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Dunbar-Zahl

    Die Dunbar-Zahl bezeichnet eine hypothetische, kognitive Grenze der Anzahl an Menschen, mit denen ein Individuum soziale Beziehungen unterhalten kann. Die Bezeichnung leitet sich von Robin Dunbar her, der gemeinsam mit anderen den Zusammenhang zwischen dem Gehirnaufbau von Säugetieren und der Gruppengröße, in denen diese Säuger jeweils leben, untersuchte. Man betrachtet dabei diese Anzahl als Eigenschaft bzw. Funktion des Neocortex, wobei etwa beim Neandertaler das Gehirne anders organisiert war als beim Homo sapiens, denn der Neandertaler benötigte größere Hirnareale, um seinen massigeren Körper zu kontrollieren, sodass weniger Gehirnkapazitäten für komplexere Aufgaben wie etwa Sozialverhalten übrig waren. Im Allgemeinen beträgt die Dunbar-Zahl um die 150 mit einer Schwankungsbreite zwischen 100 und 250.

    In einer Studie wurde übrigens der Nachrichtenfluss auf Twitter untersucht, wobei sich zeigte, dass der Sättigungpunkt an aktiven Kontakten zwischen 100 und 200 lag, also die Dunbar-Zahl auch in virtuellen Gruppen gelten dürfte. Die Freundeszahlen bei Facebook scheinen ebenfalls manchmal der Dunbar-Zahl zu widersprechen – bei Facebook gibt es Menschen, die mit tausenden Freunden angeben -, doch wie Fuchs et al. (2014) anhand der Daten eines Online-Rollenspiels zeigten, scheint die Dunbar-Zahl auch in diesem speziellen virtuellen Raum zu gelten, wobei diese Beziehungsnetzwerke fraktal organisiert sind, also in Gruppen, deren Größen je etwa um das Vierfache steigen, während die Beziehungen stufenweise oberflächlicher und die Kontakte seltener werden. Man hatte dazu die Beziehungen der „Händler, Piraten, Schmuggler und anderen Piloten“ des Online-Spiels „Pardus“ untersucht, in dem über vierhunderttausend Spieler seit zehn Jahren um Wohlstand und Ehre im Weltall ringen. Die Spieler organisierten demnach ihre sozialen Online-Beziehungen, genau so wie dies auch in der realen Welt geschieht, wobei die größte Freundschaftsallianz in 136 Spieler umfasst, was etwa dem psychologischen Limit von 150 Freunden in der realen Welt nahe kommt.

    Nach Robin Dunbar erfüllen Klatsch und Tratsch in Gemeinschaften wichtige soziale Funktionen, denn sie bilden eine Art von sozialem Kitt, indem Beziehungen geformt werden, Vertrauen aufgebaut, Netzwerke gebildet und Gemeinschaften zusammengehalten werden, und ohne diese Form der Kommunikation wäre sogar die Evolution unmöglich gewesen. Robbins & Karan (2019) haben untersucht, welche Funktion Klatsch und Tratsch in alltäglichen Kontexten haben. Sie nutzten Daten aus fünf Beobachtungsstudien (N = 467), wobei alle Teilnehmer den Electronically Activated Recorder trugen, der 5-12% über 2-5 Tage akustisch abtastet. Darüber hinaus wurden Demographie- und Persönlichkeitsdaten erhoben. Die Tondaten wurden für Klatsch und Tratsch, Wertigkeit (positiv, negativ und neutral), Objekt der Gespräche (Bekannter und Prominenz) und Thema (soziale Informationen, körperliche Erscheinung, Leistung) kodiert. Es zeigte sich, dass die Inhalte solcher Gespräche meist harmlos und sogar wohlwollend waren bzw. dass eher selten böse über andere gesprüchen wird. Etwa 14 Prozent der Gesprächszeit wird über nicht anwesende Menschen gesprochen, wobei junge Erwachsene eher mehr und böser über Dritte als ältere Probanden sprachen, Frauen ein wenig mehr als Männer. Der Inhalt der Gespräche unter Frauen war in der Regel neutral und selten wertend, was bisherige Befunde bestätigt, dass Frauen häufiger miteinander über soziale Themenbereiche sprechen als Männer. Bei dieser Untersuchung muss allerdings berücksichtigt werden, dass die Probanden und Probandinnen wussten, dass ihre Gespräche aufgezeichnet wurden, was zumindest teilweise nahelegt, dass die Daten nicht ganz den üblichen Inhalten entsprechen.

    Klatsch ist auch eine Art Klebstoff in vielen sozialen Gruppen, denn er schafft ein Gefühl der Verbindung, auch wenn die meisten Menschen gleichzeitig das Lästern über andere Menschen verurteilen. In seinem Buch „Grooming, Gossip, and the Evolution of Language“ macht Robin Dunbar deutlich, wie wichtig das Tratschen für soziale Gruppen ist, denn es sorgt für ein starkes Gefühl der Bindung und hat vermutlich schon den Vorfahren beim Überleben geholfen, denn sie konnten darüber nützliche Informationen zu anderen Gruppen und ihr Umfeld bekommen – vergleichbar etwa dem heute propagierten Networking. Nach Dunbar hat das Tratschen vermutlich auch die Sprachentwicklung vorangetrieben, möglicherweise liegt darin sogar den Ursprung der Sprache. Frühzeitlichen Menschen könnten damit nämlich die Fellpflege ersetzt haben, die für ihre Primatenvorfahren das wichtigste Werkzeug zur sozialen Bindung und Beziehungspflege war. Weil das Grooming für die ersten Menschen und ihren nomadischen Lebensstil in großen Gruppen keine Option mehr war, haben sie stattdessen mit dem Sprechen und auch mit Klatschen übereinander begonnen, um das Gefühl der Zusammengehörigkeit zu stärken.

    Lindenfors et al. (2021) haben jüngst gezeigt, dass diese scheinbare Grenze der Dunbar-Zahl wissenschaftlich nicht haltbar ist, denn die theoretische Grundlage der Dunbar-Zahl ist unsicher. Die Autoren haben daher noch einmal geprüft, ob es statistische Belege für diese Zahl gibt, und haben Dunbars Berechnungen anhand neuer Daten zur Hirn- und Gruppengröße verschiedener Primatenarten zu replizieren versucht. Je nachdem, welche statistischen Methoden sie anwendeten, fand man dabei ganz unterschiedliche Ergebnisse, teils mit deutlich niedrigeren, teil mit deutlich höheren Zahlen. Eine Rechenmethode ergab, dass man zwischen vier und fünfhundert Kontakten pflegen kann, doch in allen Fällen waren die 95-Prozent-Konfidenzintervalle, die den Rahmen der statistischen Unsicherheit angeben, so groß, dass sich keine zuverlässige Grenze bestimmen ließ. Diese enormen Konfidenzintervalle bedeuten nämlich, dass die Angabe einer einzelnen Zahl nicht haltbar ist, sodass sich eine kognitive Grenze für die menschliche Gruppengröße auf diese Weise nicht ableiten lässt. Zwar passt die Dunbar-Zahl tatsächlich zur ungefähren Gruppengröße mancher indigener Gemeinschaften, aber empirische Beobachtungen haben seither eine weitere Spannweite von Gruppengrößen ergeben. Auch ging Dunbars Theorie davon aus, dass man die menschlichen kognitiven Sozialfähigkeiten aus dem Volumen einer Hirnregion ableiten und durch den Vergleich mit Primaten abschätzen könnte. Doch die Gehirne verschiedener Primaten verarbeiten Informationen nicht genauso wie menschliche Gehirne, wobei auch etwa die Bedeutung der menschlichen Kultur unberücksichtigt bleib. Auch bei Primaten wird die Sozialität nicht in erste Linie durch das Gehirn oder die Gehirngröße erklärt, sondern eher durch Faktoren wie Nahrungsangebot und Bedrohung durch Raubtiere. Lindenfors et al. vermuten daher, dass Dunbars Zahl nur deshalb so weit verbreitet ist, weil sie so plakativ und einfach zu verstehen ist. Die ökologische Forschung zur Sozialität von Primaten, die Einzigartigkeit des menschlichen Denkens und empirische Beobachtungen deuten aber alle darauf hin, dass es keine tatsächliche kognitive Grenze für die menschliche Sozialität gibt.

    *** Hier KLICKEN: Das BUCH dazu! *** In einem Interview mit dem Standard im Juni 2021 sagt Lutz Jäncke, Professor für Neuropsychologie an der Universität Zürich, dass die digitale Welt des Gehirn des Menschen überfordert, vor allem durch die enormen Informationsmengen. Der Mensch ist evolutionsbiologisch angepasst an soziales Leben in relativ kleinen Gruppen, also von etwa vierzig Personen, wobei Menschen wie andere Primaten zu den Sozialpartnern Vertrauen und intensive Bindungen aufbauen. Da der Mensch aber auch ein egoistisches Wesen ist, läuft vieles über gegenseitiges Gefallen, nach dem Prinzip „tit for tat“, „wie du mir, so ich dir“. Dieser Vertrauensaufbau ist fragil, denn wenn er einmal gestört wird, dauert es lange, bis man dieses Vertrauen wieder reanimieren kann. In sozialen Netzwerken gehen Menschen vermeintliche Beziehungen ein, die unüberschaubar sind, denn bei tausenden Kontakten, die digital um den Einzelnen herumschwirren, hat man keine Zeit für eine intensive Kontaktpflege, es sind einfach zu viele für des Gehirn. In den Mechanismus, der Vertrauen und Bindung aufbauen lässt, steckt das Gehirn unfassbar viele Ressourcen, etwa die verschiedenen Kommunikationskanäle. Wenn diese Kanäle nicht mehr adäquat gefüttert werden, weil man andere Menschen nicht mehr physisch vor sich hat und sie nicht einmal persönlich kennt, fällt es vielen leicht, andere einmal eben zu beleidigen oder gar anzugreifen. Da es für den Menschen überlebenswichtig ist, gefährliche Situationen oder Menschen um sich herum zu erkennen, fällt es ihnen aber auch schwer, die positiven Rückmeldungen zu genießen, selbst wenn sie diese bekommen.

    Nicht zuletzt ist Tratschen für ältere Menschen auch ein probates Mittel gegen Einsamkeit, vor allem unter den alleinlebenden Senioren, denn diese bleiben lieber in privaten nachbarschaftlichen Gruppen anstatt sich Organisationen anzuschließen. Das Klatschen hilft ihnen so, mit anderen Menschen in Kontakt zu treten und Verbindungen aufzubauen, wobei vor allem Lästern über andere manchmal häufig einfach der Versuch ist, mit einem anderen Menschen ins Gespräch zu kommen und Nähe aufzubauen.

    Literatur

    Dunbar, R. I. M. (1993). Coevolution of neocortical size, group size and language in humans. Behavioral and Brain Sciences, 16, 681-735.
    Fuchs, B., Sornette, D. & Thurner, S. (2018). Fractal multi-level organisation of human groups in a virtual world. Scientific Reports, 4, doi:10.1038/srep06526.
    Goncalves, B., Perra, N. & Vespignani, A. (2011). Modeling Users Activity on Twitter Networks: Validation of Dunbars Number. PLoS One 6, e22656.
    Lindenfors, P., Wartel, A. & Lind, J. ( 2021). ‘Dunbar’s number’ deconstructed. Royal Society Biology Letters, 17, doi: 10.1098/rsbl.2021.0158.
    Pearce, Eiluned, Stringer, Chris & Dunbar, R. I. M. (2013). New insights into differences in brain organization between Neanderthals and anatomically modern humans. Proceedings B of the Royal Society, doi: 10.1098/rspb.2013.0168.
    Robbins, M. L., & Karan, A. (2019). Who Gossips and How in Everyday Life? Social Psychological and Personality Science, doi:10.1177/1948550619837000.
    https://www.gala.de/lifestyle/liebe/psychologie–warum-wir-tratschen-und-welche-soziale-funktion-es-erfuellt-22840726.html (22-04-27)


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