Selbstviktimisierung, auch als Opfermentalität oder Opferhaltung bekannt, beschreibt die Tendenz eines Menschen oder auch ganzer Gruppen, sich selbst übermäßig oder unangemessen als Opfer von negativen Umständen oder dem Handeln anderer zu sehen. Dieses psychologische Phänomen ist durch eine Neigung gekennzeichnet, externe Faktoren für persönliche Probleme oder Misserfolge verantwortlich zu machen, anstatt die eigene Rolle oder Verantwortung in einer Situation anzuerkennen.
Baer & Frick-Baer definieren in ihrem Buch „Wie Traumata in die nächste Generation wirken“ (2012) Selbstviktimisierung als einen Prozess, bei dem Menschen sich selbst als hilflos und handlungsunfähig wahrnehmen und diese Wahrnehmung in ihr Selbstbild integrieren. Diese Haltung kann zu einem passiven Verhaltensmuster führen, bei dem Betroffene sich als machtlos gegenüber ihren Lebensumständen empfinden.
In der Sozialpsychologie wird Selbstviktimisierung oft im Zusammenhang mit Attributionstheorien diskutiert. Nach Baumeister et al. (1996) im Artikel „Relation of Threatened Egotism to Violence and Aggression: The Dark Side of High Self-Esteem“ kann Selbstviktimisierung paradoxerweise auch als Strategie zur Aufrechterhaltung eines positiven Selbstbildes dienen, indem Misserfolge oder negative Erfahrungen externen Faktoren zugeschrieben werden.
Die Auswirkungen von Selbstviktimisierung können vielfältig sein, wobei laut einer Studie eine ausgeprägte Opfermentalität zu verringertem psychologischem Wohlbefinden, erhöhtem Stresserleben und Schwierigkeiten in sozialen Beziehungen führen kann. Zudem kann sie die Fähigkeit beeinträchtigen, effektiv mit Herausforderungen umzugehen und persönliches Wachstum zu erfahren.
In therapeutischen Kontexten wird die Überwindung von Selbstviktimisierung oft als wichtiger Schritt zur psychischen Gesundheit angesehen, wobei die Bedeutung von Selbstverantwortung und der Fähigkeit, eigene Narrative hinterfragt und umgedeutet werden muss, um aus dieser Opferhaltung herauszukommen.
Selbstviktimisierung sollte dabei nicht mit tatsächlichen Opfererfahrungen verwechselt werden , denn während Selbstviktimisierung eine übermäßige oder unangemessene Zuschreibung von Opferrollen beschreibt, gibt es reale Situationen, in denen Menschen tatsächlich Opfer von Unrecht oder Gewalt geworden sind. Die Herausforderung besteht dann darin, zwischen berechtigten Opfererfahrungen und einer dysfunktionalen Opfermentalität zu unterscheiden. Das Erkennen und die Überwindung von Selbstviktimisierung erfordert oft Selbstreflexion, die Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung für das eigene Leben und erfordert möglicherweise professionelle Unterstützung. Strategien zur Bewältigung können die Entwicklung eines realistischeren Selbst- und Weltbildes, die Stärkung der Selbstwirksamkeit und die Förderung von Resilienz umfassen.
Selbstviktimisierung in der Politik
Nicht selten findet sich dieses Muster bei politischen Gruppierungen wie Parteien, da man sich dadurch einen höheren Zuspruch erwartet. Dabei wird die Tatsache, dass die eigene Leiderfahrung nicht durch andere gemacht oder repräsentiert werden kann, häufig zum Ausgangspunkt aller Kritik genommen. Betroffenheit und Wahrheit fallen hier zusammen, denn wer leidet, hat recht. Selbstviktimisierung bei politischen Gruppen ist dabei ein komplexes Phänomen, das in der politischen Psychologie und Soziologie zunehmend Beachtung findet. Es beschreibt die Tendenz politischer Gruppierungen, sich selbst als Opfer darzustellen, um politische Ziele zu verfolgen oder die eigene Identität zu stärken.
Der Politikwissenschaftler Cas Mudde hat in seinem Buch „The Far Right Today“ (2019) die Rolle der Selbstviktimisierung besonders bei rechtspopulistischen Bewegungen hervorgehoben. Er argumentiert, dass diese Gruppen oft ein Narrativ des „Volkes als Opfer“ konstruieren, das von Eliten, Minderheiten oder internationalen Kräften bedroht wird. Diese Strategie dient dazu, Unterstützung zu mobilisieren und Kritik an der eigenen Politik als Angriff auf die „wahren Opfer“ abzuwehren.
Auch linksorientierte Gruppen können Selbstviktimisierung als politisches Instrument nutzen. Der Soziologe Frank Furedi diskutiert in seinem Werk „Politics of Fear“ (2005) wie verschiedene politische Strömungen Opfernarrative einsetzen, um moralische Autorität zu beanspruchen und politische Forderungen zu legitimieren.
Ein wichtiger Aspekt der politischen Selbstviktimisierung ist die Schaffung einer kollektiven Identität durch geteiltes Leid. Der Historiker Dominick LaCapra beschreibt in „Writing History, Writing Trauma“ (2001), wie traumatische Erfahrungen oder deren Wahrnehmung zur Grundlage politischer Identitäten werden können. Dies kann zu einer Verhärtung politischer Positionen und einer Erschwerung von Kompromissen führen.
Die Sozialpsychologin Johanna Ray Vollhardt hat in ihrer Forschung gezeigt, dass Selbstviktimisierung in politischen Kontexten aber auch positive Effekte haben kann. In ihrem Artikel „Inclusive Victim Consciousness in Advocacy, Social Movements, and Intergroup Relations“ (2015) argumentiert sie, dass ein „inklusives Opferbewusstsein“ zu größerer Solidarität zwischen verschiedenen marginalisierten Gruppen führen kann.
Allerdings warnen Kritiker wie der Politikwissenschaftler Mahmood Mamdani in seinem Buch „When Victims Become Killers“ (2001) vor den Gefahren einer exzessiven politischen Selbstviktimisierung. Sie kann zu einer Rechtfertigung von Gewalt und einer Verweigerung von Verantwortung für eigenes Handeln führen. In der deutschen politischen Landschaft hat der Soziologe Wilhelm Heitmeyer das Konzept der „Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“ entwickelt, das auch Aspekte der Selbstviktimisierung beinhaltet. In seinen Langzeitstudien zur „Deutschen Zustände“ zeigt er, wie Selbstviktimisierung mit der Abwertung anderer Gruppen einhergehen kann.
Selbstviktimisierung kann daher ein mächtiges politisches Instrument sein, das sowohl zur Mobilisierung von Unterstützung als auch zur Rechtfertigung problematischer Positionen genutzt werden kann. Es erfordert eine kritische Auseinandersetzung, um seine Dynamiken und Auswirkungen auf den politischen Diskurs und gesellschaftlichen Zusammenhalt zu verstehen.