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Kindchenschema

    Das Kindchenschema umfasst eine Reihe kindlicher Körpermerkmale, etwa einen großen Kopf mit hoher Stirn, runde Wangen und große Augen. Verhaltensstudien bestätigen die Wirkung des Kindchenschemas auf Erwachsene. Das Kindchenschema ist als ein angeborener Auslösemechanismus eine vereinfachte Bezeichnung für Schlüsselreize, die besonders Kleinkinder und junge Tiere aussenden, wobei die Signale vor allem den Kopf betreffen, der durch seine relative Größe im Verhältnis zum übrigen Körper auffällt. Eine vorgewölbte Stirn, Pausbacken und große Augen lassen beim Betrachter Zuneigung entstehen. Die Gestalt wirkt gedrungen und durch die kurzen Extremitäten tollpatschig. Diese charakteristischen Merkmale lösen Betreuungs- und Brutpflegereaktionen aus. Diese speziellen Gesichtsproportionen aktivieren unter anderem das Belohnungszentrum im Gehirn Erwachsener und sorgen so dafür, dass man diese Wesen schützen und umsorgen will, und zwar umso mehr, je stärker die Züge dem perfekten Kindchenschema entsprechen. Vor allem Kleinkinder wirken herzig, d. h., man lässt sich auch von Kindern mehr gefallen als von einem Erwachsenen, ohne aggressiv zu werden, etwa geschlagen oder gebissen zu werden.

    Zu den Merkmalen des Kindchenschemas gehören vor allem die typischen Proportionen junger Menschen oder Tiere, also im Vergleich zum Rumpf ein deutlich größerer Kopf, eine hohe Stirn im Vergleich zum übrigen Gesichtsbereich, ein fast kreisförmiges Gesicht und  im Vergleich zum übrigen Gesicht überdimensionale Augen. Darstellungen, in denen diese Proportionen stark übertrieben werden (z.B. Kopfgröße gleich Rumpfgröße bei Comicfiguren) wirken keineswegs schockierend oder abschreckend, sondern noch süßer und niedlicher, obwohl ein Lebewesen mit solchen Deformationen in der Realität kaum lebensfähig wäre, da es seinen Kopf gar nicht tragen könnte.

    Bekanntlich wirkt das Kindchenschema nicht allein beim Nachwuchs der menschlichen Spezies, sondern auch bei jungen Tieren, insbesondere bei Hundewelpen. Chersini et al. (2018) zeigten Probanden Fotos von Hunden (Jack Russell Terrier, White Shepherd, Cane Corso) in verschiedenen Lebensaltern, von den allerersten Wochen bis zum frühen Erwachsenenalter. Diese reihten die Probanden nach ihrer Attraktivität, wobei sich bei allen drei Rassen zeigte, dass kurz nach der Geburt die Welpen am unattraktivsten eingestuft wurden, doch im Zeitraum von 6,3 bis 8,3 Wochen waren die Attraktivität höchsten, um danach wieder abzunehmen. Dieser Zeitraum fällt mit der Zeit zusammen, in der die Welpen entwöhnt werden und viel stärker als in ihren ersten Wochen auf sich selbst gestellt sind. Offenbar übernimmt man von der Mutter die Beschützerrolle, was vermutlich eine wichtige Überlebensstrategie darstellt. Frauen scheinen generell auf Stupsnäschen, Kulleraugen und rundliche Wangen im Durchschnitt sensibler zu reagieren als Männer, wobei Frauen, die ihre letzte Menstruation schon hinter sich haben, weniger stark angezogen werden, sodass es also auch eine Frage der Hormone sein könnte, wie sehr das Kindchenschema wirkt. Dafür spricht übrigens auch, dass junge Frauen während des Eisprungs stärker auf niedliche Gesichter reagieren als zu anderen Zeitpunkten des Zyklus.

    Die Merkmale des Kindchenschemas spielen offenbar eine bedeutsame biologische Rolle bei der Aufzucht von Nachwuchs, denn sie aktivieren bei Elterntieren den Pflege- und Beschützerinstinkt, das Brutpflegeverhalten und hemmen bei anderen erwachsenen Tieren Aggressionen gegenüber dem Nachwuchs. Menschen finden bekanntlich nicht nur menschliche Babys niedlich und süß, sondern auch Tierbabys wie Kätzchen, Hundewelpen, Robbenbabys oder Eisbärbabys – man erinnere sich nur an Knut. Ähnliches gilt für Tiere, die gar keine Jungtiere mehr sind, sondern erwachsen, jedoch aufgrund ihrer arttypischen Eigenschaften dennoch auch als erwachsene Tiere Kindchenschema-Merkmale aufweisen wie Pandabären, Koalas, Kaninchen oder Hamster. Auch bei Cartoons wirken ebenfalls diese Mechanismen, denn der Erfolg der Figuren von Walt Disney sind zu einem Großteil darauf zurückzuführen, dass es die Zeichner verstanden, vielen Trickfiguren Merkmale des Kindchenschemas meist in überzeichnender und karikierender Form mitzugeben, sodass sie auf den erwachsenen und auch kindlichen Betrachter anziehend und sympathisch wirken.

    Theodore Roosevelt Bär TeddybärDas Kindchenschema zeigen übrigens auch Puppen und Plüschtiere, wodurch diese als Spielsachen attraktiv werden. Manche derartigen Merkmale werden dabei auch übertrieben. Nicht zuletzt verdankt der Teddybär – soferne die Geschichte mit Theodore „Teddy“ Roosevelt nicht nur eine Legende ist – offenbar auch dem Kindchenschema seinen Namen, denn angeblich verzichtete der amerikanische Präsident beim Anblick des jungen Bären auf  den Abschuss.

    Das Kindchenschema ist universell, d.h., es tritt unabhängig von der kulturellen Zugehörigkeit, unabhängig von Alter oder Geschlecht eines Individuums auf, wobei seine adaptive Funktion im Schutz der eigenen bzw. genetisch verwandter Nachkommen besteht. Das Kindchenschema ist somit ein genetisch bedingtes, angeborenes Wahrnehmungsschema, das dafür sorgt, dass junge Lebewesen automatisch erkannt werden, meist ohne dass man sich der auslösenden Merkmale bewusst wird. Das Kindchenschema bereitet auf ganz bestimmte Verhaltensweisen vor, d. h., bei der Wahrnehmung von Kleinkindattributen stellt sich eine emotional getönte Zuwendungsreaktion ein und bringt erwachsene Individuen aber auch Kinder in eine emotionale Grundstimmung, von der aus eine erhöhte Bereitschaft zu Schutz und Pflege entsteht. Die Aggressionshemmung durch das Kindchenschema wurde von Konrad Lorenz entdeckt und beschrieben. Ihm war aufgefallen, dass viele Jungtiere charakteristische Eigenschaften aufweisen: eine kleine Stupsnase, ein rundliches Gesicht, große Augen, unbeholfene Bewegungen. Lorenz vermutete, dass sie bei erwachsenen Tieren instinktiv fürsorgliches Verhalten auslösen, denn Babys von Tieren, insbesondere auch die von Menschen, könnten ohne Unterstützung nicht überleben, d. h., es ist ein Mechanismus, der Erwachsene zur Fürsorge motiviert, die Kleinkinder zum Überleben hilft. Das Kindchenschema tritt daher vor allem bei Tierarten auf, deren Nachwuchs auf Brutpflege angewiesen ist. Das australische Buschhuhn legt seine Eier in einem Erdhügel ab und überlässt sie dort ihrem Schicksal, und ähnlich verhält es sich mit der südlichen Alligatorschleiche, die ihr Gelege zwar aggressiv verteidigt, es aber verlässt, sobald die Jungen geschlüpft sind. In einem Experiment wurden von Menschen Jungtiere, die nach dem Schlüpfen auf sich gestellt sind,  in der Regel als weniger süß bewertet, d. h., bei Nestflüchtern, die direkt nach der Geburt selbstständig werden, finden sich diese Merkmale des Kindchenschmas eher nicht.

    Die neurobiologischen Grundlagen dieses sozialen Instinkts sind eine ansteigende Aktivität im Nucleus accumbens, einer Hirnregion, die als Belohnungszentrum bekannt ist, und weitere Areale, die bei Gesichterverarbeitung und Aufmerksamkeit eine Rolle spielen. Offensichtlich gibt es eine neurophysiologische Basis für den Impuls, sich um alles zu kümmern, was einem Baby ähnlich sieht. Allerdings wird dadurch das Verhalten der Mutter nicht determiniert, dass sie quasi nur auf dargebotene Auslöser wie z.B. das „Kindchenschema“ bloß reagiert. Die Empirie zeigt , dass viele Mütter überhaupt nicht wissen, wie sie mit ihrem Kind umgehen sollen, sondern nur das jeweilige soziale Umfeld gibt ihnen die Regeln vor, wie sie ihr Kind behandeln sollen. Die soziale Determination bestimmt also das menschliche Miteinander und nicht ein genetisch determinierter Instinkt.

    In Untersuchungen (Wang et al., 2016) hat man übrigens gezeigt, dass Opiate und Opioide offenbar die Reaktion auf das Kindchenschema verändern, und damit möglicherweise auch die Motivation, aus der heraus man für andere sorgt. Generell bestätigen die Ergebnisse, dass das Gehirn Opiatabhängiger grundsätzlich gegenüber natürlichen Belohnungsreizen abzustumpfen scheint.


    In der Attraktivitätsforschung gibt es die Neotenie-Hypothese (babyfaceness theory), die besagt, dass Frauen dann besonders attraktiv sind, wenn ihr Gesicht kindchenhafte Merkmale aufweist, d. h. Merkmale, die eigentlich für kleine Kinder typisch sind. Bei Säugetieren spricht man von Neotenie, wenn diese im Zusammenhang mit der Domestizierung kindliche Merkmale, wie etwa eine verkürzte Schnauze, eine spezielle Fellzeichnung oder Schlappohren beibehalten. Durch diese neotenischen Merkmale und das dadurch verkörperte Kindchenschema wird beim Menschen ein Fürsorgeverhalten aktiviert, das zu einem Selektionsvorteil für das entsprechende Tier führen kann. Insbesondere Haustiere zeigen daher oft solche Merkmale. Allerdings stellt Neotenie nicht ein generelles Phänomen der Domestikation dar, vielmehr kann angenommen werden, dass es sich um die intentionale Herauszüchtung solcher Merkmale handelt, die in manchen Fällen eione frühe Degeneration der betroffenen Tiere herbeiführen.

    Einige gehen übrigens davon aus, dass der Mensch grundsätzlich neoten ist und im Erwachsenenstadium einem geschlechtsreifen Affenfötus gleicht, denn auch der erwachsene Mensch weist mehr Ähnlichkeit mit jungen Menschenaffen als mit erwachsenen auf, etwa in Bezug auf die Kopf- und Gesichtsform, das Verhältnis von Hirnschädel zu Gesichtsschädel, die spärliche Behaarung und die Form der Hände. Dabei handelt es sich um eine neotene Entwicklungsverzögerung bei einzelnen Merkmalen. Diese Hypothese befasst sich dabei grundsätzlich mit dem Zustandekommen der Merkmale auf ontogenetischer Ebene, um auch eine die schnelle Ausprägung einiger typisch menschlicher Merkmale zu erklären. Eine Neotenie bedarf nur geringer Änderungen im Hormonhaushalt, die durch wenige Mutationen ausgelöst werden kann, sodass etwa eine schnelle Anpassung an veränderte Lebensbedingungen möglich ist.


    Kurioses: Niedlichkeit kann auch Macht verleihen, denn Kinder lernen schnell, wenn sie die Augen groß machen und ganz süß »bitte« sagen, geben Erwachsene oft nach. Doch auch Erwachsene nutzen diesen Effekt, wobei in Südkorea dieses Phänomen sogar einen eigenen Namen besitzt: Aegyo: Junge Frauen stampfen gespielt trotzig mit den Füßen auf, wenn ihnen ein Wunsch verwehrt wird; sie sprechen kindlich, ziehen eine Schnute oder verbergen ihr Gesicht hinter den Händen, wenn ihnen etwas peinlich ist. Dieses Verhalten beschränkt sich nicht nur auf die Beziehung zu Freunden oder Partnern, sondern wird in abgemildeter Form auch am Arbeitsplatz praktiziert: Sich süß, unschuldig und hilfsbedürftig zu geben, ist eine Möglichkeit, sich in einer männerdominierten Gesellschaft durchzusetzen. In einer Feldstudie der Wissenschaftlerin Yewon Hong gaben 40 Prozent der Befragten an, Frauen, die sich auf diese Weise verhielten, hätten sowohl im Privatleben als auch im Beruf Vorteile.

    Literatur

    Chersini, N., Hall, N. J. & Wynne, C. D. L. (2018). Dog Pups’ Attractiveness to Humans Peaks at Weaning Age. Anthrozoös, 31, 309-318.
    A. L. Wang, S. B. Lowen, I. Elman, Z. Shi, A. Bouril, R. Gur & D. D. Langleben (2016).  Sustained opioid antagonism increases striatal sensitivity to baby schema in opioid dependent women. Paper presented at the 29th ECNP Congress – Vienna 2016.
    https://arbeitsblaetter.stangl-taller.at/MORALISCHEENTWICKLUNG/NatuerlicheMoral.shtml (09-02-02)
    http://www.beautycheck.de/cmsms/index.php/kindchenschema (12-11-21)
    http://www.bionity.com/de/lexikon/Hominisation.html (17-10-10)
    https://www.spektrum.de/news/der-knuddelfaktor-was-wir-niedlich-finden-und-warum/2009104 (22-04-19)


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