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Life-Span-Orientierung

    Die Life-Span-Orientierung in der Entwicklungspsychologie bedeutet, dass Entwicklung nicht mehr als gerichteter, in Phasen oder Stufen verlaufender Prozess betrachtet wird, sondern als komplexer multidirektionaler Vorgang, der bereits in der Schwangerschaft beginnt und mit dem Tod endet. Die Einführung dieser  Life-Span-Orientierung hat zu einem Paradigmenwechsel in der Entwicklungspsychologie geführt, d. h., Entwicklung wird als ein lebenslanger Prozess begriffen, der nicht mit dem Erwachsengewordensein endet und auch nicht in verschiedene Bindestrich-Psychologien wie Kinder- oder Jugendpsychologie zerfällt. Erfolgreiche Entwicklungsprozesse finden nach dieser Auffassung immer dann statt, wenn alterstypischen Entwicklungsaufgaben gelöst werden, wobei das Lösen von  Entwicklungsaufgaben  damit zu einer der wichtigsten Funktionen in jedem Lebensabschnitt wird. Die Life-span-Psychologie ist somit eine eigenständige Entwicklungskonzeption und keine bloße Erweiterung eines klassischen Entwicklungskonzepts auf die gesamte Lebensspanne. Die Life-span-Psychologie folgt einigen Leitsätzen, durch die sie von anderen Entwicklungstheorien abgegrenzt werden kann:

    • Lebenslange Entwicklung
      Die ontogenetische Entwicklung ist ein lebenslanger Prozess und keine Altersstufe nimmt bei der Bestimmung des Begriffes Entwicklung eine vorrangige Stellung ein. In allen Phasen der Entwicklung können kontinuierliche (kumulative) und diskontinuierliche (innovative) Veränderungen gleichermaßen auftreten.
    • Multidirektionalität
      Die Richtung der ontogenetischen Entwicklung variiert in zwei verschiedenen Weisen: Zum einen variiert die Richtung der Veränderungen zwischen verschiedenen Verhaltensbereichen (z.B. Intelligenz, Emotion), zum anderen können auch Veränderungen innerhalb eines Bereiches auftreten. In einem bestimmten Entwicklungsabschnitt können bestimmte Verhaltensweisen Wachstum, andere jedoch Abbau zeigen.
    • Entwicklung als Gewinn und Verlust
      Entwicklung bedeutet nicht nur Vergrößerung von Kapazität, Effizienz und Fähigkeiten, sondern ist auch immer mit dem Verlust in anderen Bereichen verbunden. Entwicklung setzt sich immer aus Wachstum und Abbau zusammen. Man geht jedoch auch davon aus, dass Verluste kompensiert werden können. Es zeigt sich, dass sich das Verhältnis von Gewinn und Verlust im Laufe des Lebens verändert.
    • Plastizität
      Psychologische Entwicklung ist immer durch ein großes Maß an Plastizität gekennzeichnet, also eine Veränderbarkeit der Person. Das hat zur Folge, dass der Entwicklungsverlauf immer von Lebensbedingungen sowie Lebenserfahrungen abhängt, die eine Person prägen. Die Hauptaufgabe der psychologischen Forschung in diesem Gebiet ist es, das Ausmaß dieser Plastizität sowie deren Grenzen zu bestimmen. Beispielsweise werden in Interventionsstudien ältere (Versuchs-)Personen in der Lösung von bestimmten Aufgaben trainiert. So können eventuell vorhandene Reservekapazitäten entdeckt und auch die Grenzen der Entwicklungsmöglichkeiten erforscht werden.
    • Geschichtliche Einbettung
      Die ontogenetische Entwicklung hängt auch stark von historischen und kulturellen Einflüssen ab. Die ontogenetische Entwicklung muss also immer im Zusammenhang mit dem jeweiligen soziokulturellen Hintergrund, sowie den spezifischen historischen Gegebenheiten der jeweiligen Ära gesehen werden.
    • Kontextualismus
      Jede Entwicklung hängt des weiteren von der Wechselwirkung dreier unabhängiger Systeme von Einflussfaktoren ab: den altersbedingten, den geschichtlichen und den nicht normativen Faktoren. Der Kontextualismus dient der metatheoretischen Charakterisierung dieser Wechselwirkung.
    • Multidisziplinäre Betrachtung
      Die psychologische Entwicklung kann immer nur einen Teilbereich der gesamten Entwicklung eines Individuums beschreiben und muss daher im Zusammenhang mit anderen Wissenschaften gesehen werden, die sich ebenfalls mit der Entwicklung beschäftigen (Anthropologie, Biologie, Soziologie).
    • Lebensspannen-Orientierung
      Obwohl es grundsätzlich keine vorrangige Stellung einer bestimmten Lebensphase im Bezug auf die Definition der Entwicklung gibt, wird das Kindheits- und Jugendalter trotzdem bevorzugt untersucht. Dies resultiert aus der extrem hohen Entwicklungsgeschwindigkeit, die eine auffällige quantitative Zunahme von beobachtbaren Phänomenen nach sich zieht. Zudem sind hier die Unterschiede zwischen Altersgruppen noch wesentlich größer als die Unterschiede innerhalb einer Altersgruppe. Außerdem treten in diesem frühen Stadium viele Phänomene erstmals auf. Im höheren Alter sind keine eindeutig alterskorrelierenden Veränderungen feststellbar, außerdem überwiegt hier meist der Abbau. Bei Untersuchungen von älteren Personen treten zudem wesentlich häufiger methodische Artefakte auf als bei der Untersuchung von Kindern und Jugendlichen.

    Siehe auch life-span developmental psychology.

    Literatur
    Nieding, G. (2005). Entwicklungspsychologie I. Bayerische Julius-Maximilians-Universität Würzburg.


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