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Mehrsprachigkeit

    Wie viele Sprachen du sprichst, sooft mal bist du Mensch.
    Johann Wolfgang von Goethe

    Mehrsprachigkeit bezeichnet in der Pädagogik die Fähigkeit eines Menschen, mehrere Sprachen zu sprechen und sich in diesen ausdrücken zu können. Mehrsprachigkeit bedeutet für ein Individuum vor allem, dass mehrere Sprachen in verschiedenen Lebenszusammenhängen benützt werden, wobei die Sprachen nicht alle auf gleichem Niveau in allen sprachlichen Fertigkeiten wie Hören, Sprechen, Lesen bzw. Schreiben und in allen Lebensbereichen beherrscht werden müssen. Der Grad der Beherrschung differiert in der Regel je nach Funktion der Sprache und je nach Sphäre, in der eine Sprache genutzt wird. In der Regel verändern sich Sprachkompetenzen des Weiteren nach Lebenssituation, sodass sich damit zusammenhängend auch die Sprachverwendung ändert, weshalb Mehrsprachigkeit nicht als statisches Konstrukt betrachtet werden kann. Im Begriff der Mehrsprachigkeit sind daher auch Dialekte, Soziolekte, Schriftsprache, Umgangssprache und weitere Sprachenformen inkludiert.

    Global betrachtet ist übrigens die Einsprachigkeit die Ausnahme und Mehrsprachigkeit die Regel, wobei zahlreiche Untersuchungen belegen, dass beim frühkindlichen Erwerb der Mehrsprachigkeit keinerlei spätere Defizite nachzuweisen sind. Kinder, die mehrsprachig aufwachsen, können im frühen Alter Sprachen gut voneinander trennen und Unterschiede sowie Gemeinsamkeiten der Sprachen im Vergleich zu monolingualen Kindern mühelos erkennen. Es existiert bis zu einem Alter von etwa sieben Jahren ein Zeitfenster, in dem Kinder eine Sprache auf muttersprachlichem Niveau erlernen können, sodass man mit dem Lernen einer zweiten Sprache bereits im Kindergartenalter beginnen sollte. Ist nämlich das prozedurale Wissen einer Sprache in der frühen Kindheit verankert worden, bleibt es ein Leben lang erhalten. Das Vokabular der Sprache hingegen stellt als deklaratives Wissen jedoch nur die Oberfläche der Sprachfähigkeit dar, und ist damit anfällig für die jeweiligs geltenden Lebensumstände und kann auch ganz verloren gehen, wenn es nicht immr wieder wiederholt wird. Die prozeduralen Automatismen der Grammatik können noch viele Jahre später gut reaktiviert werden, denn während der Wortschatz eines Menschen vom Input abhängig ist, sind es die grammatischen Regeln nicht. Das bedeutet aber auch, dass ohne permanentes Training eine bilinguale Erziehung wenig nützt.

    Mehrsprachigkeit beeinflusst nach neueren Erkenntnissen vor allem das Gehirn positiv, denn wenn Kinder im Alltag mit mehreren Sprachen umgehen müssen, stellt das kein Problem für das kindliche Gehirn dar. Untersuchungen haben gezeigt, dass mehrsprachige Kinder sogar Vorteile haben, die weit über das größere Sprachvermögen hinausgehen, denn sie können sich meist besser konzentrieren und Konflikte lösen, indem sie sich besser in andere hineinversetzen können. Mehrsprachige müssen, wenn sie eine Sprache sprechen, die andere unterdrücken, also kontrollieren, denn alle Sprachen, die ein Mensch lernt, werden Teil eines einzigen Sprachsystems, und wird eine Sprache gesprochen, muss das Gehirn die anderen Sprachen simultan in den Hintergrund rücken. Um die jeweils konkurrierende Sprache in Schach zu halten, entwickelt das Gehirn von Mehrsprachigen früh eine ausreichende kognitive Kontrolle, indem in bestimmten Arealen des Gehirns, die für die Steuerung der Sprache verantwortlich sind, ab dem Kleinkindalter mehr graue Substanz angelegt wird, was diese Areale des Gehirns (Nucleus caudatus, Anteriore cinguläre Cortex) leistungsfähiger macht. Doch diese beiden Bereiche sind nicht eben nur Teil des Sprachsystems, sondern auch anderer wichtiger Systeme, etwa auch für die Aufmerksamkeit oder soziale Kompetenz zuständig.

    Es war schon bisher in einigen Untersuchungen festgestellt worden, dass sich Bilingualität bei Erwachsenen positiv auf die Gehirnstruktur und die kognitiven Leistungen auswirkt. Nun zeigte sich, dass mehrsprachig aufwachsende Kinder und Jugendliche das Erwachsenenalter mit mehr grauer Substanz im Gehirn erreichen, was auf eine effizientere Kommunikation in ihrem Gehirn hinweisen kann. Das bedeutet also, dass mehrsprachige Kinder und Jugendliche während ihrer Entwicklung weniger graue Substanz im Gehirn abbauen, als dies bei einsprachigen Kindern der Fall ist. Für eine Untersuchung (Pliatsikas et al., 2020) wurden detaillierte Scans der Gehirne von Kindern und Jugendlichen ausgewertet. Bekanntlich nimmt die graue Substanz im Gehirn von klein auf ab, wobei jene Schlüsselareale des Gehirns, die mit dem Erlernen und dem Gebrauch von Sprache in Verbindung stehen, bei zweisprachigen Menschen während der Entwicklung weniger Abbau zeigen als bei einsprachigen Menschen, sodass die Auswirkungen auf das Gehirn, die bei erwachsenen zweisprachigen Menschen beobachtet worden waren, ihre Wurzeln vermutlich in der Kindheit haben dürften. Der Einfluss der Zweisprachigkeit auf die graue und weiße Substanz könnte auch eine Reihe von Vorteilen im Zusammenhang mit Sprache und kognitive Funktionen mit sich bringen, wie etwa die Leistung bei Aufgaben im Zusammenhang mit Aufmerksamkeit und exekutiver Kontrolle, die bei älteren zweisprachigen Personen ebenfalls besser ist. Insgesamt deuten die Ergebnisse darauf hin, dass die Förderung der Zweisprachigkeit in der Kindheit erhebliche Vorteile im späteren Leben haben kann.

    Nach Ansicht von manchen Experten ist die Vorstellung eines perfekt ausbalancierten Bilingualismus eine Illusion, denn perfekt beherrscht ein Mensch immer nur eine Sprache, während die anderen in verschiedenen Abstufungen schwächer sind. Das liegt laut Studien etwa an unterschiedlichen Lernbedingungen und dem meist ungleich starken Trainingseffekt im Alltag. Bilingual aufwachsende Kinder besitzen in den einzelnen Sprachen in der Regel einen kleineren Wortschatz als monolinguale, denn die tägliche Aufnahmekapazität im Gehirn ist mit Blick auf das Vokabular einfach begrenzt. Allerdings hat Heiner Böttger (Katholische Universität Eichstätt) in einer Studie an über 900 Grundschülern nachgewiesen, dass nicht nur der sprachliche Vorteil im Englischen von zweisprachig aufwachsenden Kindern logischerweise sehr deutlich ist, sondern er konnte auch zeigen, dass die Kinder in Mathematik bessere Leistungen liefern. Vermutlich hängt das mit kognitiven Exekutivfunktionen zusammen, denn wenn nur eine Sprache prozessiert wird, dann ist dort nicht im präfrontalen Cortex – also Muttersprache, eine Sprache, monolingual – nicht so viel zu tun wie bei einer Verarbeitung von zwei Sprachen. Man kann mittels MRT sehen, dass diese Zentren einfach aktiver sind, und das führt quasi zu einer Art Trainingseffekt und dann zu einer deutlichen Verbesserung dieser Exekutivfunktionen. Und diese zeigen sich dann auch im problemlösenden Denken etwa bei Mathematik-Operationen.

    Sprachwechsel in natürlichen Situationen weniger aufwändig als bisher angenommen

    Blanco-Elorrieta & Pylkkänen (2017) haben  experimentell festgestellt, dass ein Sprachwechsel beim Gespräch mit einer anderen zweisprachigen Person, nicht mehr exekutive Kontrolle erfordert, als wenn man weiterhin die gleiche Sprache spricht. Für einen zweisprachigen Menschen erfordert jede Äußerung eine Wahl der zu verwendenden Sprache, wobei die Umstände die Gehirnaktivität zweisprachiger Sprecher beeinflussen, wenn sie Sprachwechsel vornehmen. Die Ergebnisse machen deutlich, dass, obwohl wir zwischen Sprachen wechseln können, in denen wir fließend sind, unser Gehirn unterschiedlich reagiert, je nachdem, was solche Veränderungen fördert. Ausgangspunkt war die Beobachtung, dass die Sprachauswahl in der alltäglichen Interaktion auf der Grundlage sozialer Hinweise oder des einfachen Zugangs zu bestimmten Vokabeln in einer Sprache im Vergleich zu einer anderen bestimmt wird. Diese Unterscheidung ermöglicht es, dass das Gehirn beim Sprachenwechsel in einer natürlicheren Umgebung nicht so hart arbeiten muss. Darüber hinaus erforderten Sprachwechsel in einer künstlichen Umgebung im Hörmodus eine hohe Aktivität der exekutiven Kontrollbereiche des Gehirns, beim Hören eines natürlichen Gesprächs erfolgte jedoch ein Sprachwechsel, der nur die auditorischen Cortices betraf. Der neuronale Aufwand für den Sprachwechsel waren während eines Gesprächs viel geringer, wenn die Sprecher sich für eine Sprache entschieden haben, als bei einer klassischen experimentellen Aufgabe, bei der die Sprachwahl durch künstliche Hinweise bestimmt wird. Diese Studie zeigt also, dass die Rolle der Exekutivkontrolle bei der Sprachumschaltung viel kleiner sein dürfte als bisher angenommen. Dies ist wichtig für Theorien über den „zweisprachigen Vorteil“, die davon ausgehen, dass zweisprachige Menschen eine bessere Führungskontrolle haben, weil sie häufig die Sprache wechseln. Die Ergebnisse von Blanco-Elorrieta & Pylkkänen (2017) deuten aber darauf hin, dass dieser Vorteil nur für jene Zweisprachige entsteht, die sie ihre Sprachen nach externen Vorgaben kontrollieren müssen (z.B. auf Grund der Person, mit der sie sprechen) und nicht aufgrund der Lebenserfahrungen in einer zweisprachigen Gemeinschaft, in der der Wechsel völlig freigestellt ist.

    Flexiblere Kommunikation bei Zweisprachigkeit

    Wermelinger, Gampe & Daum (2017) haben gezeigt, dass zweisprachig aufwachsende Kinder eher in der Lage sind, sprachliche Missverständnisse richtig zu stellen als einsprachig aufwachsende Kinder. Sie profitieren dabei von ihren Erfahrungen mit schwierigen Kommunikationssituationen. Kinder, die zweisprachig aufwachsen, sind hinsichtlich ihrer kommunikativen Fähigkeiten gegenüber einsprachigen Kindern im Vorteil, da zweisprachige Kinder im Alltag häufiger mit kommunikativen Missverständnissen konfrontiert sind, die einsprachige Kinder in dieser Form nicht erfahren. Dadurch können sie ihre kommunikativen Fähigkeiten vermutlich stärker üben. Da zweisprachig aufwachsende Kinder pro Sprache über weniger Vokabeln verfügen, benutzen sie häufiger unpassende Wörter, verwenden falsche Satzkonstruktionen oder wechseln während der Konversation in eine andere Sprache, sodass durch diese alltäglichen Erfahrungen zweisprachige Kinder geübter darin sind, sprachliche Missverständnisse zu entdecken und dann auch zu korrigieren.

    Gampe, Wermelinger & Daum (2019) haben in einer Untersuchung gezeigt, dass sich zweisprachige Kinder den Bedürfnissen ihrer Gesprächspartner besser anpassen als einsprachige, wobei man vermutet, dass bilingual aufwachsende Kinder häufiger anspruchsvolle Kommunikationssituationen bewältigen müssen und mit unterschiedlichen Gesprächsstilen ihrer Elternteile konfrontiert sind. In einem Kooperatiosnspiel zeigte sich, dass einsprachig und zweisprachig aufwachsenden Kinder gleichermassen hilfsbereit waren, allerdings unterschieden sie sich in der Art und Weise, wie sie mit ihren Interaktionspartnern kommunizierten. Zweisprachige Kinder halfen dabei oft auf non-verbaler Ebene, während einsprachige Kinder explizit verbale Hinweise lieferten. Die zweisprachigen Kinder passten sich ihrem Gegenüber also an, was den einsprachig aufwachsenden Kindern nicht gelang. Zweisprachige Kinder reagieren in ihrem Kommunikationsverhalten sensibler auf ihre Gesprächspartner und zeigen eine grössere Flexibilität bei der Wahl ihrer Kommunikationsmittel. Zweisprachige Kinder müssen häufiger anspruchsvolle Kommunikationssituationen bewältigen und sind mit verschiedenen, auch indirekten Kommunikationsstilen konfrontiert sind. Das führt vermutlich dazu, dass zweisprachige Kinder die kommunikativen Signale anderer besser verstehen und ihre eigenen Anliegen flexibler und teilweise auch non-verbal vermitteln.

    Wermelinger et al. (2020) haben auch bei ein- und zweisprachigen Kindern im Kindergartenalter untersucht, wie sie ikonische Gesten verstehen und selbst bei der Kommunikation einsetzen. Der Fokus lag dabei auf ikonischen Gesten, also Hand- und Armbewegungen, die die Form oder die Geschwindigkeit eines Objekts nachstellen, beispielsweise mit den Fingern die Schneidebewegung einer Schere nachzuahmen oder mit einer schnellen Bewegung der Hand eine hohe Geschwindigkeit anzudeuten.Bei der Aufgabe sollten Kinder einer gehörlosen Handpuppe, die ein Experimentator führte, erklären, welches Spielobjekt sie gerne von ihr hätten, wobei die zweisprachigen Kinder dabei mehr mit den Händen als einsprachige erklärten, d. h., sie verpackten mehr Information über Form und Bewegung des gewünschten Objekts in ihre Gesten und gestikulierten verständlicher, was sie erfolgreicher bei der Kommunikation machte. Zweisprachige Kinder erzeugten verständlichere Gesten als ihre einsprachigen Altersgenossen, was darauf zurückzuführen ist, dass die Eltern zweisprachiger Kinder mehr Gesten beim Sprechen als die Eltern monolingualer Kinder machen. Daraus entsteht vermutlich eine erhöhte Sensibilität der zweisprachigen Kinder gegenüber ihrem Interaktionspartner bzw. ihre Fähigkeit, verständliche Gesten zu produzieren.


    Siehe dazu im Detail
    Mehrsprachigkeit zwischen Bildungschance und Bildungsrisiko (16-05-21)
    Mehrsprachigkeit: Chance oder Hürde beim Schriftspracherwerb? (16-05-21)
    Mehrsprachigkeit verändert das Gehirn (16-05-21)
    Leseverständnis, Familiensprache und Freizeitsprache (16-05-21)
    Mehrsprachigkeit – Chance oder Risiko? (16-05-21)
    Die Vorteile von Mehrsprachigkeit (21-06-01)

    Literatur

    Blanco-Elorrieta, E. & Pylkkänen, L. (2017). Bilingual language switching in the lab vs. in the wild: The spatio-temporal dynamics of adaptive language control. The Journal of Neuroscience, doi:10.1523/JNEUROSCI.0553-17.2017.
    Pliatsikas, C., Meteyard, L., Veríssimo, J., DeLuca, V. , Shattuck, K. & Ullman, M. T. (2020). The effect of bilingualism on brain development from early childhood to young adulthood. Brain Structure and Function, doi:10.1007/s00429-020-02115-5.
    Wermelinger, S., Gampe, A., & Daum, M. M. (2017). Bilingual toddlers have advanced abilities to repair communication failure. Journal of Experimental Child Psychology, 155, 84-94.
    Gampe, A., Wermelinger, S., & Daum, M. M. (2019). Bilingual children adapt to the Needs of their communication partners, monolinguals do not. Child Development, doi:10.1111/cdev.13190.
    Wermelinger, Stephanie, Gampe, Anja, Helbling, Natascha & Daum, Moritz M. (2020). Do you understand what I want to tell you? Early sensitivity in bilinguals‘ iconic gesture perception and production. Developmental Science, doi:10.1111/desc.12943.
    https://www.pharmazeutische-zeitung.de/index.php?id=74438 (18-02-20)


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    Ein Gedanke zu „Mehrsprachigkeit“

    1. Mehrsprachler

      Sprache ist eine kognitive Höchstleistung des menschlichen Gehirns und macht Menschen im Gegensatz zu anderen Lebewesen einzigartig. Mithilfe dieser Fähigkeit, Sätze logisch zusammenzusetzen und Grammatik zu nutzen, können sie komplexe Ideen und Informationen untereinander austauschen. Der Gebrauch von Sprache erweitert den Horizont und lässt Menschen weltweit mit Menschen in Verbindung treten. Die Sprachentwicklung ist genetisch veranlagt, denn bereits im Mutterleib entsteht im Gehirn die nötige Infrastruktur, um Sprache zu lernen. Bei der Geburt verfügt das Gehirn bereits mit Milliarden Neuronen über ein Netzwerk, das sich in den ersten Jahren verfestigt und wächst. Diese neuronalen Netze bilden eine hervorragende Basis für das Erlernen von Sprachen und werden durch neue Sprachen selbst gestärkt. Kinder erlernen mehrere Sprachen gerade in den ersten Jahren am leichtesten und unkompliziertesten, genauso wie sie gleichzeitig Laufen und ihre Hände zu nutzen lernen. Die neuronalen Netzwerke von Kindern sind nicht nur fähig, mehrere Sprachen aufzufassen und zu unterscheiden, sondern sie profitieren sogar langfristig davon.

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