Stigmatisierung

Stigmatisierung bezeichnet in der Sozialpsychologie jenen Prozess, durch den Individuen oder Gruppen andere Individuen oder Gruppen in Kategorien einordnen, was durch durch Zuschreibung von Merkmalen und Eigenschaften, durch Diskreditierung von Merkmalen und Eigenschaften, und durch Diskreditierung vorhandener, sichtbarer Merkmale und Eigenschaften geschieht. Stigmatisierung bezeichnet in erste Linie die Zuschreibung eines Merkmals auf eine Person, das von der Gesellschaft negativ bewertet wird und sich für den einzelnen Menschen negativ auswirkt. Beispiele sind etwa bestimmte Formen von Behinderungen, psychischen Erkrankungen, Arbeitslosigkeit, abweichendes sexuelles Verhalten usw.. Stigmatisierungen knüpfen dabei an sichtbaren oder unsichtbaren Merkmalen von Personen an, wobei es sich um Merkmale handelt, die in irgendeiner Weise von der Mehrheit abweichen, wie etwa körperliche Besonderheiten (z.B. Behinderungen), wie eine Gruppenzugehörigkeit (z.B. die Mitgliedschaft in einer Sekte) oder ein Verhalten (z.B. der Verstoß gegen eine geltende Normen), aber auch Verhaltensweisen, die in der Gemeinschaft tabuisiert werden und von der stigmatisierten Gruppe offen praktiziert werden (Kommunen, FKK, Zeugen Jehovas ets.).
Von entscheidender Bedeutung für Stigmatisierungsprozesse ist die Macht, über die Stigmatisierer und Stigmatisierte verfügen, denn Stigmatisierungen sind gegenüber Gruppen, die über wenig Macht verfügen, leichter durchzusetzen als gegenüber Gruppen mit großer Macht. Es ist daher davon auszugehen, dass Stigmatisierungen besonders in solchen Gesellschaften auftreten, die entweder auf Prinzipien der individuellen Leistung und Konkurrenz beruhen oder in denen Spannungen zwischen gesellschaftlichen Gruppen herrschen. Die Folgen der Stigmatisierung finden einerseits auf der Ebene der Teilhabe an der Gesellschaft, der Interaktion mit Nicht-Stigmatisierten und auf der Ebene der Veränderung der Identität der Betroffenen statt.
Nicht zuletzt regulieren Stigmata den sozialen Umgang zwischen den Gruppen einer Gesellschaft, insbesondere zwischen Mehrheiten und Minderheiten, wozu auch der Zugang zu knappen Gütern wie Berufschancen, Ressourcen, bestimmtem Status usw. gehören. Stigmatisierungen haben daher auch die Funktion einer Systemstabilisierung und kanalisieren Frustrationen, indem sie auf machtlose Sündenböcke abgeleitet werden, denen man die Schuld an negativen Entwicklungen zuweisen kann, sodass Stigmatisierungen daher von der Aufdeckung und Beseitigung gesellschaftlicher Missstände haufig ablenken. Stigmatisierungen verstärken letztlich aber auch die Konformität der Nicht-Stigmatisierten, indem Kontrastgruppen geschaffen werden, von denen sich die Mehrheit der Normalen und Angepassten vorteilhaft abheben kann. In der Regel sind von einer Stigmatisierung daher Randgruppen betroffen, die gemeinsame, negativ bewertete Merkmale besitzen, durch die sie von anderen Mitgliedern der Gesellschaft auf Grund von Vorurteilen unterschieden werden, woraus sich häufig ein Teufelskreis ergibt, denn Randgruppen werden stigmatisiert und die Stigmatisierung führt zu weiterer Ausgrenzung und Randgruppenbildung. Eine häufige Folge von Typisierungen und daraus resultierenden Benachteiligungen ist daher, dass solche Erwartungen an Stigmatisierte herangetragen werden, die schließlich von diesen selbst übernommen werden. Es kommt dabei zu einer entsprechenden Identitätsveränderung und zur Übernahme der zugedachten Rolle. Diese  veränderte Selbstdefinition als Resultat der Fremddefinition erzeugt und stabilisiert ihrerseits wieder Verhaltensweisen, und bestätigen die vorweg gefällten Erwartungen. Viele Vorurteile entstehen dabei durch Unwissen und Verallgemeinerung, aber oft akzeptieren die Betroffenen diese Vorurteile, was auf Dauer zu weiterem Verlust des Selbstwertes und des Glaubens an eine Selbstwirksamkeit und somit zu sozialem Rückzug und zu Isolation führt.

Ein weiterer wesentlicher Aspekt ist, dass Menschen n vielen gesellschaftlichen Kontexten  häufig den Anteil von Minderheitengruppen an der Gesamtbevölkerung überschätzen, wobei diese Fehleinschätzungen jedoch nicht nur auf spezifische politische oder soziale Phänomene zurückzuführen sind, sondern grundlegenden menschlichen Denkfehlern entspringen, die vor allem bei der Einschätzung von Proportionen auftreten. Eine Untersuchung von Guay et al. (2025) hat gezeigt, dass dieser Effekt auf allgemeinen psychologischen Prozessen beruht, die für alle Arten von Schätzungen gelten. Wenn Menschen gefragt werden, wie viele Mitglieder bestimmter Minderheiten in ihrem Land leben, überschätzen sie deren Anteil häufig deutlich. In den USA etwa geben Menschen oft doppelt so hohe Zahlen an, wenn sie den Anteil von Afroamerikanern, Latinos, Muslimen, Asiaten, Juden, Einwanderern oder der LGBTQ-Community schätzen. Diese Tendenz, Gruppen in ihrer Zahl falsch einzuschätzen, ist nicht auf die USA beschränkt, sondern auch in anderen Ländern zu beobachten, wo der Anteil von Ausländern ebenfalls regelmäßig zu hoch eingeschätzt wird. Auf der anderen Seite unterschätzen die meisten Menschen den Anteil der Mehrheit an der Gesamtbevölkerung. Die Erklärung für diese Fehleinschätzungen, die von sozialen und politischen Wissenschaftlern vorgeschlagen wurde, ist komplex und umfasst mehrere Hypothesen. Eine davon besagt, dass Vorurteile und die Wahrnehmung von Bedrohung dazu führen, dass Minderheitengruppen als größer wahrgenommen werden, als sie tatsächlich sind. Eine andere Hypothese legt nahe, dass Menschen, die durch Medienberichte oder durch persönliche Kontakte häufig mit Angehörigen von Minderheitengruppen in Kontakt kommen, deren Anteil als höher einschätzen, was durch fehlerhafte Zahlen oder eine hohe Frequenz von Medienberichten verstärkt werden kann. Guay et al. (2025) haben nun einen weiteren, tiefgehenderen Mechanismus aufgezeigt, der diese Fehleinschätzungen besser erklären kann. Dafür wertete man Daten aus, die in den letzten 30 Jahren aus über 36.000 Befragungen von Personen aus 22 Ländern gesammelt wurden. Dabei wurde die Schätzung von Gruppengrößen untersucht, sowohl in Bezug auf ethnische Minderheiten als auch auf nicht-ethnische Gruppen. Die Ergebnisse zeigten, dass die Schätzwerte tendenziell immer zur Mitte hin verschoben sind, also näher an 50 Prozent, was als Schwellenwert zwischen Minderheiten und Mehrheiten dient. Wenn Menschen keine genaue Zahl kennen, neigen sie dazu, die Größe von Minderheitengruppen zu überschätzen und die Größe von Mehrheiten zu unterschätzen. Diese Verzerrung, die als „Regression zur Mitte“ bezeichnet wird, ist ein allgemeinpsychologisches Phänomen, das in der Schätzung von Proportionen zu beobachten ist, egal ob es um Minderheiten oder andere demografische Merkmale geht. Das Muster dieser Fehleinschätzungen wurde in der Studie als allgemeiner Schätzfehler identifiziert, der weit über die sozialpsychologischen oder politischen Erklärungsansätze hinausgeht. Der Effekt tritt in allen Bereichen auf, in denen Menschen Schätzungen zu Proportionen abgeben müssen. Auch bei der Schätzung von nicht-politischen Themen wie der Häufigkeit von Buchstaben in Texten oder dem Besitz von Haushaltsgeräten, wie etwa Waschmaschinen, zeigt sich dieses Fehlerphänomen. Nur in wenigen Fällen konnte man eine Korrelation zwischen den Fehleinschätzungen und den wahrgenommenen Bedrohungen oder der Häufigkeit sozialer Kontakte zu Minderheitengruppen feststellen. Vielmehr zeigte sich, dass Menschen mit mehr Wissen und Informationen über eine Gruppe etwa durch direkte Erfahrungen oder Medienberichte ihre Schätzungen realistischer abgeben. Dennoch kann falsches Wissen, etwa durch Fehlinformationen oder Vorurteile, dazu führen, dass Menschen ihre Einschätzungen stärker verzerren. Man sollte daher Fehleinschätzungen der demografischen Struktur nicht nur als Ergebnis politischer oder sozialer Vorurteile zu verstehen, sondern sie auch als eine Konsequenz allgemeiner psychologischer Prozesse zu betrachten, die Menschen Menschen dazu verleiten, Proportionen zur Mitte hin zu verzerren. Insofern zeigt die Studie, dass eine tiefere Auseinandersetzung mit den psychologischen Mechanismen hinter diesen Schätzfehlern notwendig ist.

Literatur

Goffman, Erving (1975). Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität. Frankfurt am Main.
Guay, B., Marghetis, T., Wong, C. & Landy, D. (2025). Quirks of cognition explain why we dramatically overestimate the size of minority groups. Proceedings of the National Academy of Sciences, 122, doi:/10.1073/pnas.2413064122.
Stangl, W. (2025, 2. April). Warum Menschen die Größe von Minderheiten überschätzen. arbeitsblätter news.
https:// arbeitsblaetter-news.stangl-taller.at/warum-menschen-die-groesse-von-minderheiten-ueberschaetzen/


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