Der Begriff Literacy stammt aus dem anglo-amerikanischen Bereich und steht für Lese- und Schreibkompetenz, im weiteren Sinne auch für Kompetenzen wie Text- und Sinnverstehen, sprachliche Abstraktionsfähigkeit, Lesefreude, Vertrautheit mit Büchern bis hin zum kompetenten Umgang mit Medien. Literacy wird bereits in der frühen Kindheit grundgelegt und seine Entwicklung ist abhängig von den Erfahrungen, welche die Kinder im Elternhaus mit der Lese-, Erzähl- und Schriftkultur machen.
Literacy-Erziehung ist in nahezu allen Bildungsplänen verankert und kann vor allem durch Bilderbuchbetrachtung, Vorlesen/Nacherzählen, freies Erzählen, die selbstverständliche und gezielte Einbindung von Schriftzeichen in den pädagogischen Alltag etc. umgesetzt werden. Sprachförderung erfolgt ebenfalls über die Literacy-Erziehung, wobei im Kindergarten erste Erfahrungen mit der Erzähl-, Buch- und Schriftkultur vermittelt und auf diese Weise wichtige Vorläuferkompetenzen des Lesens und Schreibens gefördert werden. Durch das Vorlesen lernen Kinder die Schriftsprache kennen, die viel reichhaltiger und komplexer als die gesprochene Sprache ist, d. h., sie ermöglicht die Übermittlung von Informationen, ohne dass „Sender“ und „Empfänger“ einander kennen bzw. ohne dass der „Empfänger“ die beschriebene Situation bzw. den Kontext miterlebt – Stichwort dekontextualisierte Sprache. Schon Kleinkinder müssen die dekontextualisierte Sprache einsetzen, wenn sie in der Gruppe von etwas berichten, was die anderen Kinder nicht miterlebt haben, weshalb man Kinder schon früh zum Erzählen motivieren sollte, damit Kinder den Zusammenhang zwischen Gesprochenem und Geschriebenem erkennen, wobei die dekontextualisierte Sprache auch bei vielen Denkprozessen verwendet werden muss.
Schon mit fünfzehn Minuten Vorlesen am Tag fördern Eltern zahlreiche sprachliche und nichtsprachliche Fähigkeiten, denn beim Vorlesen wird etwa eine ganz andere Sprachstruktur vermittelt als in einem normalen Gespräch. Was im Alltag gesprochen wird, ist meist eine reduzierte Sprache, doch beim Vorlesen geht die Sprache darüber deutlich hinaus und gibt dem Kind einen neuen sprachlichen Input, der sehr wertvoll ist. Welches Buch oder welches Genre den Kindern vorgelesen wird, ist dabei übrigens nicht so wichtig, sondern eher, dass die Kinder die Geschichten spannend finden und dabei wirklich zuhören. Wichtig ist auch, dass die Eltern selber die Geschichten gut finden, denn das spiegelt sich in der Art des Vorlesens wider.
Jimenez et al. (2019) haben Mütter dazu befragt, wie oft sie ihren 1- bis 3-jährigen Kindern aus Büchern vorlesen. Nach zwei Jahren wurde erhoben, wie oft sich Mütter verbal oder physisch aggressiv gegen ihre Kinder verhalten hatten. Dabei zeigte sich, dass Mütter, die ihren Kindern im ersten Lebensjahr regelmäßig vorgelesen hatten, später einen wesentlich lockereren und auch liebevolleren Umgang mit ihren Kindern pflegten. Auch Müttern die ihren Dreijährigen aus Bücher vorgelesen hatten, waren zwei Jahre später ebenfalls gelassener. Auch waren die Vorlese-Kinder seltener hyperaktiv oder aggressiver, was es Eltern natürlich leichter macht, mit den Kindern entspannter umzugehen. Allerdings lässt sich daraus keine Kausalität ableiten, wie bei solchen korrelativen Studien üblich, allerdings gemeinsam in ein Buch einzutauchen, blendet für einige Zeit den Alltag aus, sodass alleine die körperliche Nähe beim Lesen die Bindung von Eltern und Kindern stärken kann. Studien haben auch gezeigt, dass das gemeinsame Lesen für die kognitiven Kompetenzen der Kinder äußerst förderlich ist, denn Vorlese-Kinder lernen im Durchschnitt schneller lesen und besitzen einen im Vergleich zu anderen Kindern größeren Wortschatz, doch auch für die Konzentrationsfähigkeit sowie die Emotionskontrolle ist das Vorlesen förderlich.
Literatur
Jimenez, Manuel E., Mendelsohn, Alan L., Lin, Yong, Shelton, Patricia & Reichman, Nancy (2019). Early Shared Reading Is Associated with Less Harsh Parenting. Journal of Developmental & Behavioral Pediatrics, 10.1097/DBP.0000000000000687.
http://www.kindergarten-heute.de/artikel/fachbegriffe/fachbegriffe_detail.html?k_beitrag=2439435 (11-11-11)