Zum Inhalt springen

Schwarze Pädagogik

    Der Begriff „Schwarze Pädagogik“ bezieht sich auf pädagogische Ansätze und Methoden, die als autoritär, disziplinierend und schädlich für Kinder angesehen werden, wobei diese Form der Erziehung strenge Regeln, Strafen und Kontrolle über Kinder, oft auf eine Weise betont, die als emotional oder physisch schädlich angesehen wird. Katharina Rutschky prägte 1977 diesen Ausdruck in ihrer Anthologie mit dem Titel „Schwarze Pädagogik: Quellen zur Naturgeschichte der bürgerlichen Erziehung„. Darin kritisierte sie die Pädagogik der Aufklärung, die auf der Vorstellung beruhte, Kinder seien in Wildheit geboren und müssten durch Erziehung zur Vernunft gebracht werden. Für das Buch hatte Rutschky pädagogische Schriften aus dem 18. und 19. Jahrhundert zusammengetragen, die die damals als normal geltenden strengen Erziehungsmethoden dokumentierten. Alice Miller griff den Ausdruck ab Ende der 70er Jahre auf.

    Schwarze Pädagogik ist dabei ein eher populärwissenschaftlicher, negativ wertender Sammelbegriff für Erziehungsmethoden, die mit Gewalt und Einschüchterung arbeiten. Der Ausgangspunkt war die Kritik jener repressiven Pädagogik, die seit dem Ende des 19. Jahrhunderts artikuliert wurde. Dabei geht es um eine Erziehung, die darauf ausgerichtet ist, den Willen eines Kindes zu brechen und es mit Hilfe offener oder verborgener Machtausübung, Manipulation und Erpressung zum gehorsamen Menschen zu machen. Dazu gehören alle intentionalen Handlungen, mit denen ein Kind unter Einsatz körperlicher oder seelischer Mittel zu bestimmten Handlungen bzw. zu einem bestimmten Verhalten gebracht werden soll, wie das Stellen von Fallen, Lügen, Verschleierung, Manipulation, Ängstigung, Liebesentzug, Isolierung, Misstrauen, Demütigung, Verachtung, Spott, Beschämung, Gewaltanwendung bis hin zur Folter. Ein prominentes Beispiel für Schwarze Pädagogik ist etwa die Idee, Kinder durch körperliche Bestrafung zu erziehen, wie zum Beispiel durch Schläge mit dem Rohrstock, wobei diese Methode in einigen Schulen und Familien praktiziert wurde, um Disziplin und Gehorsam zu erzwingen. Andere Merkmale der Schwarzen Pädagogik sind die Unterdrückung von Individualität, das Fehlen von emotionaler Unterstützung und die Forderung nach bedingungslosem Gehorsam sein. Hinzuzuzählen sind auch Methoden, wenn ein Lehrer  ein Kind vor der Klasse demütigt oder ein religiöser Erzieher einem Kind mit der Hölle droht, wenn es sich nicht an die Regeln hält.

    Psychoanalytisch betrachtet, zielt die schwarze Pädagogik darauf ab, ein starkes Über-Ich in der kindlichen Seele zu etablieren und zu festigen, wobei diese Form des Gewissens dafür sorgen soll, die Wertvorstellungen und Normen bzw. die moralischen Prinzipien, die von einem Menschen beginnend mit seiner frühkindlichen Entwicklung beigebracht und erworben werden, zu internalisieren, meist unter Zurückdrängung der Triebansprüche des Es. Schwarze Pädagogik rationalisiert übrigens nicht selten sadistische Neigungen des Erziehers und fungiert in dieser Weise als sekundärer Abwehrmechanismus des Erziehers. Im Übrigen setzt man bei dieser Form der Erziehung vor allem auf die ödipale Verdrängung: „Es ist ganz natürlich, dass die Seele ihren Willen haben will, und wenn man nicht in den ersten zwei Jahren die Sache richtig gemacht hat, so kommt man hernach schwerlich zum Ziel. Diese ersten Jahre haben unter anderem auch den Vorteil, dass man da Gewalt und Zwang brauchen kann. Die Kinder vergessen mit den Jahren alles, was ihnen in der ersten Kindheit begegnet ist. Kann man da den Kindern den Willen benehmen, so erinnern sie sich hernach niemals mehr, dass sie einen Willen gehabt haben und die Schärfe, die man wird brauchen müssen, hat auch eben deswegen keine schlimmen Folgen.“

    Folgerichtig ist die Schwarze Pädagogik nach Alice Miller daher dadurch gekennzeichnet,

    • dass die Erwachsenen Herrscher über das abhängige Kind sind,
    • dass die Erwachsenen über Recht und Unrecht bestimmen können wie Götter,
    • dass der Zorn der Erwachsenen aus ihren eigenen Konflikten stammt,
    • dass sie das Kind für ihre eigenen Probleme und Konflikte verantwortlich machen,
    • dass die Erwachsenen die Meinung vertreten, die Eltern sind immer zu schützen,
    • dass die Erwachsenen die Meinung vertreten, lebendige Gefühle des Kindes bedeuten für ihre Herrschaft über das Kind eine Gefahr,
    • dass man dem Kind so früh wie möglich seinen „Willen nehmen“ muss,
    • dass in der Erziehung alles sehr früh geschehen soll, damit das Kind davon noch möglichst wenig mitbekommt und den Erwachsenen nicht verraten kann.

    Nach Sabine Seichter, die sich mit der Geschichte und Theorie von Erziehung und Bildung auseinandersetzt, ist das Kind ist im Laufe der Geschichte der Kindheit zur Ware geworden. Sie schreibt provokativ:

    „Zum Produkt von Ökonomie, Wirtschaft, Medizin und – nicht zuletzt – von Erziehung. Durch wirtschaftliche, technologische und pädagogische Fabrikation ist das Kind in den letzten Jahrhunderten, Jahrzehnten und fortschreitend bis auf den heutigen Tag erfolgreich zur standardisierten Marke »Kind« gestanzt worden. Indem das Kind in diesem Herstellungsprozess zunehmend den Charakter einer Ware angenommen hat, liegt es uns heute, zumindest tendenziell, als ein von außen produziertes Etwas vor. Dieses Etwas wurde durch den langen Prozess der modernen und postmodernen Zivilisation und durch das Geschäft einer zunehmend professionalisierten Erziehung für fremde, in Sonderheit gesellschaftliche Zwecke brauchbar gemacht und immer mehr instrumentalisiert. So fortschrittlich dieser warenförmige Herstellungsprozess auch erscheinen mag, wurden dem Kind dadurch immer mehr Möglichkeiten selbstständigen und kreativen Handelns versperrt. Zugespitzt ließe sich sagen: Um eines sozial und wirtschaftlich erwünschten Ertrages willen wurde das Kind in den Zustand gelähmter Passivität versetzt, um von seinen Machern von außen geformt und am Ende gleichsam neu »erschaffen« zu werden. Die amerikanische Philosophin Martha Nussbaum würde hier treffend von einer »Verdinglichung« des Humanen sprechen. Für den gewünschten Output wurde die herzustellende Ware im Fortgang des biologischen Wachstums vermessen, gesellschaftlich kontrolliert und, wenn nötig, aussortiert und im schlimmsten Falle zur Mangel- oder Fehlerware abgestempelt, aus dem Handel genommen und »verramscht«. Sein gesellschaftlicher Marktwert taxiert sich nach bestandener Qualitätsprüfung. Diese erfolgt, den Gesetzen des neoliberalen Marktes folgend, in standardisierter und objektivierter Form. Ziel der Herstellung ist das »normale« Kind. Im internationalen Vergleich und auf einem globalisierten Markt kann nur eine perfekte, fehlerfreie Ware bestehen; anders wird sie ausgelesen und ausgetauscht. Für die Verfertigung seines Warencharakters musste das Kind vor allem in speziellen Räumen eingefasst und diszipliniert werden. Dabei wurde nicht selten seine Individualität geringgeschätzt oder gar missachtet. Die Ware Kind wurde zusehends zu einem funktionalisierten und mechanisierten Teil eines funktionalisierten mechanischen (Erziehungs-)Systems. Dieses System ist dafür verantwortlich, dass die produzierte Ware schön, robust, langlebig, wertbeständig, resilient und funktional ist. Damit sich dieser Erfolg einstellt, wurden die Maschinen aufwendig und technisch versiert programmiert und gesteuert, immer mit dem Ziel, Störungen zu verhindern und Drop-outs zu vermeiden. Die Perfektionierung der Ware, was ihre äußere Form und die innere Funktion betreffen, ist Maßstab aller Herstellung. Postmodernen transhumanistischen Perspektiven geschuldet ist dabei die Vision, dass der erziehungstechnische Fortschritt am Ende zu einer »Selbstmaschinisierung« des Kindes führe, sich die Grenzen zwischen Maschine und Mensch aufhöben und Erziehung sich schließlich selbst abschaffe. Das »normale« Kind braucht nicht mehr erzogen zu werden, wenn es bereits als »normales« Kind erzeugt, hergestellt und geboren wird.“

    Literatur

    Miller, Alice (1983). Am Anfang war Erziehung. Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag.
    Rutschky, Katharina (Hrsg.) (1977). Schwarze Pädagogik. Quellen zur Naturgeschichte der bürgerlichen Erziehung. Berlin: Ullstein.

     

     


    Impressum ::: Datenschutzerklärung ::: Nachricht ::: © Werner Stangl :::

    Schreibe einen Kommentar

    Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert