Im Human Brain Project arbeiten neben Psychologen auch Gehirnforscher, Ärzte, Informatiker, Physiker und Mathematiker aus zahlreichen Ländern zusammen, um das menschliche Gehirn von der molekularen Ebene bis zum Zusammenwirken ganzer Gehirnareale auf einem noch zu entwickelnden Supercomputer zu simulieren. Man versucht dabei Ansätze aus der Gehirnforschung und der Informationstechnologie miteinander zu vernetzen, um Untersuchungen und Experimente an einem virtuellen Gehirn durchzuführen, die an einem lebenden Objekt aus praktischen oder ethischen Gründen nicht möglich sind. Ein solches virtuelles Gehirn sollte es Medizinern künftig erleichtern, die Struktur und Arbeitsweise des gesunden und eines erkrankten Gehirns besser zu verstehen, damit Behandlungen für Demenzen, Depressionen, Süchte oder Parkinson-Erkrankungen entwickelt werden können.
Das Human Brain Projekt ist mit 131 europäischen Partnerinstitutionen aus 19 Ländern eines der größten je von der EU finanzierten Projekte, wobei die ursprüngliche Vision längst aufgegeben wurde, denn vom Nachbau des menschlichen Gehirns spricht niemand mehr. 2014 unterzeichneten rund 800 Wissenschaftler einen offenen Brief an die EU, in dem sie dieses Projekt kritisierten, denn dessen Versprechen seien überzogen, seine Vorgehensweise spalte die Forschung eher, als sie zu einen. Besondere Kritik entzündete sich am Initiator Henry Markram, der seinen Traum von der Hirnsimulation verfolgte und mit großem Einsatz dafür geworben hatte. Inzwischen wurde Markram entmachtet und heute leitet er nur noch einen von zwölf Teilbereichen, wobei die Verantwortung verteilt und die Zielsetzung überarbeitet wurde. Damit hat das Human Brain Project die Wende zu einer fast normalen Wissenschaftsförderstruktur genommen. Was Psychologen eigentlich schon immer wussten, wird durch diese Entwicklung bestätigt, dass das Gehirn nämlich eines der komplexesten Systeme überhaupt ist und auch die größte Summe an Forschungsgeldern nicht ausreicht, um alle Geheimnisse zu lüften.
Selbst wenn es möglich wäre, die Spikes aller Neuronen auf einmal aufzuzeichnen, existiert ein Gehirn niemals isoliert, denn um alles richtig zu verbinden, muss man gleichzeitig externe Reize, denen das Gehirn ausgesetzt ist, sowie das Verhalten des Organismus erfassen. Man müsste das Gehirn zunächst auf makroskopischer Ebene verstehen lernen, bevor man versuchen will zu entschlüsseln, was das Feuern der einzelnen Neuronen überhaupt bedeutet. Auch gibt es bis heute keine einheitliche Theorie über die Funktionsweise des Gehirns, und nicht alle Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen sind sich einig, dass der Bau eines simulierten Gehirns der beste Weg ist, dieses zu untersuchen. Vielmehr sind neue Instrumente und Techniken erforderlich, um das Gehirn auf aussagekräftigere Weise zu untersuchen. Bisher hat die Entwicklung solcher Methoden, wenn überhaupt, nur weitere Fragen über das Gehirn aufgeworfen und gezeigt, wie komplex es ist. Daher wird man in den letzten Jahren immer pragmatischer, erkennt die Grenzen des Möglichen an und konzentriert sich auf die Entwicklung von neuem Technologien zur Untersuchung des Gehirns.
KI-Forscher sehen derzeit auch keinen echten Durchbruch auf dem Weg zu dem großen Ziel, das menschliche Gehirn mit dem Computer zu simulieren, doch für die meist zur Messung der elektrischen Aktivität des Gehirns eingesetzt, mit Elektroden auf der Kopfhaut arbeitende Elektroenzephalographie gibt es aber neue Entschlüsselungsmethoden, wobei etwa Künstliche Intelligenz für die automatische Datenanalyse eingesetzt wird. Die Algorithmen werden so immer besser und könnten potenziell auf tieferer Ebene mehr Informationen herausziehen und Hirnaktivitäten in Echtzeit erkennen, sodass sich etwa vorhersagen lässt, in welche Richtung sich ein Mensch bewegen wird.
Es ist übrigens eine große Illusion des Human Brain Projects, dass Roboter schon bald komplizierte Aufgaben erledigen können, wenn man sich die Abläufe im menschlichen Gehirn noch genauer anschaut und sie dann auf die Robotik anwendet. Informatiker betonen gerne, dass die neuen Formen des maschinellen Lernens ähnlich ablaufen wie das Lernen im biologischen Gehirn, doch sie sind weder ähnlich noch identisch, denn Deep Learning funktioniert nach völlig anderen Prinzipien, als sie im Gehirn ablaufen, denn Nervenzellen sind viel komplexer als die Units beim maschinellen Lernen. In der Zwischenzeit sind die Vertreter des Human Brain Project mit ihren Versprechen sehr viel vorsichtiger geworden und man ist momentan damit zufrieden, beschränkte intellektuelle Leistungen des Gehirns auf Rechner zu bringen. So hat man „entdeckt“, dass die Objekterkennung in solchen computerbasierten Netzen ganz anders funktioniert als beim Menschen, denn künstliche Netze nutzen Informationen nur bruchstückhaft, d. h., ein künstliches Netz verarbeitet etwa den Inhalt eines Bildes ganz anders als das Gehirn.
Nach Ansicht von Experten liegt der wichtigste Unterschied zwischen Mensch und der bisherigen Künstlichen Intelligenz im Generalisierungsverhalten, denn etwa werden wiederzuerkennen oder etwas aus Erfahrung zu lernen, funktioniert nur, wenn manche Details ausgeblendet werden, sodass die entscheidende lautet, welche Informationen können ignoriert werden und welche sind wichtig. Neuronale Netze nicht unbedingt besser, nur weil man ihre Konstruktion an das menschliche Gehirn anlehnt, denn manche Dinge können Maschinen einfach besser, etwa Muster in großen Datenmengen zu erkennen, auch wenn das genau eines jener Probleme verursacht, mit denen man in der Forschung kämpft.
Maschinelle Algorithmen gehen eine Aufgabe ganz anders an, als es Menschen tun, denn ihnen fehlt ein Modell der Welt, sodass etwa Menschen teilweise nur ein einziges Trainingsdatum brauchen, um ein Tier wieder zu erkennen. Sie gleichen es einfach mit ihrem Weltmodell ab: Ein Körper mit vier Beinen, Fell, Schnauze? Klar, dass es sich um ein Tier handeln muss. Der Rest ist Feintuning. Umgekehrt sind das genau jene Eigenschaften, die Algorithmen fehlen: das Körpergefühl, das intuitive Verständnis für die Physik, das Menschen bei der Interaktion mit der Umwelt automatisch mitbekommen. Das biologische Gehirn verfügt über einzigartige Fähigkeiten, die das Überleben des Individuums sicherstellen sollen, sodass Menschen dadurch in schwierigen Situationen optimale Entscheidungen treffen können, bei denen widersprüchliche Informationen nicht zwangsläufig ein Problem dar stellen, während sie das für Computer unüberwindbare Hindernisse darstellen. So scheitert etwa die automatische Bilderkennung, wenn in einem Bild nur ein einziges Pixel verändert wird. Ein Mensch würde eine solche Änderung nicht einmal wahrnehmen, denn das Bild wäre für ihn dasselbe (Wolfangel, 2018).
Siehe dazu auch Warum das Human-Brain-Projekt scheitern muss
Link: https://www.humanbrainproject.eu/ (13-08-21)
Literatur
Wolfangel, E. (2018). Human Brain Project. Milliarden für die Künstliche Dummheit. Süddeutsche Zeitung vom 13. Juli.
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