Zum Inhalt springen

Habitus

    In der Soziologie wurde der Begriff Habitus durch Norbert Elias und Pierre Bourdieu eingeführt, wobei er bei Elias der Begriff sozialer Habitus die Gewohnheiten des Denkens, Fühlens und Handelns bezeichnet, soweit sie den Mitgliedern einer Gruppe gemeinsam sind. Nach Bourdieu, der sich ausdrücklich auf Elias bezieht, bezeichnet Habitus das gesamte Auftreten einer Person, im Einzelnen also etwa den Lebensstil, die Sprache, die Kleidung und den Geschmack, wobei sich am Habitus einer Person der Rang oder Status einer Person in der Gesellschaft ablesen lässt. Habitus meint bei ihm vor allem die klassenspezifisch erworbene, unbewusste aber genaue Angepasstheit der Dispositionen, Verhaltensmuster und Einstellungen einer Person an das jeweilige soziale Umfeld. Bourdieu entwickelt seinen Habitus-Begriff vor dem Hintergrund einer Kapitalismus-kritischen Gesellschaftsanalyse der Persistenz sozialer Klassen und stellt die Frage, warum die soziale Ordnung so natürlich gegeben scheint und inwiefern die Individuen an dieser scheinbaren Natürlichkeit beteiligt sind bzw. welche Handlungsspielräume sie besitzen.

    Das gesamte Handeln der Individuen wird von diesem Habitus bestimmt, sodass der Habitus die Umsetzung objektiver gesellschaftlicher Verhältnisse in subjektive, individuelle und klassenbestimmte Praxis leistet. Unbewusst und trotzdem genau angepasst an das soziale Feld ist diese Praxis deshalb, weil der Habitus geschichtlich erst in Reaktion auf ein immer schon vorhandenes soziales Feld entsteht, sodass der Habitus daher stets das Produkt eines geschichtlichen Prozesses darstellt. In ihm manifestieren sich die objektiven Notwendigkeiten und Möglichkeiten des Handelns einer Klasse und werden mittels eines Klassenethos in subjektiven Sinn verwandelt. Laut Bourdieu funktionieren gesellschaftliche Unterscheidungssysteme wie die in Klassen nur durch die Mitwirkung der Individuen selbst, denn gesellschaftlich erkannte Unterschiede existieren letztlich nur für jene Subjekte, die über die Befähigung hinaus, diese überhaupt wahrzunehmen, auch imstande sind, sie als bedeutsam für sich zu erkennen. Eine Unterteilung der Gesellschaft in Klassen ist also nur durch die Partizipation der Individuen am Spiel der Selbst- und Fremdklassifikation möglich, aber sie haben letztlich keine frei Wahl, denn die richtigen, also ihrer sozialen Position entsprechenden Praxen sind ihnen in der Regel mit einem Anschein von Natürlichkeit gegeben, weil Menschen Zeit ihres Lebens ihre Lebensbedingungen und die daraus abgeleiteten Regeln, also Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Handlungsmuster, mit der Zeit übernehmen. Diese Klassen werden letztlich zum Teil der Subjekte selbst, verschmelzen zu deren Habitus, verstanden als System von Wahrnehmungs- und Urteilsschemata, als kognitive und evaluative Strukturen, die sie vermittelt über die dauerhafte Erfahrung einer Position in der sozialen Welt erwerben. Der Habitus ist gleichzeitig ein System von Schemata der Produktion von Praktiken und ein System von Schemata der Wahrnehmung dieser Praktiken. Durch diese Inkorporierung der eigenen Lebensbedingungen, durch den unbewussten Sinn etwa für Grenzen, werden die Grenzen zwischen Klassen vergessen bzw. unsichtbar, sodass schon allein der Wunsch nach grundsätzlichen Veränderungen eher unwahrscheinlich wird, und dies geschieht um so stärker, je schwerer die Lebensbedingungen für das Individuum sind. Nicht zuletzt deshalb werden von den Menschen in ihrem Habitus auch die Struktur des Kapitalbesitzes sowie die Position innerhalb der Produktionsverhältnisse übernommen. Paradoxerweise sind die Menschen, die am meisten unter der Herrschaft zu leiden haben, auch jene, die sich am unwahrscheinlichsten dagegen auflehnen wollen und können. Dementsprechend ist die Legitimation der sozialen Ordnung nicht das Produkt eines Manipulationsaktes der an sich autonomen Subjekte, vielmehr erscheinen diese Strukturen als evident, logisch und somit legitim, weil sowohl die Wahrnehmungs- und Bewertungsstrukturen als auch die Handlungsdispositionen der Subjekte Resultate eben genau dieser Ordnung sind.


    1. Definition
    „Der Habitus ist das vereinigende Prinzip, das den verschiedenen Handlungen des Individuums ihre Kohärenz, ihre Systematik und ihren Zusammenhang gibt“ (Krais, 2004, S. 95).
    2. Definition
    „Er bezeichnet im Grunde eine recht simple Sache: Wer den Habitus einer Person kennt, der spürt oder weiß intuitiv, welches Verhalten dieser Person verwehrt ist. Mit anderen Worten: Der Habitus ist ein System von Grenzen“ (Bordieu, 1997, S.33).
    3. Definition
    „Mit dem Begriff des Habitus wird die grundlegende soziologische Fragestellung nach dem Zusammenhang von Individuum und Gesellschaft, von Person und Struktur bearbeitet Der Habitus ist ein vielschichtiges System von Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsmustern, das die Ausführung und Gestaltung individueller Handlungen und Verhalten mitbestimmt, hat einen gesellschaftlichen Ursprungs (Korte, 2010, S.74).
    4. Definition
    „Die Konditionierungen, die mit einer bestimmten Klasse von Existenzbedingungen verknüpft sind, erzeugen die Habitusformen als Systeme dauerhafter und übertragbarer Dispositionen, als strukturierte Strukturen, die wie geschaffen sind, als strukturierende Strukturen zu fungieren, d.h. als Erzeugungs- und Ordnungsgrundlagen für Praktiken und Vorstellungen, die objektiv an ihr Ziel angepaßt sein können […]” (Bourdieu 1998, S.99).
    5. Definition
    “Bei Generationskonflikten stehen sich keineswegs Altersklassen gegenüber, die durch natürliche Eigenschaften voneinander getrennt wären, sondern Habitusformen, die verschieden entstanden sind, d.h. unter Existenzbedingungen, welche aufgrund verschiedener Definitionen des Unmöglichen, des Möglichen und des Wahrscheinlichen dafür sorgen, daß manche Leute Praktiken oder Bestrebungen als selbstverständlich oder sinnvoll erleben, die andere als undenkbar und skandalös verübeln, und umgekehrt” (Bourdieu 1998, S.116/S.117).


    Anmerkung: Menschen sind in der Regel von Natur aus nicht besonders gut dazu in der Lage, inneren Abstand zu ihrer eigenen Haltung einzunehmen, denn meist haben sie aufgrund von Prägungen und Vorerfahrungen eine intuitive Haltung und legen sich erst im Nachhinein ihre Argumente so zurecht, dass es sich anfühlt, als hätten sie diese objektiv gut begründet und hergeleitet. Wie gut es Menschen gelingt, andere von der Richtigkeit der eigenen Haltung zu überzeugen, hängt u. a. von den rhetorischen Fähigkeiten, dem sozialen Hintergrund oder der akademischen Bildung ab, wobei es in Diskussionen auf hohem akademischen Niveau bekanntlich auch nie um die reine Wahrheit geht. Gerade in universitären Elfenbeintürmen geht es in der Regel vielmehr auch um Durchsetzungsvermögen und Macht.


    Habitusbegriff bei Bourdieu

    Habitus umfasst für Bourdieu zunächst die objektive Kategorisierung von Angehörigen bestimmter sozialer Klassen innerhalb der gesellschaftlichen Strukturen, und darüber hinaus ein auf das Subjekt bezogenes Konzept der Verinnerlichung kollektiver Dispositionen. Habitus ist das Produkt von sozialem und kulturellem Kapital, oder auch die Konditionierung des Individuums und Reproduktion von Herrschaft, je nach Perspektive.

    Das Habituskonzept vermittelt zwischen den fundamentalen bzw. elementaren Lebensbedingungen und den Praxisformen (Lebensstilen) eines sozialen Akteurs. Fundamentale Lebensbedingungen zeichnet Bourdieu im sozialen Raum nach. Der Habitus erfüllt somit eine Doppelfunktion: er ist als opus operatum (Werk) durch die elementaren Lebensbedingungen der sozialen Lage bestimmt und zugleich als modus operandi (Handlungsweise) generatives Erzeugungsprinzip für Praxis. Bourdieu spricht hier von strukturierter, strukturierender Struktur.

    Opus operatum (Werk): Der Habitus ist klassenspezifisch determiniert, d. h., Lebensbedingungen werden über Anpassungs-, Lern- und Konditionierungsprozesse als klassenspezifische Klassifikationssysteme verinnerlicht. In der alltäglichen Praxis werden kollektive, generative Schemata und Dispositionen einverleibt. Die soziale Herkunft und der bisherige soziale Lebenslauf sind für die Prägung des Habitus von zentraler Bedeutung. Über die frühkindliche Entwicklung vermittelt, geht darüber hinaus die gesamte kollektive Geschichte der Familie und der Klasse in den Habitus ein. Nicht nur klassenspezifische Sprache oder Werte haben konstituierende Funktion, sondern beispielsweise auch die Architektur, große und helle oder enge, dunkle Räume, oder auch die Beschaffenheit der Inneneinrichtung wirken in der frühkindlichen Entwicklung prägend. Bourdieu bezeichnet den Habitus als geronnene Lebensgeschichte, wobei auch soziale Positionen dabei als Dispositionen verinnerlicht werden.

    Modus operandi (Handlungsweise): Der Habitus ist ein generatives Erzeugungsprinzip von Praxisformen. Die Schemata des Habitus bilden Urformen der Klassifikation und sind die fundamentalsten Prinzipien der Konstruktion und Bewertung der sozialen Welt. Weil diese als hierarchisch strukturiert erfahren wird, ja inkorporiert ist, wird sie auch als solche wahrgenommen und bewertet. Die Art zu denken, die Sichtweise auf die soziale Welt, das Verhalten und Handeln in sozialen Situationen bis hin zu alltäglichen Handlungen werden von den Dispositionen und Klassifikationen des strukturell angepassten Habitus gesteuert und realisiert. Entstandene Dispositionen, inkorporierte Lernakte beziehen sich nicht nur auf die konkrete Lernsituation, sondern folgen dem generativen Prinzip des Habitus und wirken in eine Vielzahl von Handlungs-, Bewertungs- und Wahrnehmungssituationen hinein.

    Die durch die Klassenzugehörigkeit bestimmte Determinierung des Habitus bietet gleichwohl Raum für eine individuelle kreative Weltgestaltung. In einer Theorie der Praxis verbindet Bourdieu sozialstrukturell beeinflusste Verhaltensformen mit nutzungsorientierten Strategien. Die sozialen Akteure greifen in variablen, niemals gleichen Situationen auf dauerhafte Dispositionen zurück, die improvisiert, gleich den unendlichen Zügen eines Schachspiels, kombiniert, erfunden werden. Der Habitus ist also „objektiv“ determiniert, erlaubt aber zugleich „subjektive“ individuelle Handlungsstrategien in einem Raum von Möglichkeiten.


    Anmerkung: Der Begriff den Habitus geht übrigens auf Aristoteles zurück, von dem aus er in die mittelalterliche Scholastik seinen Weg fand und in vielschichtiger Bedeutung den Komplex von Fähigkeiten, Gewohnheiten, Haltung, Erscheinungsbild oder Stil eines individuellen Akteurs beschreibt. Für Bourdieu ist er handlungsermöglichend indem er entlastet und damit rasches situationsgerechtes Agieren erlaubt.

    Literatur

    Bourdieu, P. (1997). Die verborgenen Mechanismen der Macht. Hamburg: VS Verlag.
    Bourdieu, P. (1998). Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.
    Korte, H. (2010). Einführung in die Hauptbegriffe der Soziologie. Wiesbaden: VS Verlag.
    Krais, B. (2004). Das kulturelle Kapital und die Macht der Klassenstrukturen. Verlag Juventa.


    Impressum ::: Datenschutzerklärung ::: Nachricht ::: © Werner Stangl :::

    2 Gedanken zu „Habitus“

    1. Anonymous

      Die automatische Literaturangabe ist phänomenal. Sie erleichtert das Arbeiten mit dieser Webseite sehr. Vielen Dank für dieses tolle Feature.

    Schreibe einen Kommentar

    Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert