Sensorische Integration bezeichnet einen Prozess der Wahrnehmungsverarbeitung, bei dem Sinneseindrücke vom Gehirn geordnet und verarbeitet werden. Häufig wird wird dieser Prozess des Ordnens und Zusammenfügens aller Sinnesinformationen im Gehirn neben sensorischer Integration daher auch als zentrale Verarbeitung oder verkürzend als Wahrnehmung bezeichnet. Wenn etwa ein Kind die Sinnesinformationen gut verarbeitet und verknüpft und sie für sinnvolles, zweckmäßiges, zielgerichtetes Handeln nutzt, ist dies ein Zeichen für eine gute sensorische Integration. Sensorische Integration bedeutet dabei auch, dass das Verhalten eines Menschen sinnvoll und für ihn bedeutsam werden kann, denn damit sich Menschen in ihrer Umwelt orientieren und sinnvoll handeln können, muss ihr Gehirn alle Informationen aus ihrem Körper und aus der Umwelt verarbeiten, wobei die Informationen von Rezeptoren in den Sinnesorganen aufgenommen werden. So sind Tastkörperchen in der Haut für Berührungen zuständig, die Bogengänge und das Otolithenorgan im Innenohr für Schwerkraft- und Gleichgewichtsreize, zahlreiche Rezeptoren in Muskelspindeln und Gelenken für propriozeptive Informationen. Dabei werden diese Umweltinformationen über Nervenbahnen in verschiedenen Zentren des Gehirns geleitet, wobei 99% der Sinnesinformationen subkortikal, also auf niedrigeren Ebenen als der Hirnrinde, automatisch und unbewusst verarbeitet werden. Bereits im Hirnstamm finden die wichtigsten Verarbeitungsprozesse statt, denn so werden Gleichgewichtsreize fast vollständig auf diesem Niveau verarbeitet, damit man automatisch und unbewusst seine Körperhaltung kontrollieren und an Lageveränderungen anpassen kann. Die unbewusste Verarbeitung großer Informationsmengen ist daher notwendig, damit sich die bewusste Anstrengung und Aufmerksamkeit höheren Leistungen zuwenden kann. So muss ein Kind mit Störungen in der sensorischen Verarbeitung sich schon darauf konzentrieren, beim Sitzen nicht vom Sessel zu fallen und kann daher in der Folge etwa Buchstaben, die es lesen oder schreiben soll, nur sehr wenig Aufmerksamkeit widmen.
Erst die sensorische Integration ermöglicht es einem Kind, motorisch sinnvolle Handlungen durchzuführen und auch emotional der Situation angepasstes Verhalten zu zeigen. Integration im Sinn von Entwicklung bedeutet zusätzlich aber auch, dass nicht eine Fähigkeit isoliert entwickelt wird, sondern immer mehrere Kompetenzen gleichzeitig. So wird etwa nicht nur der Umgang mit dem Bleistift oder der Schere gelernt, sondern auch das genaue Schauen, Kreativität und andere motorische Funktionen. Eine gut funktionierende sensorische Integration ist somit die Voraussetzung für effektives Lernen in allen Entwicklungsphasen. Verarbeitet ein Kind in den ersten sieben Lebensjahren die Informationen aller Sinne mit ihren vielfältigen sensomotorischen Erfahrungen gut und geordnet, so entwickelt es ein differenziertes Bild von den Möglichkeiten und Grenzen seines Körpers (Körperschema), und mit jeder positiven Erfahrung bekommt es das Gefüh, dass es etwas in der Welt bewirken kann (Selbsteffektivität). Leistungen in der sensorischen Integration werden etwa mit den Sensory Integration and Praxis Tests (SIPT) erhoben.
Sensorische Integration ist somit die Fähigkeit des menschlichen Gehirns, Sinnesinformationen aus den verschiedenen Sinnessystemen zu einer ganzheitlichen Wahrnehmung zu verarbeiten, damit Menschen sich rasch und automatisch anpassen und zweckmäßig handeln können. Bei einem geringen Prozentsatz von Kindern funktioniert dieser Prozess nicht richtig, wobei die Ursachen weitgehend ungeklärt sind, aber eine erbliche Komponente vorhanden sein dürfte. Wenn die Integration des sensorischen Inputs gestört ist, spricht man von einer Wahrnehmungs- und damit Integrationsstörung, bei der fehlerhafte Abläufe trotz der Intaktheit der Sinnesorgane im Wahrnehmungsprozess entstehen. Dabei finden sich Störungen der visuellen Wahrnehmung, Hör- Sprachprobleme, Störung der Verarbeitung von Sinnesreizen (Autismus) oder eine entwicklungsbedingte Dyspraxie. Hat etwa ein köperbehindertes Kind mit Entwicklungsdefiziten Probleme mit der Handmotorik, lernt es in der Physiotherapie, seine Hand besser zu bewegen. Wenn diese Kompetenz nun integriert wurde, kann die Physiotherapeutin mit dem Kind auch das Zähneputzen oder das Schreiben üben.
Manche Kinder sind auch taktil oder vestibulär überempfindlich, wobei eine solche Überempfindlichkeit auf eine Modulationsstörung hindeutet, bei der das Nervensystem eines Kindes die ankommenden Reize nicht ausreichend modulieren bzw. filtern oder hemmen kann. Eine weitere Bezeichnung dieser Form ist daher taktile Abwehr, wobei im Falle der taktilen Defensivität das Kind vor allem unerwartete Berührungen durch andere Menschen oder Materialien mit einer diffusen Reizqualität wie Schaum, Wolle oder Kleister meidet. Es reagiert dann auf solche Berührungen einem entwicklungsgeschichtlichen Muster folgend aggressiv oder defensiv. Häufig versuchen Betroffene die Begegnung mit anderen Menschen zu kontrollieren oder meiden generell Situationen, in denen es zu unerwarteten Berührungen kommen kann, wie etwa in Warteschlangen, Diskotheken oder bei U-Bahn-Fahrten. Auf diese Weise kann es zu sozialen Ängsten und Verhaltensauffälligkeiten kommen.
Pianisten und andere Musiker müssen bekanntlich gleichzeitige Reize verschiedener Sinne im Gehirn verarbeiten, wobei Pianisten offensichtlich ein besonders feines Gespür dafür besitzen, wie Tastenbewegungen und Töne zusammenhängen, denn das MRT bei ihnen zeigte bei falschen Tönen verstärkte Fehlersignale in den koordinativen Schaltkreisen des Gehirns, der sich durch das eigene Spiel mit der Zeit besonders ausbildet. Pianisten besitzen vergrößerte Areale in den für koordinative Leistungen wichtigen Hirnbereichen und haben dickere Nervenstränge in einer Struktur, die die beiden Gehirnhälften miteinander verbindet, und haben daher entsprechend stärkere Verbindungen zwischen den Strukturen, die für die Koordination der Hände und das Erlernen von Bewegungsabläufen zuständig sind.
Der Vergleich (Bianco et al., 2018) von professionellen Klavierspielern, von denen eine Hälfte seit mindestens zwei Jahren auf Jazz, die andere auf klassische Musik spezialisiert war, zeigte sich, dass selbst dann, wenn sie das gleiche Musikstück spielten, jeweils andere Gehirnprozesse ablaufen. Diese Unterschiede wirkten sich auch auf die Leistung aus, denn als man Jazzpianisten während einer logischen Abfolge von Akkorden plötzlich einen harmonisch unerwarteten Akkord spielen ließ, begann ihr Gehirn schon viel früher die Handlung umzuplanen als bei klassische Pianisten, d. h., entsprechend sie konnten schneller auf die unerwartete Situation reagieren und ihr Spiel fortsetzen. Umgekehrt konnten die Klassikpianisten ungewöhnliche Fingersätze besser nutzen, denn ihr Gehirn zeigte stärkere Aufmerksamkeit für den Fingersatz und entsprechend weniger Fehler. Man vermutet, dass die Ursache dafür in den unterschiedlichen Fähigkeiten liegen könnte, die die beiden Musikstile von den Musikern fordern, denn klassische Pianisten konzentrieren sich bei ihrem Spiel besonders darauf, ein Stück technisch einwandfrei und persönlich ausdrucksstark wiederzugeben, wofür die Wahl des Fingersatzes mitentscheidend ist. Im Jazz geht es hingegen um Improvisation, d. h., Jazzpianisten können sich offenbar gut und flexibel an überraschende Harmonien anpassen.
Sensory Integration and Praxis Tests (SIPT)
Diese Testbatterie überprüft die sensorischen Integrationsprozesse, die dem kindlichen Lernen und Verhalten zugrunde liegen. Die Ergebnisse zeigen dann im Detail, wie Kinder ihren sensorischen Input organisieren und darauf reagieren, um spezifische organische Probleme im Zusammenhang mit Lernbehinderungen, emotionalen Störungen und minimaler Hirndysfunktion zu identifizieren. Das Inventar misst die visuelle, taktile und kinästhetische Wahrnehmung sowie die motorische Leistung und besteht aus 17 Kurztests. Jeder der Tests kann in etwa zehn Minuten durchgeführt werden, alle Tests erfordern etwa zwei Stunden. Für jeden Test gibt es Normen basierend auf einer Stichprobe von mehr als 2000 Kindern im Alter von vier Jahren bis neun Jahren.
- Space Visualization (SV) = räumliches Vorstellungsvermögen
Kind muss gedanklich Formen im Raum verdrehen - Figure-Ground-Perception (FG) = Figur-Grund-Wahrnehmung
Kind muss eine Gestalt vor einem Hintergrund erkennen - Standing & Walking Balance (SWB) = Balance im Stehen und Gehen
verschiedene Balanceaufgaben (statisch und dynamisch) - Design Copying (DC) = Abzeichnen von Formen
verschiedene Formen müssen abgezeichnet werden - Postural Praxis (PPr) = Bewegungsplanung
Kind muss Körperpositionen möglichst schnell imitieren (Spiegelbild) - Bilateral Motor Coordination (BMC) = bilaterale Bewegungskoordination
Aufgaben zur geschmeidigen Koordination beider Körperseiten - Praxis on Verbal Command (PrVC) = Ausführen von Bewegungsanweisungen
Kind muss einfache Bewegungsanweisungen möglichst schnell umsetzen - Constructional Praxis (Cpr) = Nachbauen
Kind muss 2 3-dimensionale Vorlagen ohne Zeitdruck nachbauen - Postrotary Nystagmus (PRN) = postrotatorischer Nystagmus
reflektorische Augenbewegungen nach Drehung um die eigene Achse werden gemessen - Motor Accuracy (Mac) = feinmotorische Genauigkeit
Kind muss lange Linie mit Stift nachfahren - Sequencing Praxis (SPr) = Ausführen von Bewegungsabfolgen (= Sequenzieren, Serialität)
Kind muss länger werdende Bewegungsabfolgen mit Händen und Fingern nachmachen - Oral Praxis (OPr) = Bewegungsplanung mit dem Mund
Kind muss Mund- und Zungenbewegungen imitieren - Manual Form Perception (MFP) = Formerkennung mit den Händen
Kind muss – ohne hinzusehen – Formen mit den Händen erkennen - Kinesthesia (KIN) = Bewegungsempfindung (Kinästhesie)
Kind muss eine Handbewegung, die es nur gespürt (nicht gesehen!) hat, wiederholen - Finger Identification (FI) = Fingerdifferenzierung
Kind muss – ohne hinzusehen – erkennen, welcher Finger berührt wurde - Graphesthesia (GRA) = gespürte Formen erkennen (Graphästhesie)
Kind muss auf den Handrücken gezeichnete Formen, die es nur gespürt (nicht gesehen!) hat, wiedergeben - Localisation of Tactile Stimuli (LTS) = Lokalisieren von Berührungen
Kind muss zeigen, wo es an den Unterarmen berührt wurde
Literatur
Ayres, J. (1989). SIPT-Manual.
Bianco, R., Novembre, G., Keller, P. E., Villringer, A. & Sammler, D. (2018). Musical genre-dependent behavioural and EEG signatures of action planning. A comparison between classical and jazz pianists. NeuroImage, 169, 383-394.
Söchting, E. (1999). Österreichische Pilotstudie: Deutschsprachige Standardisierung des SIPT. Leistungen österreichischer versus US-amerikanischer Kinder in den Sensory Integration and Praxis Tests (SIPT). praxis ergotherapie, 12, 24-30.