gleiche oder ähnliche Anzahl der exprimierten Gene in jeder Zelle jedoch wichtig ist, damit die Neuronen spezifische Interaktionen mit anderen Neuronen eingehen. Bei der Entwicklung von individuellen Nervenzellen handelt es sich demnach um eine Art Massenproduktion nach dem Zufallsprinzip, wobei wie am Fließband Millionen von Nervenzellen entstehen. Dabei schließen sich interessanterweise kombinatorische Vielfalt und Präzision nicht aus, sondern gehen Hand in Hand. Auch wenn die Anzahl der exprimierten Gene während der Differenzierung zunimmt, verschiebt sich der Ausdruck in Richtung Exklusivität, d. h., anders als bisher angenommen erhöhen sich gleichzeitig die Anzahl verschiedener Isoformen in einer Zelle und die exklusive Präzision während der Reifung, d. h., je mehr Isoform-Varianten, desto exklusiver und gleichmässiger ihre Verteilung in den einzelnen Nervenzellen. Da jedes Gen unterschiedlich abgelesen wird und nicht alle gleichermaßen Isoformen bilden, lassen sich diese Ergebnisse aber nicht auf alle Gene übertragen, sodass es weitere Strategien geben muss, die diese Individualität von Nervenzellen gewährleisten.

    Im Alter stören Immunzellen die Neurogenese

    Neuere Untersuchungen (Dulken et al., 2019) zeigen, dass Immunzellen auch unerwünschte Reaktionen wie Allergien auslösen und einige von ihnen scheinen in Stammzellnischen des alternden Gehirns vordringen zu können und stören dort möglicherweise die Neurogenese. Dies könnte erklären, warum diese für Lernen und Gedächtnis wichtige Neubildung von Gehirnzellen im Alter zunehmend gestört ist, wobei allerdings die Ursache für diese Blockadewirkung der Immunzellen allerdings noch unbekannt ist. Diese Immunzellen sollten wegen der Blut-Hirn-Schranke gar nicht so leicht in das gesunde Gehirn gelangen, doch können sie zumindest in das gesunde, alternde Gehirn vordringen und dort genau die Regionen erreichen, wo neue Neuronen entstehen. Weitere Experimente zeigten, dass die Invasion der Immunzellen in die subventrikuläre Zone mit einer verringerten Zahl proliferationsfähiger neuronaler Stammzellen einhergeht, wobei Gewebeuntersuchungen an Gehirnen menschlicher Verstorbener einen ähnlichen Zusammenhang zeigten, sodass die Vermutung naheliegt, dass die Immunzellen die Neubildung von Gehirnzellen stören.

    Bioengineered Neuronal Organoids (BENOs)

    Bioengineered Neuronal Organoids (BENOs) sind aus humanen induzierten pluripotenten Stammzellen hergestellte neuronale Netzwerke mit komplexen Funktionen des menschlichen Gehirns. Diese Bioengineered Neuronal Organoids eignen sich zur genaueren Erforschung des Verlusts von Lernfähigkeit und Gedächtnis bei neurodegenerativen Erkrankungen. Man setzt dabei gezielte pharmakologische und elektrische Stimulationen ein, um einerseits die Bildung von BENOs zu ermöglichen und andererseits Prozesse der neuronalen Plastizität als erste Hinweise auf Lernfähigkeit zu prüfen, denn diese weisen Funktionen auf, die für die Ausbildung von Lernen und Gedächtnis von zentraler Bedeutung sind.

    Obgleich man weit davon entfernt ist, das menschliche Gehirn in allen seinen Funktionen nachzubilden, sind Zafeiriou et al. (2020) von der Beobachtung zellulärer Prozesse, die für Lernen und Gedächtnisausbildung notwendig sind, fasziniert. Erste Hinweise auf komplexe, physiologische Funktionen in den gezüchteten neuronalen Netzwerken machen Hoffnung, künftig degenerative Erkrankungen des zentralen Nervensystems im Labor simulieren zu können. Aufbauend auf dem zu erwartenden Erkenntnisgewinn lassen sich künftig innovative Therapieverfahren für Erkrankungen wie Parkinson, Epilepise, Schlaganfall und Demenz entwickeln.

    Erste Anwendungen finden Bioengineered Neuronal Organoids bereits in der Simulation von Erkrankungen des zentralen Nervensystems, etwa von Epilepsie Syndromen, und in der Testung von Arzneistoffen. Von besonderer Bedeutung ist zudem, dass sich Bioengineered Neuronal Organoids durch die breite Verfügbarkeit von induzierten pluripotenten Stammzellen aus prinzipiell jedem Menschen, mit oder ohne Erkrankung, herstellen lassen. Dadurch öffnet sich nicht nur die Tür für eine Entwicklung und präklinische Testung individualisierter Verfahren direkt am menschlichen Modell, sondern auch die Züchtung von Ersatzgewebe für die Behandlung von Menschen mit neurodegenerativen Erkrankungen wird prinzipiell möglich.

    Literatur

    Berdugo-Vega, Gabriel, Arias-Gil, Gonzalo, López-Fernández, Adrian, Artegiani, Benedetta, Wasielewska, Joanna M., Lee, Chi-Chieh, Lippert, Michael T., Kempermann, Gerd, Takagaki, Kentaroh & Calegari, Federico (2020). Increasing neurogenesis refines hippocampal activity rejuvenating navigational learning strategies and contextual memory throughout life. Nature Communications, 11, doi:10.1038/s41467-019-14026-z.
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