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Identität

    Wohin man auch geht, sich selbst entkommt man nicht.
    Haruki Murakami

    Morgen gehe ich mich besuchen, hoffentlich bin ich zu Hause.
    Karl Valentin

    Der Begriff der Identität nimmt in Wissenschaft, Politik und Gesellschaft eine bedeutende Rolle ein, eignet er sich doch in besonderer Weise, anthropologische, soziale und kulturelle Fragen zu reflektieren. Die Vorstellungen, die damit verbunden sind, erweisen sich allerdings als recht divergent und geradezu widersprüchlich: Für die einen ist Identität ein Signum für Eindeutigkeit, Stabilität und Kohärenz, gleichsam ein Versprechen für Zuverlässigkeit und Kontinuität; für die anderen stellt sie eine offene Größe dar, die sich im Spannungsfeld zwischen Sein und Schein, Einheit und Differenz, Statik und Bewegung konstituiert. Die einen binden Identität an biologische Determinanten; die anderen beschreiben sie als ein Konstrukt, das soziokulturell geformt ist und historischen Veränderungen unterliegt. Die einen sehen Identität bedroht, etwa durch das Fehlen überindividuell gültiger Orientierungen und Normen; die anderen sehen in gesellschaftlichen Umbrüchen und globalen Veränderungen die Chance, institutionell vorgeprägte und sozial konditionierte Rollenschemata aufzubrechen (Krammer, 2016).

    Die Menschen sind jene Lebewesen, die wissen wollen, was oder wer sie sind, und schon seit langer Zeit haben Menschen über diese Fragen nachgedacht, wobei die Antwortversuche sich in Religion, Philosophie, Kunst und Literatur wiederfinden. Auch die Psychologie versucht zu erklären, was Identität ausmacht und wie sich diese im Menschen herausbildet, wobei sie vor allem Grundmuster der Persönlichkeit, in denen Menschen sich unterscheiden und als Individuen verorten, zu finden versucht. Identitätsentwicklung braucht Zeit, denn Menschen sind zwar einerseits von ihren Genen, dem Elternhaus, der Kultur, ihrer Umgebung geprägt, andererseits formen sich Menschen bis zu einem gewissen Grad auch selbst über ihre persönlichen Projekte in Form von gewählten Lebenswegen, den selbstgestellten und freiwilligen Lebensaufgaben, die sie nachhaltig und oft mit Leidenschaft verfolgen. Mit solchen Projekten gestalten Menschen ihre Lebenswelt und schaffen so eine ureigene Nische, die wiederum deren Identität mitformt und neben Genen und Sozialisation zu ihrer dritten Natur wird.

    Jeder Mensch ist, wie er ist, und hat dabei meist eine Vorstellung davon entwickelt, wie und wer er ist, d. h., er besitzt eine Identität. Diese Identität findet und entwickelt er im Laufe seines Lebens, wobei ihm die Sprache hilft, denn Menschen erzählen gerne über sich selbst, über das, was sie erlebt und unternommen haben und wie sie in dieser und in jener Situation reagiert haben. Menschen suchen dabei nach jenen Eigenschaften, die sie als Person kennzeichnen und unverwechselbar machen, d.h., sie formen durch die Erzählungen ihre „narrative Identität“. Im Laufe der Zeit entwickeln, bekräftigen oder verändern sie ihre Selbsterzählungen, d.h., sie (re)konstruieren sie ihr Selbst aus den erinnerten Episoden ihrer Vergangenheit fortlaufend und verweben Anekdoten aus ihrer Vergangenheit zu einer Lebensgeschichte, einer umfassenden Erzählung darüber, wie sie zu der Person wurden, die sie sind (vgl. Saum-Aldehoff, 2010).

    Man kann dabei zwischen psychischer und sozialer Identität unterscheiden. Die psychische Identität stellt keine wie auch immer geartete eindeutige Essenz oder ein unveränderliches Wesen dar. Im Gegenteil: Identität als psychologisches Konzept geht geradezu davon aus, dass sich ein Mensch mit etwas „identifiziert“, also ein äußeres Merkmal einer bestehenden Gruppenidentität als sein eigenes Wesensmerkmal annimmt. In gewisser Hinsicht erscheint dies als notwendiger Prozess zur Heranbildung einer eigenen Persönlichkeit, aber es bleibt stets ein Element der Fremdbestimmung und Zuschreibung. Die soziale Identität hingegen wird einer Person durch die Gesellschaft zugeschrieben und umfasst alle Eigenschaften die diese Identität enthält. Eine soziale Identität ist eng mit der Übernahme bestimmter Rollen innerhalb einer (sozialen) Gruppe verbunden. Eine Rolle kann die berufliche Arbeit sein.

    Forschungen haben gezeigt, dass Peers die Entwicklung der ethnischen Identität in der frühen Adoleszenz beeinflussen, wobei einiges darauf hindeutet, dass vor allem gleichethnische aber nicht multiethnische Peers für die Entwicklung dieser Identität bedeutsam sind. Anhand einer Längsschnittanalyse von sozialen Netzwerken untersuchten Jugert, Leszczensky & Pink (2019) den Peer-Einfluss gleich- und multiethnischer Freunde auf die ethnisch-rassischen Identitätsbindung und es zeigte sich, dass sich Jugendliche vor allem an gleich-ethnischen Freunden orientieren während anders-ethnische Freunde dagegen kaum Einfluss haben. Dieser Effekt war bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund auch stärker als bei Jugendlichen ohne einen solchen. Daher ist die Berücksichtigung der Ethnizität von Peers entscheidend für das Verständnis des Einflusses von Peers auf die Entwicklung in der Adoleszenz.

    Identitätsentwicklung verläuft im Spannungsprozess zwischen Selbstverwirklichung und den Anforderungen der Gesellschaft. Bildung von Identität ist das Ausbalancieren der personalen und sozialen Dimension, es erfordert vom Individuum seine eigenen Wertmaßstäbe, Bedürfnisse und Interessen einzubringen und sich gleichzeitig auf die Anforderungen und Erwartungen der Umwelt einzulassen.

    Die Identität ist auch die 5. Stufe in Eriksons Stufenmodell der psychosozialen Entwicklung (Jugendalter) und steht der Identitätsdiffusion gegenüber: Identität bedeutet nach Erikson (1994), dass man weiß, wer man ist und wie man in diese Gesellschaft passt. Aufgabe des Jugendlichen ist es, all sein Wissen über sich und die Welt zusammenzufügen und ein Selbstbild zu formen, das für ihn und die Gemeinschaft gut ist. Seine soziale Rolle gilt es zu finden. Ist eine Rolle zu strikt, die Identität damit zu stark, kann das zu Intoleranz führen. Schafft der Jugendliche es nicht, seine Rolle in der Gesellschaft und seine Identität zu finden, führt das nach Erikson zu Zurückweisung. Menschen mit dieser Neigung ziehen sich von der Gesellschaft zurück und schließen sich u.U. Gruppen an, die ihnen eine gemeinsame Identität anbieten. Wird dieser Konflikt erfolgreich ausbalanciert, so mündet das in die Fähigkeit der Treue. Obwohl die Gesellschaft nicht perfekt ist, kann man in ihr leben und seinen Beitrag leisten, sie zu verbessern.
    Siehe dazu im Detail Phasen der psychosozialen Entwicklung nach Erik Homburger Erikson.

    Schubach et al. (2016) haben untersucht, inwiefern der Wohnort bzw. ein Wohnortwechsel eine Auswirkung auf die Identitätsentwicklung junger Erwachsener hat. Untersucht wurde dabei die Entwicklung regionaler Identität im jungen Erwachsenenalter, also in einer Lebensphase, die besonders häufig durch Wohnortwechsel geprägt ist, wobei über einen Zeitraum von sechs Monaten Hochschulabsolventen befragt wurden. Es zeigte sich dabei, dass die Probanden, die in dieser Zeit umgezogen waren, weniger stabil in Bezug auf ihre Identitätszugehörigkeit waren als AbsolventInnen, die in diesem Zeitraum nicht den Wohnort gewechselt hatten. Offenbar haben Ortsveränderungen deutliche Auswirkungen auf die Persönlichkeitsentwicklung junger Erwachsener.

    Zum Ich-Begriff

    Weder Philosophen noch Psychologen konnten sich bisher darauf einigen, was unter einem „Ich“ zu verstehen ist, wobei in den letzten Jahren vor allem Hirnforscher den Zweifel verstärkt haben, ob es so etwas wie ein einheitliches Ich überhaupt gibt. Menschen haben ein Wahrnehmungs-Ich, ein Gedächtnis-Ich, ein emotionales Ich und viele Unter-Iche und die können auch relativ unabhängig voneinander ausfallen, denn so kann man etwa zum Beispiel das autobiographische Gedächtnis verlieren und sich zwar als körperliche Einheit erleben, aber nicht mehr wissen, wer man ist, oder man kann das Wahrnehmungs-Ich zerstören, dann weiß man nicht mehr, was alles bedeutet, was man sieht und hört, aber man bezieht es immer noch auf sich selbst. Diese verschiedenen Ichleistungen arbeiten relativ unabhängig voneinander, sodass es nach heutigem Wissensstand unsinnig ist, von einem einheitlichen Ich zu sprechen. Daher ist auch die Vorstellung, über die Lebensgeschichte hinweg eine Identität zu bewahren, vermutlich eher falsch, denn in Wirklichkeit zerfällt das Ich nicht nur nach Zuständigkeiten, sondern verändert sich auch mit der Zeit. Die Idee eines einheitlichen, substanziellen und stabilen Ich ist nach neuesten Erkenntnissen daher eine Illusion. Hirnforscher wissen übrigens seit geraumer Zeit, dass die einzelnen Ichregionen auch nicht im Gehirn verteilt sind, sondern sich an der Mittellinie des Gehirns entlangziehen, scheinen also einen größeren zusammenhängenden Komplex zu bilden. Dennoch ist die Befundlage bis heute eher inkonsistent und keineswegs eindeutig.


    Einige Definitionen

    1. Definition
    Von lateinisch zu idem = derselbe bezeichnet Identität in der Psychoanalyse das emotionale Sich gleichsetzen mit einer anderen Person oder einer Gruppe und Übernahme ihrer Motive und Ideale in das eigene Ich (vgl. Autorengemeinschaft & Redaktionelle Leitung Grill, 1992, S. 119f).
    2. Definition
    Identität wird als Wahrnehmung der relativen Einheitlichkeit der Einstellungen, Gefühle und des Verhaltens trotz wechselnder Umweltbedingungen und des Fortschreitens der Zeit beschrieben (vgl. Brunner & Zeltner, 1980, S. 100).
    3. Definition
    „Identität bezeichnet die völlige Übereinstimmung eines Indiviuums oder einer Sache mit sich selbst. In Bezug auf die Identität des Menschen spricht die Psychologie von einem dynamischen Selbstkonzept, das lebenslang in Entwicklung begriffen ist, im Wechselspiel mit dem sozialen Umfeld kontinuierlich Veränderungen und in Form von Identitätskrisen“ (Köck & Ott, 1997, S. 312).
    4. Definition
    „Identität ist das Gesamt der Antworten auf die Frage: Wer bin ich? Wer sind wir?“ (Reinhold, 1997, S. 276).
    5. Definition
    Identität meint den Zielzustand, sich durch Integration neuer Erfahrungen wandeln und mit widersprüchlichen Normen umgehen zu können, ohne die eigenen Intentionen aufzugeben (vgl. Keck & Sandfuchs, 1994 S. 156).
    6. Definition
    Nach Krappmann stellt die Identität die Besonderheit des Individuums dar (vgl. Krappmann, 1969 S. 9).
    7. Definition
    „Was passiert, wenn man sich mit einer Identität versieht? Man bewaffnet sich. (…) Die Identität ist genauso problematisch wie jede andere Waffe – die Waffe an sich ist nichts, was es zu vergöttern gilt und was nicht zu kritisieren wäre. Eine Waffe ist dazu da, Leute umzubringen, und in diesem Sinne falsch. Nur wissen wir ja auch alle, dass es manchmal unumgänglich ist, sich zu bewaffnen; und auf dieser Ebene würde ich gerne den Begriff der Identität oder das Betonen der Besonderheiten sehen, und auf dieser Ebene kann man auch die Gefahr sehr leicht diskutieren“ (Diedrichsen & Jacob, 1994, S. 53).
    8. Definition
    „Ich habe mir diese Frage mehr als einmal gestellt, während ich das wieder las, was ich über die Identität geschrieben habe und ich beeile mich zu erklären, dass ich in diesem Buch keine eindeutige Erklärung dafür geben werde. Je mehr man über diesen Gegenstand schreibt, desto mehr wird das Wort zu einem Ausdruck für etwas, das ebenso unergründlich wie allgemeingegenwärtig ist. Man kann ihn nur untersuchen, indem man eine Unentbehrlichkeit in verschiedenen Zusammenhängen feststellt“ (Erikson 1970, S. 7).


    Kritisches zum Identitätsbegriff

    Identitäten bilden sich immer entlang des Kontextes von gesellschaftlichen Wertigkeiten, die ein oben und ein unten, ein besser und ein schlechter mitbedingen. Identität ist demnach nicht etwas, was man hat und dessen man sich im Prozess einer wie auch immer vorgestellten Adoleszenz bewusst werden muss, oder das sich entlang natürlicher Prozesse bilden muss, sondern Identitätsbildungen sind häufig persönliche Reaktionen auf Einschränkungen und Verletzungen. Diese Beeinträchtigungen geschehen in der Regel im Kontext bereits kursierender diskursiver Identitätsansprüche, wobei eine Identität zu haben und diese zu verteidigen angeblich dem Leben wie aber auch dem Leiden erst einen Sinn gibt. Das häufig und global vertretene Konzept einer eindeutigen Identität von Menschen, Nationen, Bevölkerungsgruppen ist daher eher kritisch bzw. ambivalent zu betrachten. Vielmehr sollte man eher danach fragen, welche Bedingungen es sind, die Identifikationen überhaupt ermöglichen, aber auch zu untersuchen, wie diese Bedingungen durch Identifikationen erst erzeugt werden. Die Beziehungen, die Menschen zu sich selbst unterhalten müssen, sind keine Identitätsbeziehungen, sondern sie sollten eher Beziehungen der Differenzierung, der Schöpfung und der Innovation sein, denn es ist sehr langweilig, immer derselbe zu sein (Foucault).

    Literatur

    Brunner, R. & Zeltner, W. (1980). Lexikon zur Pädagogischen Psychologie und Schuldpädagogik. München: Ernst Reinhardt Verlag.
    Diederichsen, D, & Jacob, J. (1994).  Differenz und Reaktion. konkret Nr. 2, 52-55.
    Erikson, Erik H. (1970). Jugend und Krise. Die Psychodynamik im sozialen Wandel. Stuttgart: Ernst Klett Verlag.
    Erikson, E. H. (1994). Identität und Lebenszyklus. Drei Aufsätze. Suhrkamp.
    Grill, G. (1992). Meyers großes Taschenlexikon. Mannheim: B.I. Taschenbuchverlag.
    Jugert, P., Leszczensky, L. & Pink, S. (2019). Differential Influence of Same- and Cross-Ethnic Friends on Ethnic-Racial Identity Development in Early Adolescence. Child Development, doi:10.1111/cdev.13240.
    Keck, R. & Sandfuchs, U. (1994). Wörterbuch Schulpädagogik. Ein Nachschlagewerk für Studium und Schulpraxis. Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt Verlag.
    Köck, P. & Ott, H. (1997). Wörterbuch für Erziehung & Unterricht. 3100 Begriffe aus den Bereichen Pädagogik, Didaktik, Psychologie, Soziologie, Sozialwesen. Donauwörth: Auer Verlag.
    Krammer, Stefan (2016). Ich bin ich bin ich … Identitätskonzepte in den Sozial-, Kultur- und Literaturwissenschaften (S. 78-103). In Ursula Esterl & Werner Wintersteiner (Hrsg.), Orientierungen für den Deutschunterricht. Innsbruck, StudienVerlag.
    Krappmann, L. (2000). Soziologische Dimensionen der Identität. Strukturelle Bedingungen für die Teilnahme an Interaktionsprozessen. Stuttgart: Klett-Cotta Verlag.
    Reinhold, G. (1997). Soziologie-Lexikon. München: R. Oldenbourg Verlag.
    Saum-Aldehoff, Thomas (2010). Es war einmal: ich.
    WWW: http://www.psychologie-heute.de/news_partnerschaft_sexualitaet/identitaet_selbstbild_es_war_einmal_ich__100902.html (10-12-12)
    Schubach, E., Zimmermann, J., Noack, P. & Neyer, F.J. (2016). Me, myself, and mobility: The relevance of region for young adults‘ identity development. European Journal of Personality, 30, 189–200.
    Psychologie Heute (2017). Ich bin ich. Psychologie Heute Compact 48.


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