Die Kunstwahrnehmung und Kunsterfahrung ist ein interdisziplinäres Forschungsfeld und untersucht diese mit verschiedenen qualitativen und quantitativen Methoden, also Interviews, standardisierten Fragebögen oder teilnehmender Beobachtung. Je nach Fragestellung kommt auch Eye-Tracking zum Einsatz, etwa dann, wenn im Fokus steht, wer wann wo und wie auf ein Bild schaut. Häufig kommt ein Methodenmix zur Anwendung, wobei diese Methoden in der Kunstgeschichte eher selten verwendet werden und ursprünglich aus Disziplinen wie der Soziologie oder der Psychologie stammen. Es gab ischon früh Versuche im Bereich der Kunstgeschichte, empirisch zu forschen, denn so hat Wassily Kandinsky 1923 eine Fragebogenaktion zu Farb-Form-Korrespondenzen durchgeführt.
In der Kunstgeschichte ging man lange Zeit von einem idealen Betrachter aus, einem theoretischen Konstrukt, das hegemonial männlich, heterosexuell und westlich geprägt war, wodurch auch eine gewisse Universalität impliziert war. Aus Eye-Tracking-Studien weiß man aber, dass es bei der Betrachtung von Kunstwerken etwa einem Gemälde durchaus geteilte Muster gibt.
Unter dem Begriff Wahrnehmung versteht man bekanntlich allgemein die Fähigkeit, Sinnesreize zu erkennen, zu unterscheiden und durch Vergleichen mit früheren Erfahrungen zu interpretieren, wobei das menschliche Gehirn basierend auf allen ihm zur Verfügung stehenden Informationen fortlaufend ein Modell der Wirklichkeit generiert, das je nach Individuum unterschiedlich ausfällt, wobei der jeweilige (kulturelle) Standpunkt, Kenntnisse, Fähigkeiten und Erwartungen eine wichtige Rolle spielen. Das gilt auch für Kunstwahrnehmung, wobei der komplexe Prozess der Wahrnehmung etwa eines Gemäldes in der Regel unbewusst abläuft, wobei man sich eher selten Gedanken darüber macht, denn bewusst wird nur das Ergebnis, also das fertige Bild. Auch ist ein Kunstwerk, egal ob aus der Perspektive des Schaffenden oder der des Betrachters gesehen, nichts anderes als ein Wahrnehmungsprozess. Während der Kunstschaffende Wahrnehmungsstrukturen wie Helligkeit, Farbe, Kontrast, Linien, Form und Gestalt, Bewegung und Räumlichkeit gestaltet, fällt dem Kunstbetrachter die Rolle des Empfängers solcher Sinnesreize zu.
Aus Untersuchungen weiß man auch, dass Frauen Kunst anders betrachten als Männer, denn so sollten Probanden städtische und ländliche Szenerien als schön bzw. nicht schön einstufen. Während Männer dazu ausschließlich die rechte Hemisphäre des Gehirns nutzten, waren bei Frauen beide Gehirnhälften aktiviert, wobei von diesem unterschiedlichen Zugang vor allem die Bewertung und nicht die unmittelbare Wahrnehmung betroffen war. Man weiß aus den Neurowissenschaften, dass auch die Einteilung räumlicher Beziehungen Unterschiede bei Männern und Frauen aufweist, denn Frauen nehmen eher eine kategorische Aufteilung nach vorne, hinten, oben, unten, innen und außen vor, was eher in der linken Hirnhälfte geschieht, während Männer exakte Distanzen zwischen den betrachteten Objekten wie in einem Koordinatensystem abspeichern, für das wiederum vorrangig die rechte Hemisphäre zuständig ist.
Kunst und Wohlbefinden
Die affektiven Mechanismen beziehen sich auf die Emotionsregulation und das Erleben positiver Gefühle wie Freude und Entspannung. Sie sind unmittelbar mit der emotionalen Wirkung verbunden, die Kunst auf Betrachtende haben kann. Kognitive Mechanismen wiederum betreffen Prozesse wie Aufmerksamkeit, Lernen und Erinnern, d. h., Kunst regt zum Nachdenken an, weckt Neugierde und fordert die intellektuelle Auseinandersetzung damit heraus. Ein weiterer Aspekt ist der soziale Mechanismus, denn gemeinsames Kunstbetrachten kann das Gefühl von Gemeinschaft und Verbundenheit stärken und sozialer Isolation entgegenwirken. Gerade in musealen oder gemeinschaftlichen Kontexten ist dieser Effekt besonders ausgeprägt. Die selbsttransformative Wirkung von Kunst manifestiert sich oft durch persönliche Reflexion, Identitätsstärkung und die Erfahrung von Sinn. Kunst ermöglicht es also dem Individuum, sich selbst besser zu verstehen und emotionale Tiefe zu erfahren. Nicht zuletzt fördern resilienzstärkende Mechanismen die emotionale Widerstandskraft. Dies ist besonders relevant in klinischen oder psychisch belastenden Situationen, wo Kunst als unterstützende Maßnahme im Genesungsprozess fungieren kann.
Literatur
Morris, A. P., Kubischik, M., Hoffmann, K. P., Krekelberg, B., & Bremmer, F. (2012). Dynamics of eye-position signals in the dorsal visual system. Current biology, 22, 173–179.
Stangl, Werner. (2025, 17. April). Kunst als Schlüssel zum Wohlbefinden? 👩🏻🎨 Kunst von A bis Z.
https:// kunst.stangl.eu/kunst-als-schluessel-zum-wohlbefinden/
Trupp, M. D., Howlin, C., Fekete, A., Kutsche, J., Fingerhut, J.,& Pelowski, M. (2025). The impact of viewing art on well-being—a systematic review of the evidence base and suggested mechanisms. The Journal of Positive Psychology, 1–25, doi:10.1080/17439760.2025.2481041