Früher hat man noch wenig Augenmerk auf die pränatale Phase gelegt, doch zahlreiche Untersuchungen haben inzwischen gezeigt, dass diese Phase das spätere Leben des Menschen maßgeblich beeinflussen kann, wobei sich sogar die Neuronen und Synapsen so entwickeln, wie die vorgeburtlichen Bedingungen für das Ungeborene waren. Die Erfahrungen im Mutterleib und beim Geburtsverlauf haben einen merkbaren Einfluss auf die psychische Entwicklung und die Lebensbedingungen, denn so weiß man etwa heute, dass sogar die Einstellung der Mutter zur Schwangerschaft und zum ungeborenen Kind die Einstellung des Kindes zu seinem eigenen Leben prägen kann, d. h., ob es sich später geliebt, angenommen oder aber unsicher, instabil und unerwünscht fühlt.
Allerdings ist es bei allen Untersuchungen schwierig, einen direkten kausalen Zusammenhang zwischen Geburtserlebnissen und späteren Merkmalen des Kindes nachzuweisen. Allerdings ist vielfach empirisch bestätigt, dass die Mütter, die im Laufe ihrer Schwangerschaft zufrieden und ruhig waren, meist auch eher in sich ruhende und stille Kinder haben. Heute schätzt man die Bedeutung der Mutter bei der Schwangerschaft und der Geburt als die einer Interagierende, denn so ist heute unbestritten, dass mütterliche Gefühls- und Stressreaktionen unmittelbar auf das ungeborene Kind übergehen.
Allerdings spielen nicht nur die Mütter in dieser Zeit eine Rolle, sondern auch der Partner, die Familie, die soziale Herkunft und das kulturelle Umfeld.
Exemplarische pränatale Entwicklung mit Hervorhebung von psychologisch relevanten Entwicklungsschritten:
1. Woche: Die einzellige befruchtete Eizelle teilt sich und bildet eine Blastozyste.
2. Woche: Die Blastozyste gräbt sich in die Gebärmutterwand ein. Strukturen entstehen, die den sich entwickelnden Organismus ernähren und schützen – Embryonalhülle, Zottenhaut, Dottersack, Mutterkuchen und Nabelschnur.
3. bis 4. Woche: Ein primitives Gehirn und Rückenmark erscheinen. Herz, Muskeln, Rippen, Wirbelsäule und Verdauungstrakt beginnen, sich zu entwickeln.
5. bis 8. Woche: Viele äußere Körperstrukturen bilden sich (Gesicht, Arme, Beine, Zehen, Finger) und innere Organe entstehen. Der Berührungssinn beginnt sich zu entwickeln und der Embryo kann sich bewegen.
9. bis 12. Woche: Eine rapide Zunahme der Größe setzt ein. Nervensystem, Organe und Muskeln werden organisiert und verbunden, und neue Verhaltensfähigkeiten (Treten, Saugen, Öffnen des Mundes und Versuche zu atmen) erscheinen. Äußere Genitalien sind im Ansatz sichtbar und das Geschlecht des Fötus steht fest.
13. bis 24. Woche: Der Fötus wächst weiterhin sehr schnell. In der Mitte dieses Stadiums können Bewegungen des Fötus von der Mutter gespürt werden. Käse-/Fruchtschmiere und Flaumhaar bewahren die Haut des Fötus davor, in der Flüssigkeit der inneren Eihaut rissig zu werden. Die meisten Nerven des Gehirns sind um die 24. Woche vorhanden. Die Augen sind lichtempfindlich und der Fötus reagiert auf Laute.
25. bis 38. Woche: Der Fötus hat Überlebenschancen, wenn er zu diesem Zeitpunkt geboren wird. Die Größe nimmt zu. Die Lunge reift. Die schnelle Entwicklung des Gehirns führt zur Zunahme von sensorischen und Verhaltensfertigkeiten. In der Mitte dieser Periode wird unter der Haut eine neue Fettschicht gebildet. Von der Mutter werden Antikörper auf den Fötus übertragen, um ihn vor Krankheit zu schützen. Die meisten Föten drehen sich in eine aufrechte Position zur Vorbereitung der Geburt.
Es gilt als nachgewiesen, dass Belastungen, insbesondere in sensiblen Entwicklungsphasen wie der Kindheit, sowohl verhaltensbezogene als auch neurobiologische Konsequenzen haben, etwa in Form von einer Erhöhung des Risikos für psychiatrische Erkrankungen. Hendrix et al. (2021) haben nachgewiesen, dass die Exposition einer Frau mit emotionaler Vernachlässigung während ihrer Kindheit mit einer starken funktionellen Konnektivität zwischen der Amygdala und den medialen präfrontalen Regionen bei ihren Neugeborenen bereits einen Monat nach der Geburt nachweisbar ist. Diese Hirnregionen spielen eine wichtige Rolle bei der Regulierung von Gefühlen, unter anderem von Angst. Dieser Effekt war spezifisch für frühe Erfahrungen emotionaler Vernachlässigung und konnte nicht durch mütterliche Belastungen durch andere Formen von Misshandlung in der Kindheit oder durch mütterlichen Stress während der Schwangerschaft erklärt werden. Diese Ergebnisse liefern neue Belege dafür, dass das Fehlen von emotionaler Unterstützung in den frühen Lebensjahren der Mutter, also viele Jahre vor der Empfängnis, mit neuronalen Veränderungen bei ihren Nachkommen kurz nach der Geburt verbunden ist.
Literatur
Berk, L. E. (2004). Entwicklungspsychologie. Pearson Studium.
Hendrix, Cassandra L., Dilks, Daniel D., McKenna, Brooke G., Dunlop, Anne L., Corwin, Elizabeth J. & Brennan, Patricia A. (2021). Maternal Childhood Adversity Associates With Frontoamygdala Connectivity in Neonates. Biological Psychiatry: Cognitive Neuroscience and Neuroimaging, 6, 470-478.
Moore, K. L. & T. V. N. Persaud (1998). The Developing Human: Clinically Oriented Embryology. Philadelphia: Saunders.
Stangl, W. (2017). Entwicklungspsychologie. [werner stangl]s arbeitsblätter.
WWW: https://arbeitsblaetter.stangl-taller.at/PSYCHOLOGIEENTWICKLUNG/Entwicklung.shtml (11-09-20)
Stangl, W. (2022, 23. September). Auch Foeten reagieren schon auf die Nahrungsaufnahme ihrer Mutter. Psychologie-News.
Auch Föten reagieren schon auf die Nahrungsaufnahme ihrer Mutter
Ustun, Beyza, Reissland, Nadja, Covey, Judith, Schaal, Benoist & Blissett, Jacqueline (2022). Flavor Sensing in Utero and Emerging Discriminative Behaviors in the Human Fetus. Psychological Science, doi:10.1177/09567976221105460.