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Anorexia athletica – Sportsucht

    Im Zusammenhang mit sportbedingter Gewichtsreduktion und restriktiver Ernährung stellte sich die Frage der Existenz einer eigenständigen Essstörung bei AthletInnen. Diese Störung trägt den Namen Anorexia Athletica (Sport Anorexie). Sie wurde erstmals 1983 von Purgliese, später dann von Sundgot-Borgen (1993) anhand von zehn Merkmalen definiert. In der Fachwelt herrscht noch Uneinigkeit darüber ob es sich hierbei um eine Störung von Krankheitswert handelt oder nicht. Untersuchungen zum Verlauf dieser speziellen Anorexie fehlen. So ist beispielsweise noch unklar ob diese Form der sportbezogenen Essstörung auch nach Austreten der AthletInnen aus dem Leistungssport weiterhin besteht.

    Immer mehr junge Männer hungern bis zum Umfallen, trainieren bis zum Zusammenbruch, denn für manche junge Männer bedeutet das Schlank- und Durchtrainiertsein auch Erfolgreichsein, wobei das Wohlfühlen nach außen verlegt wird. Allgemein haben viele Menschen, die exzessiv in Fitness-Studios trainieren, eine latente Essstörung. Die Erkrankten versuchen durch übermäßigen Sport und den damit verbundenen Kalorienverbrauch, an Gewicht zu verlieren. In Fitnessstudio sind Männer mit 80 Prozent aller Angemeldeten deutlich in der Überzahl, 90 Prozent aller Marathonläufer sind ebenfalls männlich. Der Grat zwischen einem gesunden Maß an Sport und der Sucht nach Muskeln ist sehr schmal, denn wenn Bewegung und Sport das Leben beherrschen, der Wunsch nach einem anderen Körper der dominierende Gesprächsstoff ist, dann sollten sich die Betroffenen helfen lassen, wobei die Einsicht, dass es sich um eine Sucht handelt, der wohl wichtigste Schritt ist. Einen Sportsüchtigen erkennt man daran, dass Sport nicht nur Teil seines Lebens ist, sondern es bestimmt, d. h., er ist wie besessen davon und trainiert nicht, weil er Lust darauf hat, sondern einen unkontrollierbaren Drang dazu verspürt. Wie bei anderen Süchten wird die Dosis kontinuierlich erhöht, denn der Körper verlangt in immer größerer Menge nach dem rauschhaften Wohlgefühl, in den die Betroffenen die ausgeschütteten Botenstoffe wie Dopamin versetzen. Ein erzwungener Verzicht kann Entzugssymptome wie Kopf- und Magenschmerzen, Nervosität oder Depressionen auslösen, wobei die negativen Trainingseffekte zunehmend die positiven Effekt verdrängen. Auf Dauer kann ein exzessives Trainingsverhalten dazu führen, dass sich der Körper nicht mehr regenerieren kann und es zu einem Übertrainingseffekt kommt, der mit Symptomen wie Schlaflosigkeit, Kopfschmerz oder Muskelbeschwerden einhergeht. Außerdem schwächt die hohe körperliche Belastung langfristig das Immunsystem oder ziehen Herzkreislaufprobleme und einen vorzeitigen Verschleiß von Gelenken, Knochen und Sehnen nach sich. Häufig trainieren Sportsüchtige oft auch dann weiter, wenn sie verletzt oder krank sind. Konsequenzen auf der psychosozialer Ebene ergeben sich daraus, dass die Betroffenen  ständig unter Druck stehen und  sich von ihrem Sportdranso getrieben fühlen, dass sie gar nicht mehr zur Ruhe kommen, denn manche stehen sogar in der Nacht auf, um zu trainieren.

    Sportsucht gehört zu den Verhaltenssüchten, wobei dieses Phänomen bisher kaum erforscht wurde, obwohl die Krankheitshäufigkeit unter den intensiv Sporttreibenden bei ein bis drei Prozent liegt. Im Rahmen einer Erlanger Studie wurden 1089 Frauen und Männer, die einen Ausdauersport wie Laufen oder Radfahren betreiben, zu ihren Trainingsgewohnheiten befragt. Etwa jeder Zwanzigste zeigte Anzeichen einer Sportsucht oder Sportsuchtgefährdung, wobei Ausdauersportler das höchste Erkrankungsrisiko zu haben scheinen. Weitere Risikogruppen sind Kraftsportler, von denen einige muskelsüchtig werden, und Extremsportler, die von einem Adrenalinkick zum nächsten jagen.

    Sportsucht ist letztlich ein gesellschaftliches Phänomen, denn Leistung ist ein wichtiger Wert und man kann sich mit Sport von der Masse abheben und sich selbst beweisen. Sportliche Höchstleistungen bringen Lob und Anerkennung innerhalb einer Trainingsgruppe aber auch im Freundeskreis, seit Neuestem auch virtuell etwa durch Online-Fitness-Tracker.

    Problematisierungsweisen von menschlichem Verhalten sind nach Foucault (2012) zentrale Prozesse der Subjektivierung, wobei ein Subjekt zu einem Begriff von sich selbst weniger über die Sprache davon kommt, was normal ist, als davon was nicht normal ist. Problematisierungen sind demnach als Teil der Maschinerie zur Hervorbringung von Selbsttechnologien und Subjektivierungsweisen zu verstehen. Da die Problematisierung als Wirkungsweise von Macht gerade auf die Selbststeuerung der Individuen zielt, sind die Orte der Machtausübung paradoxerweise häufig jene, an denen es keine Pflicht und kein Verbot gibt. Das trifft auch auf den Bereich der Ernährung zu, wie auch auf viele weitere Formen von Eigenkörperregierungen, was auch die Fülle an öffentlichen Problematisierungsmechanismen in diesem Bereich erklärt. So gibt es eine große Anzahl an moralisch konnotierten Vorstellungen über den richtigen Umgang mit Essen und Trinken, was nicht zuletzt zu einer Etablierung und Popularität von Fitnessstudios führte und diese somit als Zeugnis der wachsenden Bedeutung eines idealisierten Normalkörpers und einer diesen kultivierenden Lebensweise gesehen werden können. Somit sind auch die Imperative zur körperformenden Sportausübung, wie sie in Magazinen und in der Werbung für Fitnessstudios angepriesen werden, ein Teil der Ernährungsethik, die den menschlichen Körper als Zeichen für den Erfolg einer Selbstregierung symbolisiert.

    Vor allem bei manchen Jugendlichen dominiert der Sport das Leben so sehr, dass sie Erschöpfungssignale ausblenden, bis zum Umfallen trainieren und gereizt reagieren, wenn sie keinen Sport betreiben können, wobei sich vor allem männliche Jugendliche von Fitnessstudios angezogen fühlen, nicht zuletzt deshalb, dass viele Betreiber sich in ihrer Werbung auch ganz gezielt an Jugendliche wenden. Da Jugendliche, die sich gerade in der Pubertät befänden und eher unsicher sind, so das Gefühl bekommen, auf diese Weise endlich Macht und Kontrolle über den eigenen Körper zu erlangen, und dadurch selbstbewusster zu werden. Die Pubertät ist eine Lebensphase, in der häufig der Einstieg in die Sportsucht stattfindet, denn in einer zunehmend ambivalenten Welt fällt es vor allem männlichen Jugendliche immer schwererer, eine männliche Identität zu entwickeln. Je unsicherer die Identitätsbildung aber ist, desto mehr greifen sie auf eindeutige Identitätsangebote zurück, und Männlichkeit wird nun oft vereinfachend über Körperbau und Muskeln definiert. Besonders problematisch ist es, wenn die betroffenen Jugendlichen auch noch zusätzlich auf ihre Ernährung fixiert sind und gezielt immer weiter abnehmen. Grundsätzlich sollte man Fitnessstudios und regelmäßiges Training generell nicht verteufeln, denn an sich ist Sport etwas Positives, nicht zuletzt auf Grund der sozialen Situation, in der Fitnesstraining bei Jugendlichen oft stattfindet.

    Neben Ausdauersportarten sind es vor allem High-Intensity-Sportarten, bei denen Menschen nach dem Kick suchen, vergleichbar mit Extremsportarten, denn beim Basejumping oder Big-Wave-Surfen geht es vorwiegend um das ultimative Kribbeln, um sich und seinen Körper in einer Extremsituation zu erleben. Bei über 50-Jährigen führen oft biografische Krisen in den exzessiven Sport, wie etwa eine schwere Krankheit, eine Trennung, der Jobverlust oder die Unzufriedenheit mit dem eignen Körper.

    Therapie: Jede Sportsucht muss individuell behandelt werden, denn leidet ein Sportler bereits unter schweren körperlichen Problemen, wird ein Aufenthalt in einer psychosomatischen Klinik notwendig sein, in manchen Fällen hilft neben einer Psychotherapie auch eine achtsamkeitsbasierte Therapie.


    Übermäßiges, exzessives und zwanghaftes Sporttreiben ist auch schädlich für Menschen, die unter Essstörungen leiden. Reichert et al. (2019) haben anhand elektronischer Tagebücher psychologische Alltagsmechanismen aufgedeckt, die einem solchen pathologischen Sportbetreiben zugrunde liegen. Zwar ist unbestritten, dass Sport die Gesundheit fördert, doch wird Sport exzessiv und zwanghaft betrieben und im Extremfall zur Sportsucht, kann dies krank machen. Dieses ungesunde Sporttreiben ist nachweislich besonders ausgeprägt bei Menschen, die unter Essstörungen leiden. Mit der Methode des Ambulanten Assessment auf Smartphones wurde das menschliche Erleben und Verhalten im Alltag erfasst. Dieser Ansatz geht davon aus, dass man Menschen in ihrem natürlichen Lebensumfeld untersuchen muss, um deren Verhalten verstehen zu können. Dank der Technologie war es möglich, subjektive Selbstberichte bei auffälligen Bewegungsepisoden gezielt anzufordern und so eine hohe statistische Varianz der Daten zu generieren. Dabei wurde die körperliche Aktivität von Patientinnen mit Essstörungen und gesunden KontrollProbanden und Probandinnen per Accelerometer (Bewegungssensor) objektiv und kontinuierlich in deren Alltag über sieben Tage hinweg aufgezeichnet. Der Accelerometer war via Bluetooth mit einem Smartphone verbunden, eine installierte App löste beim Über- und Unterschreiten bestimmter Aktivitätsschwellen Tagebuchabfragen aus und die Testpersonen wurden zusätzlich aufgefordert, sowohl vor als auch nach dem Sporttreiben über ihre Befindlichkeit zu berichten.

    Meist ging bei den Patientinnen mit Essstörungen dem Sport ein Stimmungsabfall voraus, was bei den gesunden KontrollProbanden und Probandinnen nicht der Fall war, vielmehr fühlten diese sich vor dem Sport besonders energiegeladen. Nach dem Sporttreiben waren die Patientinnen mit Essstörungen im Vergleich zu den gesunden KontrollProbanden und Probandinnen und relativ zu ihrer durchschnittlichen Stimmung besser gelaunt, fühlten sich entspannter, verspürten weniger Druck, schlank sein zu müssen, und waren mit ihrem Körper zufriedener. Dieser Effekt hielt aber nur für eine begrenzte Zeit an, je nach Probandin von circa einer Stunde bis zu drei Stunden. Diese Ergebnisse lassen den Schluss zu, dass Menschen mit Essstörungen den Sport dazu benutzen, um bedrückende Stimmungslagen und negative essstörungsbezogene Gedanken zu regulieren, vermutlich auch mangels fehlender alternativer Strategien in solchen Momenten. Die positiven Effekte des Sporttreibens können dabei das ungesunde Sportbetreiben verstärken, den sich nach dem Sport befreit zu fühlen, führt zu erneutem Sport, was in einem Teufelskreis münden kann, in dem immer mehr Sport getrieben werden muss, um sich gut zu fühlen. Diese Erkenntnisse sollten in der Therapie von Essstörungen gezielt und dosiert eingesetzt werden, um die Stimmung und das Körpererleben essgestörter Menschen positiv zu beeinflussen. Von zentraler Bedeutung ist es jedoch, den Betroffenen alternative Handlungsstrategien zu vermitteln, um ungesundes, übermäßiges Sporttreiben zu verhindern.

    Literatur

    Foucault, Michel (2012). Sexualität und Wahrheit 2. Der Gebrauch der Lüste. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
    Reichert M., Schlegel S., Jagau F., Timm I., Wieland L., Ebner-Priemer U.W., Hartmann A.& Zeeck A. (2019). Mood and Dysfunctional Cognitions Constitute Within-Subject Antecedents and Consequences of Exercise in Eating Disorders. Physotherapy and Psychosomatics, doi:10.1159/000504061.
    Stangl, W. (2011). Körperkult Jugendlicher und Ernährung.
    WWW: https://arbeitsblaetter.stangl-taller.at/ESSSTOERUNGEN/Koerperkult.shtml (11-10-12)
    Stangl, W. (2011). Essstörungen im Leistungssport.
    https://arbeitsblaetter.stangl-taller.at/ESSSTOERUNGEN/Leistungssport.shtml (11-10-12)
    Sundgot-Borgen, J. (1993). Prevalence of eating disorders in elite female athletes. Int J Sport Nutr., 29–40.
    Ohne Autor (2013). Sportsucht: Wenn der Körper zum Gegner wird. dpa vom 14. November 2013.
    http://www.welt.de/gesundheit/psychologie/article148606106/Wenn-Jugendliche-ihren-Koerper-zum-Panzer-staehlen.html (15-11-12)
    http://www.rp-online.de/leben/gesundheit/psychologie/psychologie-sportsucht-laufen-bis-es-weh-tut-aid-1.6779488 (17-04-28)


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