Zum Inhalt springen

Helfersyndrom

    Für Menschen, die unter einem Helfersyndrom leiden, erfüllt das Helfen eine besondere Aufgabe, denn nur dann, wenn sie andere unterstützen können, wenn andere ihre Hilfe brauchen und auf sie angewiesen sind, fühlen sie sich wertvoll und sehen einen Sinn in ihrem Leben. Für manche Menschen ist es demnach ein höherer Wert, gebraucht zu werden, als selbst andere Menschen zu brauchen, d. h., sie oder er sucht PartnerInnen, die bereit sind, sich von einem anderen abhängig zu machen, der diesen mehr braucht als er/sie. Gewählt und geliebt zu werden von jemandem, der mich braucht, heißt auch, dass man sich nicht mehr auf seine eigenen Gefühle verlassen muss, denn die Gefühle sind jetzt in einer kontrollierbaren Aussenwelt, auf die man seine rationalen, zielgerichteten Kompetenzen anwenden kann. Wenn man sich jemandem zuwendet, der einen braucht, muss man sich also nicht mehr mit seiner eigenen Abhängigkeit auseinandersetzen, sodass Gefühle wie Eifersucht und Verlustangst eher den anderen betreffen. Diese Menschen vergessen darüber oft ihre eigenen Bedürfnisse und laufen Gefahr, an Depressionen oder einem Burnout-Syndrom zu erkranken. Betroffene wählen gezielt Berufe, in denen sie in der Rolle des Stärkeren sind und anderen helfen können, d.h., Berufe wie Lehrer, Arzt, Krankenschwester, Altenpfleger, Pfarrer, Psychologe sind besonders attraktiv. Häufig wirkt sich das Helfersyndrom auch auf die Partnerwahl aus, denn Betroffene wählen z.B. einen alkoholabhängigen oder behinderten Partner, der auf ihre Hilfe angewiesen ist. Betroffene sind daher besonders Burn-out-gefährdet.

    Wolfgang Schmidbauer hat in den 1970er Jahren erstmals das Helfersyndrom beschrieben, und prägte die Bezeichnung für Menschen, die sich vor allem beruflich für andere aufopfern und die in ihrer Helferrolle feststecken. Menschen mit Helfersyndrom neigen dazu, sich in zwischenmenschlichen Beziehungen überwiegend als Unterstützer anzubieten und können ihre Hilfsbereitschaft selbst dann nicht reduzieren, wenn sie sich ausgelaugt oder ausgenutzt fühlen und keinerlei Dankbarkeit des Gegenübers spüren. Auch der Empfänger der Hilfe hat langfristig unter Umständen ebenfalls Nachteile, denn er verharrt in der Position des Abhängigen, verlernt Eigeninitiative und entwickelt manchmal deshalb auch starke Schuldgefühle.

    Nach Schmidbauer lassen sich bei burnoutgefährdeten Helfern vier Typen finden, bei denen das Privatleben bedroht ist:

    • Das „Opfer des Berufs“, bei dem die berufliche Identität das Privatleben völlig auszehrt.
    • Der „Spalter“, der sich in seinen persönlichen Beziehungen ganz anders verhält als in seinen beruflichen.
    • Der „Perfektionist“, bei dem das Streben nach Leistung auf spontane, emotionale Qualitäten übertragen wird.
    • Der „Pirat“, der die beruflichen Möglichkeiten, Beziehungen herzustellen und zu kontrollieren, für seine privaten Belange nützt.

    Wolfgang Widulle von der Fachhochschule Nordwestschweiz nimmt folgende Dreiteilung des Helfens vor:

    • Spontanes Helfen von der Art des „barmherzigen Samariters“, der den Verletzten nicht liegen lässt, sondern ihn aus Mitleid aufnimmt. Er hat keine Theorie, keinen Beruf (während Jesus in seinem Gleichnis ausdrücklich sagt, dass die beiden Judäer, die vorübergingen, religiöse Ämter bekleideten).
    • Helfen als rational gesteuerte, geplante Interaktion mit Tauschwertcharakter: Ich helfe dir, deine Ernte einzubringen, und du hilfst mir, meine Ernte einzubringen. Oder: Ich suche einen krisenfesten Beruf – Ärzte/Krankenschwestern werden immer gebraucht. Und es ist angenehmer, auf diese Weise Geld zu verdienen, als hinter dem Schreibtisch oder am Fließband.
    • Helfen als Suche nach narzisstischer Befriedigung – nach Geltung, Macht, Ansehen, nach emotionaler Nähe bei gleichzeitig erhaltener Kontrollmöglichkeit.

    Ursache des Helfersyndroms ist oft ein geringes Selbstwertgefühl, d.h., die Betroffenen benötigen einen Hilflosen, um ihre eigenen vermeintlichen Schwächen und Minderwertigkeitsgefühle zu kompensieren. Durch das Helfen fühlen sich die Betroffenen wichtig und gebraucht, d.h., ihr Selbstwertgefühl wird gestärkt.  Je schwächer der Hilfebedürftige, umso stärker und wichtiger fühlen sich Betroffene, wobei das Syndrom je nach Ausprägung zu einer Art von Sucht werden kann. Schmidbauer (1992) vergleicht das Helfersyndrom auch mit süchtigem Verhalten: Für viele, die sich mit den hilflosen Helfern befassen, ist es schwierig, zwischen der spontanen, emotionalen Hilfsbereitschaft und dem Helfen aus Abwehr zu unterscheiden. Sie fürchten etwa, dass die innere Auseinandersetzung mit dem Helfen dazu führen könnte, dass sie herzlos werden und gar nicht mehr hinsehen, wenn sie Hilfsbedürftigkeit wahrnehmen. Sie verlangen immer wieder Vorschläge und Regeln, wie denn richtiges Helfen nun aussehen sollte.

    Die Wurzeln liegen meist in der Kindheit, in der die Betroffenen gelernt haben, sich von der Anerkennung durch andere abhängig zu machen. Sie halten sich nur dann für liebenswert und wertvoll, wenn andere ihnen dankbar sind und sie für diese wichtig sind. Letztlich fühlen sie sich in der Rolle des Märtyrers wohl und fokussieren ihr Leben darauf, besonders leidensfähig und aufopferungsvoll zu sein. Es ist ihr spezieller Weg, sich selbst aufzuwerten und als etwas Besonderes zu sehen. Vor allem Eltern, die ihren Kindern die Schuld an ihren Gefühlen geben – Wegen dir ist Mama traurig-, vermitteln ihren Kindern die Botschaft, dass diese die Verantwortung für die Gefühle anderer übernehmen müssen. Betroffene denken häufig: Entweder ich bin ein guter Mensch und bin immer hilfsbereit oder ich bin egoistisch, berücksichtige meine Bedürfnisse und bin daher ein schlechter Mensch. Es gibt daher im Extremfall auch Menschen, die gerne sämtliches Leid der Welt beseitigen möchten und dafür bereit sind, ihre eigenen persönlichen Wünsche zurückzustellen.

    Wenn sich manche Menschen teilweise nur mehr durch übermäßig selbstloses Handeln als wertvoll erleben, kann auch der Wunsch dahinterstehen, unbewusst von eigenen Problemen ablenken. Auch kann der Wunsch, Macht über jemanden auszuüben, zusätzlich eine Rolle spielen, denn schließlich kann mit der Hilfe ein übersteigertes Bedürfnis nach sozialer Akzeptanz und nach Zugehörigkeit erfüllt werden.

    Nach anderen Studienergebnissen wurzelt das Helfersyndrom in einem angeborener Impuls und steht dabei über egoistischen Motiven, was auch aus evolutionärer Sicht Sinn macht, denn schließlich kann ein neugeborenes Kind ohne selbstlose Unterstützung der Eltern nicht überleben. Auch profitiert die Gemeinschaft vom Willen zu helfen, denn sonst gäbe es keine freiwillige Feuerwehr, keinen ärztlichen Notdienst, keine Entwicklungshilfe und niemanden, der ehrenamtlich an Obdachlose Essen verteilt. Allerdings muss man zwei Formen des Helfens unterscheiden, die solidarische und die pathologische Hilfe, denn während solidarische Hilfe sich danach richtet, was dem Empfänger nutzt, schadet pathologische Hilfe schlimmstenfalls beiden beteiligten Seiten.

    In einer Therapie lernen Betroffene, ihr Selbstwertgefühl zu stärken, sich für wertvoll und liebenswert zu halten, unabhängig davon, ob andere ihre Hilfe brauchen und sie gebraucht werden. Betroffene lernen in der Therapie unabhängiger von der Bestätigung anderer zu werden und mehr auf sich und ihre eigenen Bedürfnisse zu achten. Denn kaum jemand kann immer nur geben, ohne eines Tages ausgelaugt und ausgebrannt zu sein und so selbst Hilfe zu brauchen. In der Therapie lernen sie, Nein zu sagen, wenn eine Hilfe nicht dringend notwendig ist, und zu akzeptieren, dass man sich vom Jammern und Klagen anderer unter Druck gesetzt fühlt, wobei man auch unangenehme Gefühle, etwa ein schlechtes Gewissen, Schuld oder die Angst davor, als schlechterer Mensch wahrgenommen zu werden, ertragen lernen muss.

    Anmerkung: Einem Anderen zu helfen stellt originär ein Grundmuster der zwischenmenschlichen Beziehungs­dynamik dar. Da der Mensch ein Nesthocker ist, würde er die ersten Lebenstage nicht überstehen, gäbe es nicht andere Menschen, die sein Überleben durch umfassende Hilfe sicherstellten. Die grundsätzliche Hilfsbedürftigkeit bleibt weit über das Säuglingsalter hinaus bestehen, wobei die Hilfe beim Säugling nur das Überleben sichert, jedoch später der Erwerb von Kulturtechniken in den Vordergrund rückt, deren Beherrschung es ihm erleichtert, im sozialen Gefüge einen Platz zu finden. Viele Fähigkeiten, die über einfachen Werkzeug­gebrauch hinausgehen, lassen sich nicht durch bloße Nachahmung erwerben, wobei gezielte Hilfe etwa durch Unterricht die Übertragung solcher Kenntnisse beschleunigt. Erst die Idee gegenseitigen Helfens bringt komplexe Kulturen hervor. Von dieser solidarischen Hilfe, die zum Überleben wichtig ist, ist die pathologische abzugrenzen, die sich im Gegensatz zur solidarischen nur in zweiter Linie mit dem Wohl des vermeintlich oder tatsächlich Hilfsbedürftigen beschäftigt, sodass das eigentliche Motiv des patho­logischen Helfens in der eigenen Bedürftigkeit liegt.

    Untersuchungen (Moussaïd & Trauernicht, 2016) zeigen übrigens in fiktiven experimentellen Situationen, dass Notsituationen die Tendenz von Menschen zur Hilfsbereitschaft bzw. zum Egoismus sogar verstärken, dass also in Extremsituationen sowohl die guten als auch die schlechten Eigenschaften eines Menschen ausgeprägter zum Vorschein kommen können.

    Literatur & Quellen

    Moussaïd, M. & Trauernicht , M. (2016). Patterns of cooperation during collective emergencies in the help-or-escape social dilemma. Nature Scientific Reports, doi: 10.1038/srep33417.
    Schmidbauer, H. (1992). Hilflose Helfer. Über die seelische Problematik helfender Berufe. Hamburg: Rowohlt.
    Schmidbauer, H. (1992). Helfen als Beruf. Die Ware Nächstenliebe. Hamburg: Rowohlt
    http://www.lebenshilfe-abc.de/helfersyndrom.html (11-12-12)
    http://www.psychotipps.com/helfersyndrom.html (11-12-12)
    http://gespraechskompetenz.ch/index.php/2-columns/skripten-und-lehrtexte (15-11-17)


    Impressum ::: Datenschutzerklärung ::: Nachricht ::: © Werner Stangl :::

    2 Gedanken zu „Helfersyndrom“

    1. Historiker

      Der Psychoanalytiker Wolfgang Schmidbauer schrieb nach seiner Beobachtung der helfenden Berufe 1977 das Buch „Hilflose Helfer“, da er feststellte, dass bei Ärzten, Sozialarbeitern, LehrerInnen oder TherapeutInnen die helfende Tätigkeit auf Kosten der eigenen seelischen Entwicklung geht oder bereits Ausdruck einer unbearbeiteten psychischen Störung darstellt. Wer am Helfer-Syndrom leidt, empfindet mit der Zeit eine narzisstische Befriedigung im Helfen, d. h., die Helferin bzw. der Helfer wertet sich auf, während sie bzw. er die eigene Schwäche und Hilfsbedürftigkeit leugnet. Soziales Helfen dient dabei der Abwehr von Ängsten, innerer Leere, von eigenen Wünschen und Bedürfnissen. Nach Schmidbauer bedarf es einer produktiven Umwertung der Helfer-Berufe. Als Heilmittel gegen Narzissmus empfiehlt Schmidbauer Humor und verharrt nicht in Analyse seelischer Beschädigungen, sondern zeigt einen Weg zu einem gesunden Umgang mit ihnen. Akzeptanz und Erkenntnis sind nach seiner Ansicht nach das Mittel, um totale Verdrängung auf der einen oder Selbstanklage auf der anderen Seite zu überwinden. In seinem Buch „Liebeserklärung an die Psychoanalyse“ (1988) verteidigt er diese gegenüber den vulgärpsychologischen Verdrehungen und der Flut an Ratgeberliteratur, die Selbstoptimierung und Positive Psychologie an die Stelle analytischer Tiefe setzt. Schmidbauer widersteht der Versuchung, psychoanalytische Begriffe für den alltäglichen Sprachgebrauch umzudeuten, und verteidigt die Psychoanalyse gegenüber dem Vorwurf, sie mache die Menschen kränker. Schmidbauer hat über fünfzig Bücher geschrieben, etwa zum Thema Partnerschaften „Die heimliche Liebe“ oder die große „Geborgenheitsillusion“. Schmidbauers Sprache ist immer klar und verzichtet auf den Duktus des Expertentums, sein Ansatz ist ganzheitlich, wo es um psychosomatische Reaktionen und „Die Geheimsprache der Krankheit“ (1986) geht. Sein Fundament bleibt gesellschaftskritisch, ist skeptisch gegenüber Konsum und Kapitalismus, technischem Machbarkeitsglauben und Umweltzerstörung. Am stärksten aber ist er in der Analyse seelischer Erscheinungen wie etwa in seiner Studie über „Kassandras Schleier“ (2013), in der er die Fallstricke hochbegabter Frauen nachzeichnet, oder in seinem Buch „Alles oder nichts“ (1987), das die Destruktivität von Idealen beleuchtet. Immer wieder beklagt Schmidbauer den Verlust der täglich erlebten Sinnhaftigkeit des eigenen Tuns in einer nach Wachstum und Anerkennung süchtigen Konsumwelt.
      Quelle: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/wolfgang-schmidbauer-psychoanalytiker-wird-80-17340053.html (21-05-14)

    2. Günter Moos

      Toller Artikel. Mit dem Helfersyndrom kenne ich mich zwar nicht so gut aus, es ist mir aber da ich mich mit dem Thema Burnout stark auseinander gesetzt habe durchaus bekannt.
      Beste Grüße.
      Günter

    Schreibe einen Kommentar

    Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert