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Marshmallow-Test

    Manch einer, der vor der Versuchung flieht,
    hofft doch heimlich, dass sie ihn einholt.
    Giovanni Guareschi

    *** Hier KLICKEN: Das BUCH dazu! *** Der Marshmallow-Test gehört zu den bekanntesten Experimenten der Psychologie. Mischel et al. (1989) boten in den Jahren 1968 bis 1974 vierjährigen Kindern Süßigkeiten an und stellten sie vor die Wahl, entweder die Süßigkeit sofort zu essen oder später eine zweite zu bekommen, wenn sie der Versuchung widerstehen können und auf den sofortigen Genuss verzichten. Dieser Belohnungsaufschub gelang einigen Kindern, anderen hingegen nicht, d.h., sie unterschieden sich hinsichtlich der Belohnungs- und Bedürfnisaufschubs (delay of gratification).

    Mischels Test zeigt die Bedeutung der Impulskontrolle und des Aufschieben-Könnens von Selbstbelohnungen für akademischen, emotionalen und sozialen Erfolg. Damit wird die Fähigkeit beschrieben, kurzfristig auf etwas Verlockendes für die Erreichung langfristiger Ziele zu verzichten. Ergebnisse des Experiments sagen diese Fähigkeit eines Menschen recht gut voraus.

    Die Theorie des Belohnungsaufschubs erklärt also im Detail, unter welchen Bedingungen Menschen in der Lage sind, eine unmittelbare Belohnung zugunsten eines in fernerer Zukunft liegenden Ertrages aufzugeben. Die Fähigkeit zum Belohnungsaufschub wird in diesem Modell als stabile Persönlichkeitseigenschaft angesehen. Beim Konstrukt des „delay of gratification“ handelt es sich nicht um den faktischen Belohnungsaufschub, sondern um die „ability to defer an immediate but less desired outcome for the sake of a prefered outcome contingent on waiting“ (Mischel, Shoda & Peake, 1988, S. 687). Die Fähigkeit zum Belohnungsaufschub stellt dabei eine phänomenologische Ausgestaltung der Fähigkeit zur Selbstkontrolle dar (Mischel, 1974, S. 249f.).

    Als man die Kinder dreizehn Jahre nach dem Versuch später nochmals einlud, gab es erstaunliche Ergebnisse, denn jene, die schon im Vorschulalter hatten warten können, waren als junge Erwachsene zielstrebiger und erfolgreicher in Schule und Ausbildung. Außerdem konnten sie besser mit Rückschlägen umgehen, wurden als sozial kompetenter beurteilt und waren seltener drogenabhängig als jene, die dem Marshmallow damals nicht hatten widerstehen können. Die Ungeduldigen dagegen waren emotional instabiler und schnitten in der Schule schlechter ab, obwohl sie nicht weniger intelligent waren. Mischel hatte damals mehr als nur die pure Willenskraft der Kinder gemessen, sondern Geduld, also eine Mischung aus Selbstkontrolle, Frustrationstoleranz und Ausdauer. Studien belegen übrigens, dass Alkoholiker deutlich ungeduldiger sind als Menschen, die keinen oder nur wenig Alkohol konsumieren, was auch für andere Süchte, etwa die Spielsucht gilt. In Untersuchungen fand sich auch ein Zusammenhang zwischen der Unfähigkeit, lange auf etwas zu warten, und einem ungesunden Lebensstil, denn jene Menschen, die Belohnungen schnell zu ihrer Verfügung haben wollten, waren häufiger sportlich untätig und hatten einen bedeutsam höheren Body-Mass-Index als die geduldige Menschen. Heute vermutet man, dass Geduld zumindest teilweise genetisch bedingt ist, denn ein hohes Maß an Selbstkontrolle lässt sich auch aus der Gehirnaktivität ablesen, indem Menschen mit guter Selbstkontrolle ihre neuronalen Netzwerke effizienter nutzen als jene mit geringerer Selbstkontrolle, wobei das ein stabiles Merkmal darstellt. Es hat sich auch gezeigt, dass Kinder mit weniger Geduld bis ins Erwachsenenalter mehr Zeit benötigen, um irrelevante Informationen beiseite zu schieben, und dabei auch mehr Fehler machen, vermutlich auch eine Folge mangelnder Selbstkontrolle.

    Ein neueres Experiment zum Marshmellow-Test von Ma et al. (2020) zeigte, dass es bei diesem Versuch auch eine Rolle spielt, wer die Wartezeit bestimmt. Waren es nämlich LehrerInnen, warteten die 3- und 4-Jährigen am längsten, bei Gleichaltrigen warteten sie noch halb so lang, doch am schnellsten griffen die Kinder zu, wenn niemand eine genaue Zeit ansagte, sondern nur allgemein von Wartezeit sprach. Offenbar ist der Wunsch, andere zu beeindrucken stark ausgeprägt und motiviert das menschliche Verhalten schon in diesem Alter. Kinder können offenbar schon sehr früh Hinweise erkennen, was Menschen um sie herum wertschätzen und welches Verhalten sie eher missbilligen.

    Auch bei Erwachsenen hat man geprüft, ob sie in der Lage sind, auf eine Belohnung zu warten: „Sie erhalten 20 Euro jetzt oder 50 in einem halben Jahr“. Dadurch lässt sich ein individueller Wert für den Belohnungsaufschub ermitteln, der in der Regel über Jahre so stabil ist wie andere Persönlichkeitsmerkmale auch (Kirby, 2009).

    Kulturelle Unterschiede

    Lamm et al. (2017) entdeckten, dass Vierjährige aus Kamerun wesentlich besser in der Lage sind, der Versuchung im Marshmallow-Test zu widerstehen als vergleichbare Kinder aus Deutschland. Mehr als zwei Drittel der Kinder aus Afrika schafften es, diese 10 Minuten abzuwarten, während es von den Kindern aus Deutschland nur zu 28 Prozent waren. Die Kinder aus Afrika blieben auch ruhig und saßen still auf ihrem Stuhl und bewegten sich kaum. Die AutorInnen vermuten einen Einfluss unterschiedlicher Erziehungsstile und sozialer Normen, denn die afrikanischen Kinder lernen früh, sich in eine Gruppe einzuordnen, die meist hierarchisch organisiert ist, wobei Gehorsam und Respekt vor älteren Mitgliedern der Gruppe wichtige Tugenden darstellen. Schon daraus ergeben sich vermutlich untrschiedliche Strategien, der Versuchung im Marshmallow-Test zu widerstehen. Die afrikanischen Kinder akzeptieren offenbar die Situation, fügen sich ihr in Stille und Selbstkontrolle, während die Kinder aus Deutschland die Versuchung dazu bringt, sich auf sich und ihr Bedürfnis nach der Süßigkeit zu konzentrieren und sich auf diese Weise abzulenken, indem sie wippen, summen oder singen, um ihre Aufmerksamkeit von der Schokolade weg zu verschieben.


    John Protzko wertete 2017 über 30 Wiederholungen der Studie aus und fand, dass über die Jahrzehnte hinweg es den Kindern zunehmend länger gelang, der Versuchung zu widerstehen, , d. h., dass sich die Fähigkeit von Kindern zum Belohnungsaufschub verbessert hat – siehe Grafik.

    Watts et al. (2018) zeigten allerdings in einer neuen Untersuchung an neunhundert Kindern Mängel bei Mischels Originalstudie zum Marshmallow-Test auf. Sie berücksichtigten in der repräsentativen Stichprobe Kontrollfaktoren wie die soziale Stellung, die in der ursprünglichen Studie nicht berücksichtigt worden waren. Es zeigte sich dabei, dass dreijährigen Kinder aus sozial schwächeren Familien und mit einem niedrigen Haushaltseinkommen eher dazu neigen, den ersten Marshmallow sofort zu essen. Offenbar haben diese Kinder kein Vertrauen darauf, tatsächlich die zweite Süßigkeit zu erhalten.


    Sitz der Impulskontrolle im Gehirn

    Berger et al. (2022) haben nun untersucht, welche Gehirnstrukturen mit der Entwicklung dieser wichtigen Fähigkeit zusammenhängen, indem sie mithilfe eines multimodalen Ansatzes ausgeprägte Verhaltensverbesserungen (Marshmallow-Test) in verschiedenen Bereichen der hemmenden Kontrolle bei 3- und 4-Jährigen in Beziehung zu strukturellen Indizes für die Reifung des sich entwickelnden Gehirns setzten. Die Ergebnisse zeigen, dass die kortikale und subkortikale Struktur von Kernregionen des kognitiven Kontrollnetzwerks von Erwachsenen, einschließlich des präfrontalen Cortex, des Thalamus und der inferioren parietalen Kortizes, mit der frühen inhibitorischen Funktion bei Vorschulkindern in Verbindung steht. Mithilfe eines multimodalen Ansatzes, der Analysen der kortikalen Oberflächenstruktur, der subkortikalen Strukturen und der Konnektivität der weißen Substanz kombiniert, zeigen diese Ergebnisse die strukturellen Hirnnetzwerke und die Konnektivität im Zusammenhang mit dieser zentralen Fähigkeit der menschlichen Kognition. Bemerkenswert an den Ergebnissen ist, dass diese Assoziationen mit der Hirnstruktur für verschiedene Facetten der frühen Hemmungskontrolle, die oft als motivationale (heiße) und kognitive (kalte“ Hemmungskontrolle bezeichnet werden, unterschiedlich waren. Für die Kontrolle „heißer“, emotionsträchtiger Impulse spielten nämlich Stirnhirn und Scheitellappen bei den Kindern eine geringere Rolle, vielmehr war dafür das Volumen der rechten Thalamushälfte und die Reifung des Gyrus supramarginalis entscheidend, der eng mit der Aufmerksamkeitssteuerung verknüpft ist. Diese Ergebnisse offenbaren somit die strukturellen Gehirnnetzwerke und die Konnektivität, die mit der Entstehung dieser zentralen Fähigkeit der menschlichen Kognition zusammenhängen.

    Impulskontrolle auch bei Tieren?

    Schnell et al. (2021) haben in einer interessanten Untersuchung gezeigt, dass der Versuch zur Impulskontrolle auch bei Tintenfischen funktioniert. Die in zweigeteilten Wasserbehältern sitzenden Tiere hatten die Wahl, entweder ein Weichtier, das sie nicht so gerne fressen, sofort zu bekommen, oder ihre Lieblingsspeise später. Die Tintenfische bewiesen dabei Geduld und warteten 50 bis 130 Sekunden lang, um an den begehrten Leckerbissen zu kommen. Bei dieser Studie wurde auch deren Lernfähigkeit erforscht, denn sie wurden vor die Wahl gestellt, zu einer weißen oder grauen Boje zu schwimmen, wobei nur an einer der Bojen eine Belohnung in Form einer Krabbe wartete. Sobald ein Tintenfisch gelernt hatte, an welcher Boje es die Belohnung gibt, wurde das Belohnungssystem umgekehrt, so dass er nun zur Boje mit der anderen Farbe schwimmen musste. Dabei zeigte sich, dass die Tintenfische, die am schnellsten lernten, auch bei dem Experiment zum Bedürfnisaufschub am längsten auf die begehrte Belohnung warten konnten. Offenbar hängt der Bedürfnisaufschub bei Tintenfischen auch mit deren Lernfähigkeit zusammen.


    Walter Mischel wurde 1930 in Wien geboren, floh er als 8-Jähriger mit seiner Familie vor den Nationalsozialisten und begann in den USA ein neues Leben. Nach Studium und Promotion in klinischer Psychologie wirkte er ab den 1960er Jahren vor allem an der Stanford Universität in Kalifornien sowie später an der Columbia Universität in New York. In seiner langen Laufbahn gab er der Entwicklungs- und Persönlichkeitspsychologie viele Anstöße, doch der Nachwelt in Erinnerung bleibt er vermutlich vor allem für jene Studienserie, die als das „Marshmallow-Experiment“ berühmt wurde. Er war auch im hohen Alter noch aktiv und starb am 12. September 2018 an einem Krebsleiden.

    Literatur

    Berger, Philipp, Friederici, Angela D. & Grosse Wiesmann, Charlotte (2022). Maturational indices of the cognitive control network are associated with inhibitory control in early childhood. The Journal of Neuroscience, doi:10.1523/JNEUROSCI.2235-21.2022.
    Kirby, K. N. (2009). One-year temporal stability of delay-discount rates. Psychon Bull Rev, 16, 457-462.
    Lamm, Bettina, Keller, Heidi, Teiser, Johanna, Gudi, Helene, Yovsi, Relindis D., Freitag, Claudia, Poloczek, Sonja, Fassbender, Ina, Suhrke, Janina, Teubert, Manuel, Vöhringer, Isabel, Knopf, Monika, Schwarzer, Gudrun, Lohaus, Arnold (2017). Waiting for the Second Treat: Developing Culture-Specific Modes of Self-Regulation. Child Development, doi: 10.1111/cdev.12847.
    Ma, Fengling, Zeng, Dan, Xu, Fen, Compton, Brian J. & Heyman, Gail D. (2020). Delay of Gratification as Reputation Management. Psychological Science, doi:10.1177/0956797620939940.
    Mischel, W., Shoda, Y., & Rodriguez, M. L. (1989). Delay of gratification in children. Science, 244, 933-938.
    Mischel, W. (1974). Process in delay of gratification. In L. Berkowitz (Ed.), Advances in experimental social psychology (S. 249-292). New York: Academic Press.
    Mischel, W., Shoda, Y., & Peake, P. K. (1988). The nature of adolescent competencies predicted by preschool delay of gratification. Journal of Personality and Social Psychology, 54, 687-696.
    Schnell, Alexandra K., Boeckle, Markus, Rivera, Micaela, Clayton, Nicola S. & Hanlon, Roger T. (2021). Cuttlefish exert self-control in a delay of gratification task. Proceedings of the Royal Society, doi:10.1098/rspb.2020.3161.
    Stangl, W. (2022, 25. Juli). Gehirnnetzwerke zur Impulskontrolle. Psychologie-News.
    https:// psychologie-news.stangl.eu/4262/gehirnnetzwerke-zur-impulskontrolle
    Sutter, Matthias (2014). Die Entdeckung der Geduld: Ausdauer schlägt Talent. Ecowin Verlag.
    Watts, T. W., Duncan, G. J. & Quan, H. (2018). Revisiting the Marshmallow Test: A Conceptual Replication Investigating Links Between Early Delay of Gratification and Later Outcomes. Psychological Science, doi: 10.1177/0956797618761661.

    Grafik

    http://nypost.com/2017/09/22/kids-are-actually-getting-better-at-the-marshmallow-test/ (17-10-03)


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