Der Begriff der sozialen Ansteckung bezeichnet das Phänomen, dass es zwischen Menschen eine Form der emotionalen Übertragung gibt. Durch soziale Ansteckung können sich also Stimmungen, Gefühle, Unehrlichkeit, Einsamkeit, Zigarettenrauchen und Anderes in einer Gesellschaft ausbreiten. Was Menschen fühlen und wie sie sich verhalten, entscheiden sie häufig nicht alleine, denn auch die Psyche kann sich der Macht des Sozialen nicht entziehen, wobei die heute weit gespannten Online-Netzwerke die Macht der sozialen Epidemien verstärken und erweitern.
Untersuchungen haben gezeigt, dass sich auch Urteile und Verhaltensweisen von Mensch zu Mensch ausbreiten können, etwa in Form von politischer Mobilisierung oder der Verbreitung von Gesundheitspraktiken. Heute verbreiten viele Menschen ihre persönlichen Urteile in sozialen Netzwerken und es stellt sich die Frage, wovon es ab ängt, dass Menschen die Meinungen anderer übernehmen und weiterverbreiten. Ob man jemandem glaubt, seine Urteile übernimmt und gar weiterverbreitet, hängt vor allem von sozialen Faktoren ab, denn so steigt die Wahrscheinlichkeit der Übernahme einer Meinung, wenn man diese von vielen unterschiedlichen Quellen hört oder auch, wenn man die Menschen, die diese Meinung äußern, schätzt.
Moussaïd et al. (2017) untersuchten, unter welchen Umständen sich Urteile von einem Menschen zum anderen verbreiten, wie sich der wiederholte Austausch untereinander auf den sozialen Einfluss auswirkt und wie weit ein persönliches Urteil in einer Kommunikationskette weitergegeben werden kann. Dafür entwickelten man zwei einfache Experimente, an Menschen teilnahmen, die sich zuvor nicht kannten. In beiden Experimenten bekamen diese die gleiche visuelle Wahrnehmungsaufgabe, wobei sie in Interaktion mit einem zufällig zugeordneten Partner beurteilen mussten, in welche Richtung sich die Mehrzahl von Punkten auf einem Computerbildschirm bewegte. In jeder Runde mussten beide Partner ein Urteil abgeben, doch ein Partner erhielt jedoch die Möglichkeit, sein Urteil nach der eigenen Abgabe mit dem Urteil des anderen abzugleichen und sein Urteil noch einmal zu ändern. Zudem konnte dieser in jeder Runde sehen, ob der andere bei den Aufgaben besser oder schlechter als er selbst abgeschnitten hat. Dabei beeinflussten die Forscher das Leistungsniveau, indem sie verschiedene Schwierigkeitslevel einbauten, d. h., die Paare suchten somit zwar immer nach dem gleichen Ergebnis, jedoch unter unterschiedlich schwierigen Bedingungen. In einer experimentellen Bedingung machte man den jeweils Ersten in der Kette zum besseren Beurteiler, um zu sehen, wie es sich auswirkt, wenn er über mehrere Runden beobachten kann, dass das Urteil des anderen konstant besser ist als das eigene. In allen Runden wurde der Einfluss des Ersten auf das Urteil des Anderen gemessen, wobei sich zeigte, dass der Einfluss umso mehr zunimmt, je besser sich beide kennenlernen. Zu Beginn tendierten die Probanden dazu, das Urteil ihres Partners zu ignorieren, während sie nach mehrfacher Interaktion stark davon beeinflusst waren. Das geschah jedoch nur, wenn der Urteilssender bei den gestellten Aufgaben auch durchweg besser abschnitt als der Empfänger, wobei die Probanden die Irrtümer des Anderen als schwerwiegender bewerteten als die eigenen.
In einem zweiten Experiment untersuchte man die Dynamiken hinter der Urteilsweitergabe über mehrere Menschen hinweg, wobei der Testablauf der gleiche wie im ersten Experiment war, jedoch mit einer Kommunikationskette aus sechs Probanden, die jeweils wieder mehrfach mit ihrem Vordermann agierten, und der Erste in der Kette immer im Vorteil war, da die die Aufgaben mit dem leichtesten Schwierigkeitslevel bekam. Damit konnte man beobachten, wie dass sich das Urteil in der Kette weiterverbreitete, und zwar auch auf die, die keinen direkten Kontakt zu Ersten hatten. Dabei nahm der Einfluss mit der Distanz zur Urteilsquelle ab und war nach mehr als drei Personen in der Kette nicht mehr messbar. Der schwindende Einfluss über die soziale Distanz hinweg hing mit der Überbewertung der Fehler anderer sowie mit einer Informationsverzerrung bei der Weitergabe zusammen. Beides führte zu zeitlichen Verzögerungen und letztlich zum Einflussverlust, doch ist es nach Ansicht der Forscher bemerkenswert, dass Menschen nicht nur auf die Urteile ihrer Freunde einen Einfluss haben können, sondern auch auf die Meinung von deren Freunden und den Freunden dieser Freunde. Offenbar verbreiten sich Urteile zwischen direkten Kontakten ähnlich wie infektiöse Krankheiten.
Ein weiteres Beispiel für soziale Ansteckung ist das Sweetening in amerikanischen TV-Komödien, bei dem authentisch klingende Reaktionen eines realen oder fiktiven Publikums bei der Ausstrahlung von Sendungen eingesetzt wird. Oft wird die Lach-Tonspur nachbearbeitet, d. h., Lacher werden versetzt, hinzugefügt, gekürzt, ein- oder ausgeblendet. Nach Untersuchungen (Baranowski et al., 2017) hat das Lachen aus der Konserve einen die ZuhörerInnen einen ansteckenden Einfluss, sodass eine Handlung als lustiger bewertet wird, und zwar unabhängig davon, ob es von echtem Publikum oder von einer Tonspur kommt. Sozialer Druck beeinflusst die menschliche Wahrnehmung offenbar massiv, was vor allem für Situationen gilt, die nicht ganz eindeutig definiert sind, sodass Menschen sehr sensibel bezüglich der emotionalen Reaktion anderer sind. Neben Lachen funktionieren bei Horrorfilmen auch Schreie, diese jedoch nur, wenn sie echter Ausdruck von Angst sind. Das kommt vermutlich daher, dass Lachen ein Zeichen von Bindung an andere Menschen ist, während Angst ein Zeichen von Warnung, sodass die Angstreaktion spezifischer ausfällt. Übrigens wirken deshalb viele Filme im Kino lustiger als zu Hause, da hier das Lachen des Publikums ansteckend wirkt.
Historisches
Der Medizinhistoriker Justus Hecker berichtete im 19. Jahrhundert über eine Tanzwut, die sich in Aachen im Jahr 1374 kurz nach der großen Pest ausbreitete: “Hand in Hand schlossen sie Kreise, und ihrer Sinne anscheinend nicht mächtig, tanzten sie stundenlang in wilder Raserei, ohne Scheu vor den Umstehenden, bis sie erschöpft niederfielen.” Auch wenn, wie häufig angenommen, die drogenähnliche Wirkung von Pflanzengiften als Ursache hinzukam, hatte die spezielle Ausprägung der Symptome eindeutig sozialen Charakter. 1974 wies zudem der Soziologe David Phillips nach, dass sich Menschen eher umbringen, wenn sie von den Suiziden anderer hören oder lesen (Werther-Effekt). So korrelierte die Selbstmordrate in den Jahren 1947 bis 1968 mit der Suizid-Berichterstattung in der New York Times: Machte die Zeitung mit dem Thema auf, stieg die Zahl der Selbstmörder.
Auch psychische Störungen können von einem Menschen zum anderen springen, denn so brachen am 30. Januar 1962 in einem Dorf in Tansania drei Mädchen in unkontrolliertes, hysterisches Lachen aus; am 18. März litten bereits 95 Schülerinnen unter dieser seltsamen Krankheit. Zehn Tage später erreichte die Lachhysterie einen 90 Kilometer entfernten Ort und infizierte 217 Personen: Am Ende lachten Tausende. Auch Rückenschmerzen sind nach Ansicht von Sozialmedizinern eine ansteckende Krankheit. Eine Analyse der Gesundheitssurveys aus West- und Ostdeutschland zeigte, dass es vor der Wiedervereinigung im Osten kaum Menschen mit Rückenproblemen gab. Zehn Jahre später hatten die Ostdeutschen aufgeholt und lagen nun in puncto Rückenleiden gleichauf.
Literatur
Baranowski, Andreas M., Teichmann, Rebecca & Hecht, Heiko (2017). Canned Emotions. Effects of Genre and Audience Reaction on Emotions. Art & Perception, 5, 312-336.
Moussaïd, M., Herzog, S., Kämmer, J., & Hertwig, R. (2017). Reach and speed of judgment propagation in the laboratory. Proceedings of the National Academy of Sciences, 114, 4117-4122.
Westerhoff, Nikolas (2010). Zeig mir deine Wunde.
WWW: http://www.sueddeutsche.de/wissen/psychologie-zeig-mir-deine-wunde-1.1004092 (10-09-25)