Glaube

Glaube stellt aus psychologischer Sicht ein vielschichtiges Phänomen dar, das weit über traditionelle religiöse Vorstellungen hinausgeht. Es umfasst sowohl kognitive als auch emotionale, soziale und motivationale Dimensionen und ist eng verknüpft mit grundlegenden menschlichen Bedürfnissen nach Sinn, Sicherheit und Verbundenheit. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um religiösen oder säkularen Glauben handelt – psychologisch gesehen erfüllt Glaube in all seinen Formen zentrale Funktionen im Leben des Menschen.

Ein zentrales Unterscheidungsmerkmal in der psychologischen Analyse des Glaubens ist die Unterscheidung zwischen belief und faith. Während belief das kognitive Fürwahrhalten bestimmter Inhalte beschreibt – etwa die Überzeugung, dass bestimmte religiöse oder moralische Aussagen wahr sind –, bezieht sich faith auf das emotionale Erleben von Vertrauen, Geborgenheit und Gehaltensein. Beide Aspekte sind bedeutsam: belief hilft dabei, die Welt kognitiv zu ordnen und in existenziellen Krisen wie Leid, Tod oder Kontrollverlust eine Deutung zu finden. Faith hingegen adressiert das tiefe menschliche Bedürfnis nach Verbundenheit mit etwas Höherem oder Sinnstiftendem, das über das eigene Selbst hinausgeht (vgl. Murken, 2023).

Auch wenn sich viele Menschen zunehmend von institutionalisierten Formen der Religion oder von traditionellen Gottesbildern entfernen, bleiben diese Bedürfnisse bestehen. Sie suchen neue Ausdrucksformen, häufig im Bereich der modernen Spiritualität. Konzepte wie das „Universum“, Engel oder energetische Felder übernehmen heute oft die Rolle, die früher ein personaler Gott innehatte. Der Glaube an wohlwollende, transzendente Instanzen ermöglicht es Individuen, sich gleichzeitig autonom und dennoch begleitet zu fühlen. Diese „wohlwollende Abhängigkeit“ ist laut Murken eine psychologische Doppelbewegung: Menschen pochen einerseits auf Selbstbestimmung, sehnen sich aber gleichzeitig danach, gesehen, geführt und behütet zu werden (Murken, 2023).

Darüber hinaus kann Glaube als Ressource verstanden werden, die Hoffnung, Trost und psychische Stabilität bietet – insbesondere in Zeiten der Unsicherheit. Viktor Frankl betonte in seiner Logotherapie die existenzielle Kraft des Glaubens als Sinnquelle, selbst unter extremen Bedingungen wie dem Konzentrationslager (Frankl, 1946). Auch die Terror-Management-Theorie zeigt, dass religiöser Glaube Ängste vor der eigenen Endlichkeit abmildern kann, indem er eine überindividuelle Ordnung verspricht (Greenberg et al., 1997).

Auf kognitiver Ebene bedeutet Glaube oft, etwas für wahr zu halten, ohne dass es empirisch überprüfbar ist. Dies gilt nicht nur für religiöse Inhalte, sondern auch für Alltagsüberzeugungen wie den Glauben an Gerechtigkeit oder das Gute im Menschen. Die Theorie der kognitiven Dissonanz (Festinger, 1957) erklärt, wie Menschen ihre Überzeugungen oft so anpassen, dass sie innere Kohärenz und psychisches Gleichgewicht aufrechterhalten können.

Schließlich ist Glaube auch ein soziales Phänomen. Er wird in sozialen Kontexten erlernt, vermittelt und bestätigt – durch Familie, kulturelle Normen oder Peergroups. Glaube kann Zugehörigkeit stiften, Identität formen, aber auch zur sozialen Abgrenzung beitragen. Die Sozialpsychologie verweist in diesem Zusammenhang auf Mechanismen wie Konformität und Gruppenzugehörigkeit, die Überzeugungen verstärken können (vgl. Tajfel & Turner, 1986).

Insgesamt zeigt sich, dass Glaube weniger als festes Dogma zu verstehen ist, sondern vielmehr als flexible Haltung, die es Menschen ermöglicht, mit Unsicherheiten und Brüchen des Lebens umzugehen. Er hilft, Sinn zu stiften, Entscheidungen zu treffen, Krisen zu bewältigen und das Gefühl von Zugehörigkeit und Identität aufrechtzuerhalten – unabhängig davon, ob er religiös motiviert oder säkular geprägt ist.

Literatur

Festinger, L. (1957). A theory of cognitive dissonance. Stanford University Press.
Frankl, V. E. (1946). …trotzdem Ja zum Leben sagen: Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager. Herder.
Greenberg, J., Pyszczynski, T., & Solomon, S. (1997). Terror management theory of self-esteem and cultural worldviews: Empirical assessments and conceptual refinements. In P. Zanna (Ed.), Advances in Experimental Social Psychology (Vol. 29, pp. 61–139). Academic Press.
Murken, S. (2023). Was Glaube aus psychologischer Sicht bedeutet. Psychologie heute compact.
Tajfel, H., & Turner, J. C. (1986). The social identity theory of intergroup behavior. In S. Worchel & W. G. Austin (Eds.), Psychology of intergroup relations (pp. 7–24). Nelson-Hall.


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