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Reifung

    Kurzdefinition: Als Reifung werden in der Psychologie, insbesondere der Entwicklungspsychologie, solche Vorgänge klassifiziert, die aufgrund endogen vorprogrammierter und innengesteuerter Wachstumsprozesse einsetzen und auch im weiteren Verlauf größtenteils von diesen gesteuert werden. Alle Vorgänge der Reifung sind letztlich durch Vererbung determiniert, wobei exogene Faktoren wenig bis gar keinen Einfluss auf die Reifung ausüben.

    Von Entwicklung als Reifungsprozess spricht man daher, wenn spezifische organische Veränderungen im Sinne biologischer Wachstumsprozesse spezifische Fähigkeiten möglich machen, ohne dass dafür vorhergegangene Lernvorgänge notwendig waren. Reifung ist also jener Anteil, den das organische Wachstum zur Entwicklung beiträgt, und der sich als ein Teil des biologischen Erbes in mehr oder minder festgelegten und nicht umkehrbaren aufeinanderfolgenden Schritten vollzieht.

    In jedem menschlichen Lebenslauf lässt sich eine Abfolge definierter Reifungsstadien erkennen, die ihrerseits Unterschiede hinsichtlich der Geschwindigkeit der Entwicklung, der Qualität im Sinne von Differenziertheit und Ausgestaltung sowie diverser Prozesse der Integriation und Desintegration erkennen lassen. Charakteristische Beispiele für eine Entwicklung durch Reifung sind die Geschlechtsreifung in der Pubertät oder das Erlernen des Gehens. Reifung ist somit die weitgehend gengesteuerte Entfaltung biologischer Strukturen und Funktionen, im Zusammenhang mit der Entwicklungsdiagnostik bei Menschen insbesondere die Entwicklung des Zentralnervensystems. Reifung beinhaltet in der Psychologie daher die Annahme, dass Entwicklung vor allem durch endogene Faktoren wie etwa die Erbanlagen eines Individuums gesteuert wird. Heute wird bei der Entwicklung in der Regel von wechselseitigen Einflüssen von endogenen und exogenen Faktoren, also Reifung und Erfahrungsbildung, ausgegangen. Reifung ist in der Regel ein autonomer Prozess der somatischen und psychischen Entwicklung, der weitgehend unabhängig von äußeren Einflüssen abläuft.
    In der Biologie wird unter Reifung vor allem die genetisch gesteuerte Entfaltung der biologischen Strukturen und Funktionen verstanden. Die Entfaltung setzt spezifische innere und äußere Entwicklungskontexte voraus. Beim Menschen treten zur Reifung der organischen Funktionen noch die Konkretisierungen und Differenzierungen körperlicher, psychischer und geistiger Anlagen und deren Integration hinzu. Die Ausfaltung von keimhaft angelegten Verhaltens- und Erlebensweisen stellt einen Teil des menschlichen Entwicklungganges dar.

    In der Entwicklungspsychologie werden dann beobachtete Veränderungen auf Reifung zurückgeführt, wenn sie universell in einer Altersperiode und ohne Lernen in einem weiteren Sinn auftreten. Säuglinge werden bekanntlich bereits mit einem umfangreichen Verhaltensrepertoire geboren, dessen Erwerb nicht auf Lernen zurückgeführt werden kann. Alle gesunden Kinder können um den 12./13. Lebensmonat laufen, und bilden Zwei-Wort-Sätze um den 18. Lebensmonat. Wir kennen bis heute noch keinen Weg, den Erwerb dieser Kompetenz deutlich vorzulegen, und jede für die Spezies homo sapiens normale, also nicht deprivierte, Umwelt reicht für ihre Entwicklung aus.

    Reifung wurde in der Entwicklungspsychologie auch negativ definiert: nämlich als jener Prozess, der anzunehmen ist, wenn Erwerbungen nicht auf Erfahrung, Übung, Erziehung, Sozialisation oder gedankliche Erkenntnisgewinnung zurückgeführt werden können. Aus dieser negativen Definition ergeben sich Methoden des „Nachweises“ von Reifung. Wenn Erfahrungs-, Übungs- und Lernmöglichkeiten fehlen oder ausgeschaltet sind und trotzdem keine deutliche Verzögerung im Erwerb einer Funktion eintritt, greifen wir auf das Erklärungskonstrukt „Reifung“ zurück, ohne dass damit schon geklärt wäre, was diese Reifungsprozesse im Einzelnen sind, wie sie gesteuert werden, ob und welche Entwicklungsbedingungen gegeben sein müssen.

    Übrigens war man Mitte des vorigen Jahrhunderts noch der Auffassung, dass sich in der ersten Zeit des Lebens fast aussschließlich biologisch bedingte Reifungsprozesse vollziehen, die weitgehend unabhängig von äußeren Einflüssen vonstattengehen und die man dadurch am besten unterstützen kann, indem man dafür Sorge trägt, dass das Neugeborene bzw. das Kleinkind hinreichend Nahrung erhält, dass bestimmte Hygienemaßstäbe eingehalten werden, dem Kind genügend Ruhe zum Schlafen bleibt und es möglichst viel Zeit an der frischen Luft verbringt. Diese Sichtweise hat sich erst in den letzten fünfig Jahren allmählich gewandelt, wobei wichtige Impulse für diese Veränderung  zunächst die Psychoanalyse lieferte, die erstmals deutlich machte, dass frühkindliche soziale und emotionale Erfahrungen mit späteren Verhaltensauffälligkeiten in Verbindung stehen. Weitere Anregungen kamen von Jean Piagets genetischer Erkenntnistheorie, der gezeigt hatte, dass sich bereits Kinder unter einem Jahr aktiv mit ihrer Umwelt auseinandersetzen und dass diese Auseinandersetzung von großer Bedeutung für ihre Denkentwicklung ist (vgl. Pauen & Vonderlin, 2007, S. 1). Nachzuweisen sind Prozesse der Reifung besonders dann, wenn Erfahrungs-, Lern- und Übungsmöglichkeiten im Bezug auf die zu beobachtenden Veränderungen auszuschließen sind, was sich etwa mit Hilfe von Tierversuchen bewerkstelligen lässt oder aber auch in Quasi-Experimenten am Menschen wie z.B. die Beobachtung des Einflusses der Bewegungseinschränkung  von  Säuglingen  bei  den  Hopi-Indianern.

    Literatur
    Becker-Carus, C & Roth, E (1976). Dorsch Psychologisches Wörterbuch.Bern: Verlag Hans Huber.
    Ohne Autor (1995 ). Bertelsmann Lexikon der Psychologie. Güterslohn: Verlag Bertelsmann Lexikon Institut.
    Oerter & Montada (Hrsg.) (2002). Entwicklungspsychologie. Weinheim, Basel, Berlin. Beltz.
    Pauen, Sabina & Vonderlin, Eva (2007). Entwicklungsdiagnostik in den ersten drei Lebensjahren. Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung.
    Stangl, W. (1999).  Der erkenntnistheoretische Ansatz Piagets.
    WWW: https://arbeitsblaetter.stangl-taller.at/KOGNITIVEENTWICKLUNG/AkkAssModell.shtml (99-01-13)


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