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Anthropomorphismus

    Anthropomorphismus bezeichnet allgemein das Zusprechen (Attribution) menschlicher Eigenschaften auf Tiere, Götter, Naturgewalten und Ähnliches, d. h., es handelt sich um eine Form der Vermenschlichung. Diese menschlichen Eigenschaften können sich bei den beschriebenen Objekten dabei sowohl in der Gestalt als auch im Verhalten zeigen. Der Anthropomorphismus ist charakteristisch für das vorwiegend naiv-anschauliche Erleben und das geringe Abstraktionsvermögen von Kindern und Menschen, aber oft auch aus religiöser Perspektive bei Naturvölkern. Anthropomorphismus ist somit typisch für das hauptsächlich durch Anschauungen geprägte Erleben und das geringe Abstraktionsvermögen von Kindern. Aktuelle Gründe für die verstärkte Verwendung von Anthropomorphismen bei der Darstellung naturwissenschaftlicher Inhalte ist auch die fortschreitende Anhebung der Abstraktionsniveaus in den einzelnen Naturwissenschaften und das gleichzeitige Verlangen der Öffentlichkeit, deren Methoden und Ergebnisse zu verstehen, sowie Kommunikationsbrücken zwischen den Natur- und Geisteswissenschaften zu schaffen. Das findet sich aktuell etwa im Zusammenhang mit neurowissenschaftlichen Forschungsergebnissen, die dann in der Folge auch bei Wissenschaftsjournalisten zu einer Trivialisierung und letztlich Verfälschung von Ergebnissen führt. Auch im Zusammenhang mit der Robotik können solche Phänomene beobachtet werden.

    In der Literatur wird Anthropomorphismus oft bewusst verwendet, Anthropomorphismen in der Sprache finden sich im unzulässigen Tier-Mensch-Vergleichen wie z. B. in „listiger“ Fuchs, „diebische“ Elster, „fleißige“ Biene. Übrigens: Bernhard Grzimek sagt über die Menschenkenntnis: „Menschenkenntnis dämpft die Menschenliebe, Tierkenntnis erhöht die Tierliebe.

    In der Psychologie wird in vielen Diskussionen über einen wissenschaftlichen oder alltäglichen Zugang zur Welt häufig pejorativ der Vorwurf des Anthropomorphismus erhoben. Allerdings haben Menschen bei ihrer Beschreibung und Erklärung der belebten und unbelebten Welt aber unter einer grundsätzlichen Perspektive keine Wahl, als solche Begriffe zu verwenden, die menschlich imprägniert sind. Nach dem Radikalen Konstruktivismus hat der Mensch letztlich keine Chance, etwas anderes zu tun, als zu anthropomorphisieren, denn wenn er nur in der Lage ist, sich selber zu beschreiben bzw. alles nur in Bezug auf sich selber zu erkennen, dann ist der Mensch, wenn er Mensch ist, eben Mensch und sonst nichts.

    Fritz Heider und Marianne Simmel führten 1944 Experimente zum Anthropomorphismus durch, indem sie  einen tonlosen Zeichentrickfilm präsentierten, in dem sich drei geometrische Figuren bewegten: Ein kleines und ein größeres Dreieck sowie ein Kreis. Danach sollten die Probanden beschreiben, was sie gesehen hatten, und es zeigte sich, dass selbst einfachste bewegte Objekte  als soziale Akteure wahrgenommen werden: Eine Liebesgeschichte zwischen dem kleinen Dreieck und dem Kreis, die das böse große Dreieck zu torpedieren versucht. Replikationen zeigten, dass die berichteten Geschichten meist im Kontext persönlicher Interessen der Probanden oder im Zusammenhang zum Untersuchungssetting stehen.


    [Quelle: https://www.youtube.com/watch?v=VTNmLt7QX8E]

    In einer Untersuchung befragte man die Probanden mit einer Einsamkeitsskala, etwa ob sie unglücklich darüber sind, gewisse Dinge alleine zu tun oder ob sie manchmal das Gefühl haben, dass sie sich an niemanden wenden können. Danach sollten die Teilnehmer Gegenstände beschreiben, wobei die bei der Beschreibung verwendeten Begriffe darauf hin überprüft wurden, ob diese üblicher Weise nur im Zusammenhang mit Menschen verwendet werden. Einsame Menschen schrieben dabei Gegenständen mehr menschliche Eigenschaften zu, dass etwa Wecker über einen freien Willen verfügen, indem diese beim Klingeln wegrollen oder sich verstecken.  Das Vermenschlichen von Geräten wie Staubsauger- oder Rasenrobotern ist allerdings nicht selten, denn nicht nur von Kindern werden solchen Apparaten Bewusstsein, Persönlichkeit oder sogar Schmerzempfinden zugeschrieben, obwohl man nach Ende der kindlichen Animismus-Phase in der Regel genau weiß, dass die Maschine nicht Rasen mäht oder Staub saugt, weil sie den Menschen eine Freude machen will, sondern dass sie auf Basis vordefinierter Parameter handelt. Gerade, wenn wie beim Staubsauger- oder Rasenroboter jedoch scheinbar autonome Bewegung im Spiel ist, kann man oft gar nicht anders, als darin Lebendigkeit und Intention zu sehen.

    Forschungsergebnisse legen übrigens auch nahe, dass Menschen ihre eigenen Emotionen besser kontrollieren können, wenn sie sich etwa ihre traurigen Gefühle oder ihre Wut als eine konkrete Person vorstellen, wenn sie diese Emotionen also anthropomorphisieren. Das ist ähnlich wie das Führen von Selbstgespräche mit sich selber, bei denen Emotionen durch einen Dialog mit sich selbst in der dritten Person gut reguliert werden können. Beim Reden mit sich über sich selbst kommt es zu einer gewissen Distanzierung, da Menschen Probleme anderer in der Regk besser verstehen als sich selber, da sich diese ja mitten in einer Situation befinden.

    Ein Element der AI-Forschung ist die Anthropomorphisierung von Maschinen, die sowohl Ängste als Erwartungen weckt, wobei manche Maschinen oder Roboter als eine Art Übermenschen betrachten. Von diesen erwartet man dann, dass sie perfekt rational, neutral, objektiv und fehlerfrei sind. Dabei wird vergessen, dass viele der menschlichen Entscheidungen stets eine Mischung aus Wissen, Intuition, Erfahrung und auch Glauben darstellen, wobei dabei in der Regel auch eine Abschätzung der Folgen des Handelns erfolgt. Da Maschinen nur Erfahrungen aus der Vergangenheit kennen, diese bei ihren Aktionen nur eine Anwendung einmal gelernter Muster aus der Vergangenheit auf neue Situationen repräsentieren, fehlt diesen die Möglichkeit zur Rationalisierung, Neubewertung und Vorschau. Man sollte dabei auch niemals vergessen, dass Maschinen ihre Aufgaben grundsätzlich anders bewältigen als Menschen, wobei diese dann aber auch andere Fehler machen und andere Leistungen hervorbringen. Der Mensch neigt aber dazu, technischen Gegenständen oder damit verbundenen Algorithmen mehr Kapazitäten und sogar menschliche Fähigkeiten wie Intelligenz zuzuschreiben, doch hinter Computern oder Big Data steht keine Intelligenz, das alles sind nur Statistiken, die auch ein Mensch mit extrem viel Zeit errechnen könnte, da Computer eben sehr gut darin sind, große Datenmengen zu verarbeiten. Doch diese Fähigkeiten kann ein Computer nur in gut ausdefinierten oder simulierten Umfeldern einsetzen, hinter denen natürlich immer ein menschliches Gehirn steht, sodass letztlich ein Computer völlig anders funktioniert als ein menschliches Gehirn. Das liegt vor allem daran, dass das menschliche Gehirn sowohl analog als auch digital ist, denn der Mensch lernt bekanntlich dadurch, dass neue Verbindungen zwischen Nervenzellen entstehen, und das unterscheidet das Gehirn jedoch fundamental von allen derzeit gängigen AI-Netzwerken, in denen Informationen mehr oder minder nur weitergereicht werden. Das menschliche Denkorgan ist darüber hinaus auch multipolar, d. h., dass jede Nervenzelle jede andere beeinflussen kann. Für AI-Netzwerke wäre z. B. komplexes Weltwissen notwendig, um dann überhaupt Entscheidungen treffen zu können, doch das ist extrem schwer zu automatisieren, sodass Kreativität und Problemlösung noch immer jene menschliche Stärke sind, die ein Computer wohl nie erreichen wird.

    Literatur

    Heider, F. & Simmel, M. (1944). An experimental study of apparent behavior. American Journal of Psychology, 57, 243–259.
    Mara, M. (2016). Der Anthropomorphismus des Rasenmähers. OÖN vom 12. Juli 2016.
    http://www.spektrum.de/lexikon/biologie/anthropomorphismus/3979 (15-11-21)


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